München, Opernfestspiele, KRIEG UND FRIEDEN - Interview mit Olga Kulchynska, IOCO Interview, 07.07.2023

München, Opernfestspiele, KRIEG UND FRIEDEN - Interview mit Olga Kulchynska, IOCO Interview, 07.07.2023

Bayerische Staatsoper München

Bayerische Staatsoper München © Wilfried Hösl
Bayerische Staatsoper München © Wilfried Hösl

KRIEG UND FRIEDEN - Woina i mir - Oper SERGEJ I. Prokofjew

Die ukrainische Sopranistin OLGA KULCHYNSKA als Natascha Rostowa - im Interview

von Adelina Yefimenko

Olga Kulchynska Foto Katerina Kozinskaya
Olga Kulchynska Foto Katerina Kozinskaya

Die ukrainische Sängerin Olga Kulchynska spielte bei den Münchner Opernfestspielen 2023 in der Produktion der Oper KRIEG UND FRIEDEN der Bayerischen Staatsoper (Inszenierung Dmitri Tcherniakov Musikalische Leitung Vladimir Jurowski). IOCO, Adelina Yefimenko, führte mit Olga Kulchynska aus aktuellem Anlaß ein Gespräch zur Oper, über ihre Zusammenarbeit im internationalen Staatsopern-Team und über die Zukunft des ukrainischen Repertoires auf der deutschen Bühnen. An der Bayerischen Staatsoper sang Olga Kulchynska bislang Susanna, Pamina, Adina und Ilia (Idomeneo), (Stand: 2022)

Die Neuinszenierung von Prokofjews Oper Krieg und Frieden nach dem gleichnamigen Roman von Leo Tolstoi wurde vor dem aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine geplant. Die Oper Prokofjews verherrlicht das russische Reich und den russischen Sieg, auch wenn es in seiner Oper um den Sieg Russlands über Napoleons französische Armee und die „12 Nationen Europas“ geht. Nun, da diese "Kriegs"-Oper zu einer Zeit gespielt, in der nicht die Franzosen oder Europäer, sondern die Russen selbst die Aggressoren sind, gibt die Münchner Produktion Anlass zu Missverständnissen, Fragen und Diskussionen. Auf dem ersten Blick artikulierte die Besetzung der Oper eine quasi-stalinistische Idee der „Völkerfreundschaft“, die auch von Stalin, dem erbittertsten Kolonisator freier Völker, immer wieder hochgehalten wurde. 15 große Volksgruppen, ethnische Minderheiten nicht mitgezählt, wurden von Stalin unter das eiserne Dach der UdSSR gezerrt.

Und nun spielen in der Münchner Inszenierung die Hauptrollen der moldawische Bariton Andrei Zhilikhovsky als Fürst Andrej Bolkonski, der armenische Tenor Arsen Soghomonyan als Graf Pierre Bezukhov und die ukrainische Sopranistin Olga Kulchynska als Natasha Rostova, aber auch der russische Bass Dmitry Ulyanov als Generalfeldmarschall Kutusov, der usbekische Tenor Bekhzod Davronov als Kuragin, die litauische Mezzosopranistin Violetta Urmana als Akhrosimova, der moldawische Bass Alexei Botnarchuk als Leutnant Dolokhov sowie auch andere Weißrussen, Tadschiken, Esten u.a.

Zum Schlußapplaus betraten Olga Kulchynska und Andrei Zhilikhovsky unter dem Beifall des Publikums die Bühne in T-Shirts mit dem ukrainischen Nationalwappen eines Dreizacks – das Symbol „Ruhm und Sieg für die Ukraine“.

Bayerische Staatsoper / KRIEG UND FRIEDEN Foto W. Hoesl
Bayerische Staatsoper / KRIEG UND FRIEDEN Foto W. Hoesl

In seiner Zeit wurde Prokofjew-Formalist als unwürdiger Russe erklärt. In der Inszenierung sehen wir sein Porträt auf dem Boden neben den anderen russischen Klassikern auf der rechten Seite der Bühne und einer Büste Stalins auf der linken Seite. Prokofjew (1891-1953) war als Künstler unpolitisch, aber durch seine Anpassungsfähigkeit und seine „unpolitische Haltung“ stützte er totalitäre Regime.

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Olga Kulchynska im Interview mit Adelina Yefimenko - Münchner Opernfestspiele 2023

Adelina Yefimenko: Frau Kulchynska, nach der Uraufführung von Prokofjews Oper Krieg und Frieden reißt die Diskussion über die Notwendigkeit einer solchen Produktion in unserer Zeit nicht ab. Wie würden Sie die Kriterien für eine politische oder unpolitische Position und Verhaltensstrategie eines Künstlers in unserer Zeit definieren?

