Bad Kissingen, Littmann-Saal, Berliner "Stegreif-Orchester" mischt Publikum auf, IOCO
BAD KISSINGEN - Das STEGREIF-Orchester: Mit viel Mut zur Utopie möchte die Berliner Musikerformation, das Stegreif-Orchester, einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung ...... Die Künstler beziehen ihre Arbeit auf aktuelle gesellschaftliche Themen und verstehen sich als .....
Rebellen im Max-Littmann-Saal - Das Berliner Stegreif-Orchester mischt ausgedünntes Publikum auf
von Thomas Thielemann
Die Bestuhlung eines Parkett-Teiles des Bad Kissinger Max-Littmann-Saales war am 30. Juni des Festivals des Jahres 2024 abgebaut worden, drei Podeste standen für die Schlagzeuger und wechselnde Instrumentalisten zur Verfügung. Auf der freien Fläche tobten Musiker des „Stegreif-Orchesters“ gelegentlich auch gemeinsam mit einigen der Konzertbesucher.
Mit viel Mut zur Utopie möchte die Berliner Musikerformation, das Stegreif-Orchester, einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft und deren Kulturbetrieb leisten. Die Künstler beziehen ihre Arbeit auf aktuelle gesellschaftliche Themen und verstehen sich als Akteure mit gesellschaftlicher Verantwortung. Vor allem suchen die Musiker nach neuen Formen der Präsentation klassischer Musik, um der gefährdeten gesellschaftlichen Bedeutung dieser Kunstform ihren Stellenwert zu erhalten. Das Publikum der klassischen Konzerte ist überaltert. Neue Formen und Konzepte auch der jüngeren Generation anzubieten, sind deshalb das wichtigste Anliegen der etwa dreißig Musiker. Das Mittel der Wahl in ihren Konzerten ist dabei die Auflösung der steifen und hierarchischen Orchesterkultur.
Stegreif musiziert ohne Notenständer sowie ohne Dirigenten und ist bemüht, die Besucher in ihre Darbietung einzubeziehen. Ihre Auftritte erarbeiten die Musiker gemeinsam. Ihre choreografierten Programme sollten allen Neugierigen und Aufgeschlossenen etwas Zuversicht in der in die Schieflage geratenen Welt bringen. Zugleich sollten sie eine Anregung für ihre Mitmenschen sein, sich einzubringen, Selbstständiges zu denken, zu fühlen und helfen, ihrerseits Neues zu schaffen. Die Darbietungen sollen helfen, die Themenfelder der Nachhaltigkeit unseres Lebens aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und einen Wandel der gesellschaftlichen Entwicklungen anzustoßen.
Das Konzert des Kissinger Sommers 2024 am 30. Juni im Max-Littmann-Saal „#bechange“ –Veränderungen- verband Arbeiten von vier hochkreativen Komponistinnen unseres Landes aus dem 12., dem 18. und dem 19. Jahrhundert mit gekonnt gestalteten Bearbeitungen, von Stegreif als Rekompositionen bezeichnet, zu einer Nachhaltigkeits-Symphonie. Von Hildegard von Bingens (1098-1179) „ordo virtutum“, Wilhelmine von Bayreuths (1709-1785) Oper „Argenore“, Emilie Mayers (1812-1883) siebter Symphonie bis zu Clara Schumanns (1819-1896) Klavierromanzen war ein Bogen über Epochen gewaltiger musikalischer Entwicklungen gespannt worden, die naturgemäß nicht abseits gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse abliefen.
Die Benediktiner-Äbtissin Hildegard von Bingen war eine bedeutende natur- und heilkundige Universalgelehrte ihrer Zeit, aber auch Dichterin und Komponistin. Hildegard hatte zwischen 1147 und 1150 wegen zunehmender Spannungen mit den Mönchen des Klosters zum Heiligen Disibod den Disibodenberg verlassen, um auf den Binger Rupertsberg ihre eigene Abtei über dem Grab des Heiligen Rupert zu gründen. Der Rupertsberg lag verkehrsgünstiger für Hildegards Predigerreisen auf der linken Seite der Nahemündung in den Rhein. Auch gab es auf dem Disibodenberg zu wenig Platz für die achtzehn Nonnen. Zur Stilisierung ihres Verhältnisses zur Bibel und zur Formulierung ihres neuen Konzeptes der Bildung dichtete und komponierte sie um das Jahr 1151 das älteste erhaltene allegorische geistliche Musikdrama „Ordo Virtutum“ - Orden der Tugenden. Durch Gesänge wurde dem Spiel der Kräfte zwischen der Tugend und dem Laster Ausdruck vermittelt.
Wilhelmine, die älteste Tochter des preußischen Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. (1688-1740) und Schwester des späteren Friedrich des Großen (1712-1786) wurde im Alter von 22 Jahren mit dem Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth (1711-1763) verheiratet. Nach dem Tode ihres Schwiegervaters aktivierte die junge Markgräfin mit großem Elan das Kulturleben am Bayreuther Hof und übernahm im Folgejahr die Intendantur der Bayreuther Hofmusik. Sie etablierte die italienische Oper in Bayreuth und schaffte eine intellektuelle sowie kulturelle Angleichung an die großen Höfe in Berlin oder Wien. Auch forcierte sie den Bau des Markgräflichen Opernhauses. Irgendwann um das Jahr 1743 begann sie mit der Konzeption der Oper Argenore. Sie beauftragte den Italiener Giovanni Andrea Galletti (1710-1784) mit der Abfassung eines Librettos nach ihrer vom Blute triefenden und mit verschlüsselten biografischen Anspielungen versehenen Vorlage. Vermutlich wollte sie ihrer Jugendliebe, dem wegen der Verquickung in den Fluchtversuch ihres Bruders hingerichteten Hans Hermann von Katte (1704-1730), ein Denkmal setzen.
Die schon zu ihren Lebzeiten als „weiblicher Beethoven“ vor allem in Berlin erfolgreiche Komponistin Emilie Mayer hatte neben umfangreicher Kammermusikwerke und einem Singspiel acht Symphonien geschaffen. Besonders mit ihrer um das Jahr 1856 entstandenen siebten Symphonie hatte sie ein Werk mit enormer Dramatik und eindeutig frühromantischen Gestus komponiert. Durch ihre Experimentierfreude entwickelte der musikalische Freigeist Emilie einen eigenen Stil. Mit individueller, gereifter Stimme, komplexer Instrumentation und klarer Form legte sie ein emotional ergreifendes Opus vor.
Falls die Symphonie, wie vermutet wurde, von einer Reise über das Meer erzählt, so wirft Emilie Mayer die Passagiere ohne Vorwarnung mit dem ersten Satz in stürmische Böen. Diesem ersten Thema begegnet sie mit einem frohen zweiten Thema, die sich in der Durchführung gegeneinander behaupten müssen, was zu interessante Spannungen führte.
Auf Veranlassung ihres Vaters hatte Clara Wieck (1819-1896) schon als Kind Theorie- und Kontrapunktunterricht erhalten. Auch erste Improvisationsübungen gab es. Schon in der Verlobungszeit hatte Clara Schumann die Befürchtung, dass als Ehefrau Robert Schumanns (1810-1856) ihre Karriere der erfolgreichen Pianistin und ihre Arbeit als Komponistin gehemmt werden würde. Das im Wechsel geführte „Ehe-Tagebuch“ verzeichnete, dass der Überschwang der Liebe und der Gleichklang der Eheleute auch von Anfechtungen und Dissonanzen begleitet waren. Die Herausforderungen dieser Ehe bestanden in den schwer zusammen bringenden Lebensentwürfen des hochempfindlichen Komponisten und der hochbegabten Pianistin sowie eigenem kompositorischem Schaffen mit bürgerlichem Familienglück. Robert sah ihre Hauptaufgabe in der Mutterschaft und sie begrenzte ihre kreative Arbeit auf Zeiten, wenn er nicht zu Hause war. Trotzdem sind uns über zwanzig Werke Clara Schumanns mit Opus-Zahlen und eine große Zahl vorallem von Liedern überliefert.
Für das Event im Littmann-Saal waren Arbeiten der vier Frauen zu einer Mischung aus Rekompositionen, Improvisationen und Bewegungen mit hoher Sensibilität verwoben worden. Gleich zu Beginn tauchten neben uns auf dem Rang Musikerinnen auf, verdrängten uns von den Sicht-Stehplätzen und junge, wunderbare Stimmen sangen uns das „Obedience“ der Hildegard ins Ohr. Im raschen Wechsel wurden in der Folge lockere Bearbeitungen von Werken der vier Frauen an den verschiedensten Bereichen des Saales von unterschiedlichsten Musiker-Kombinationen geboten. Dazu gab es interessante Lichtinstallationen. Damit entwickelten sich im Saal eine Unzahl einfallsreich choreografierter Konzertszenen, die mal näher am Original blieben oder freier, oft auch jazziger daherkamen. Das „Stegreif“ offeriert sich als junges, radikales und entfesseltes Orchester der freien Szene, ging aber bei aller Freizügigkeit sensibel mit den Originalen um. Musiziert wurde von den ausgebildeten Instrumentalisten auf gutem Niveau und frisch. Offen blieb, warum die Agierenden ihre Freude nicht auch in den Gesichtern zeigten und damit angespannt wirkten.
Die Protagonisten hatten ihren Weg zum Steigreif-Orchester auf die unterschiedlichste Weise gefunden, so dass die gebotene Vielfalt logische Konsequenz war.
Nach inzwischen über sechs Jahrzehnten intensiver Besuche konventioneller Klassikmusik-Veranstaltungen waren wir vom Event des Stegreif-Orchesters sowohl fasziniert, als auch etwas irritiert. Andererseits sehen wir die beängstigende Überalterung der Besucher des Konzertbetriebes und sehen jeden, wie auch diesen Versuch der Rettung des kulturellen Erbes wünschenswert.