Olga Kulchynska Foto Katerina Kozinskaya
Olga Kulchynska Foto Katerina Kozinskaya

Olga Kulchynska: Ich glaube, dass es in einer Gesellschaft, die wir als demokratisch bezeichnen, keine Strategien bezüglich der politischen oder unpolitischen Position eines Künstlers geben kann. Es ist immer eine persönliche Entscheidung. Natürlich liegt die größere Verantwortung immer bei der Leitung der Theater oder kulturellen Organisationen, die vom Staat oder den lokalen Behörden finanziert werden. In unserem Fall haben die Verantwortlichen der Bayerischen Staatsoper ihre Position vom ersten Tag des Krieges an klar und deutlich gemacht, so dass es keinen Zweifel daran gab, dass sie in ihrem Theater keine Provokationen in Bezug auf den Krieg in der Ukraine zulassen würden. Auch Dmitri Tschernjakow vertrat eine Antikriegs- und Anti-Putin-Position. Ich, als Ukrainerin, vertraue diesen Leuten hundertprozentig.

Adelina Yefimenko: Die Darsteller dieser Inszenierung zeigten Professionalität nicht nur als Sänger*in. Ich hatte den Eindruck eines eingespielten Teams, das sich nicht nur auf die Bühnenaufgaben jeder einzelnen Figur verstand, sondern auch auf das enge Zusammenspiel untereinander. Was war der Keim des Regiekonzepts von Dmitri Tscherniakov für die Figur der Natasha Rostowa, den er auf der Bühne gekonnt zum Blühen gebracht hat?

Olga Kulchynska: Der Regisseur und ich haben den Charakter von Natascha nicht generell besprochen, das geschieht immer durch Induktion. Zuerst arbeiten wir an jeder Szene einzeln, besprechen das Verhalten, den Zustand, die Reaktionen meiner Figur in einer bestimmten Situation, und erst ganz zum Schluss, wenn alles inszeniert ist, können wir die ganze Rolle von außen betrachten und einige Verallgemeinerungen machen. Für mich ist das Wichtigste an dieser Rolle Nataschas unglaublicher Wunsch und ihre Fähigkeit, in jedem Menschen etwas Gutes und Strahlendes zu sehen, selbst in den unwürdigsten Menschen. Dabei handelt es sich nicht einmal um Naivität, sondern um ein echtes Missverständnis und die Ablehnung von Wut und Aggression seitens der Anderen. In der Szene mit dem älteren Bolkonski, in der sie zum ersten Mal mit schrecklicher Unhöflichkeit konfrontiert wird, versteht Natascha zunächst nicht, was passiert und wie es möglich ist, solche Dinge zu sagen und zu tun, vor allem ihrem Gegenüber.

Nach dem erfolglosen Fluchtversuch mit Anatol, glaubt sie nicht, dass sein Geständnis und all seine Worte eine Lüge waren und verteidigt Anatol bis zum Schluss. Und dann, in der Szene mit Pierre, in der sie erkennt, dass sie nur benutzt wurde, ist das Wichtigste für sie nicht einmal, dass sie ihre Zukunft mit Andrej verloren hat, sondern, dass sie ihn verletzt hat, und sie verspürt ein riesiges Schuldgefühl, das sie bis zu ihrer letzten Begegnung mit Andrej im Herzen tragen wird. Und selbst dann, als sie ihn sterben sieht, glaubt sie noch mit aller Kraft daran, dass alles gut werden kann, dass sie sich um ihn kümmern wird, auch wenn er behindert ist, dass sie den Rest ihres Lebens gemeinsam verbringen werden, sie versucht ihr Bestes, um Andrej auf die Beine zu helfen, aufzustehen, einen Schritt nach vorne zu machen. Dieses unglaubliche Einfühlungsvermögen, die Hoffnung, die in ihr lebt, egal was passiert, ist für mich das Hauptmerkmal ihrer Figur.

KRIEG UND FRIEDEN - Regisseur Dmitri Tcherniakov zur Inszenierungyoutube TBayerische Staatsoper

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Adelina Yefimenko: Es entstand eine gewisse äußere Abneigung gegen das Bild von Natascha Rostowa durch die Arbeit von Elena Zaytseva ( Kostümbildnerin). Eine Kurzhaarfrisur, die nicht zu ihr passt, unglaublich geschmacklose Kleidung, usw. Aber Sie haben die Impulsivität eines jungen, unerfahrenen Mädchens gespielt, ganz im Sinne der ursprünglichen Werktreue. Ist Ihnen die Figur der Natasha Rostowa nahe oder doch eher fremd?

Olga Kulchynska: Es ist interessant, dass viele Leute gesagt haben, dass dieser Kurzhaarschnitt und das etwas komische und unbeholfene Outfit Natashas kindliches, leichtes und ungezwungenes Image noch weiter unterstreichen. Und ich persönlich finde, dass mir das sehr nahe geht. Im Allgemeinen geht es in allen Werken von Dmitri Tscherniakow und Zaytseva darum, Stereotypen zu verändern. Für viele Menschen ist Natasha ein kleines und dünnes Mädchen, wie Audrey Hepburn, in einem Ballkleid. In unserem Stück, in den Lebensumständen aller Figuren, würden solche klassischen Bilder von vornherein nicht funktionieren. Wir spielen zeitgenössische Menschen, keine Personen aus Büchern des 18. und 19. Jahrhunderts.

Adelina Yefimenko: Nach der Premiere löste die Teilnahme einer ukrainischen Sängerin an einer russischen Opernproduktion heftige Auseinandersetzungen aus, die sich speziell gegen ihre Teilnahme an dieser Produktion und gegen die Zusammenarbeit mit russischen Künstlern im Allgemeinen richteten. Wie stehen Sie zu den kulturellen Sanktionen gegen Opern russischer Komponisten? Wie stehen Sie zu der Cancel Russia-Kampagne in der Ukraine und in Europa?

Olga Kulchynska: Ich stimme völlig überein, was den „Cancel Russia“ in der Ukraine angeht. Wir haben unsere eigene Musik immer unterschätzt, sie wenig studiert und popularisiert, uns weniger für sie interessiert, verglichen mit der russischen Musik oder Kultur im Allgemeinen. Deshalb unterstütze ich solche Reformen wie die Streichung von Tschaikowskis Namen als Logo der Nationalen Musikakademie. Aber wir alle, die Ukrainer, müssen verstehen, dass es niemals einen solchen Boykott der russischen Kultur geben wird, wie wir uns von der westlichen Welt wünschen. Alle Opernhäuser haben mindestens zwei oder drei russische Opern in ihrem Repertoire, Künstler aus Russland treten ständig auf westlichen Bühnen auf, Orchester, Chöre und künstlerische Agenturen haben auch russische Mitarbeiter, und niemand hat das Recht zu verlangen, dass sie offiziell Stellung beziehen. Daran können wir nichts ändern. Deshalb müssen wir uns darauf konzentrieren, unsere eigene Kultur zu fördern. Und ich möchte noch ergänzen, dass Menschen, die ein literarisches Werk lesen oder eine Symphonie oder Oper eines Komponisten hören, normalerweise nicht darüber nachdenken, wie herausragend diese oder jene Kultur eines Landes ist. Zumindest habe ich noch nie solche Menschen getroffen. Für mich ist das Werk eines Komponisten längst losgelöst vom Komponisten selbst, seiner Nationalität, Religion oder anderen persönlichen Faktoren. Dieses Werk gehört bereits dem Hörer und dem Interpreten, und wir haben jedes Recht, es so zu interpretieren, wie wir wollen, und die Dinge zu betonen, die uns wichtig sind. Und noch etwas: Für mich persönlich haben Kunstwerke keine Nationalität.

Adelina Yefimenko: Die Namen und Werke ukrainischer Komponisten sind im Ausland kaum bekannt. Ich kann mich nicht einmal an ukrainische Opern von 18. bis 20. Jahrhundert erinnern, die im Ausland inszeniert wurden. Warum werden Ihrer Meinung nach die Opern ukrainischer Komponisten in Europa nicht aufgeführt?

Bayerische Staatsoper / KRIEG UND FRIEDEN hier Ensemble und Olga Kulchynska Foto W. Hoesl
Bayerische Staatsoper / KRIEG UND FRIEDEN hier Ensemble und Olga Kulchynska Foto W. Hoesl

Olga Kulchynska: Es scheint mir sinnlos, nach einem Schuldigen dafür zu suchen, dass ukrainische Komponisten im Ausland nicht bekannt sind, denn wir selbst haben nicht genug dafür getan, dass ukrainische Musik auf den besten Bühnen und von den besten Orchestern mit Würde aufgeführt wird. Fangen wir bei uns selbst an. Die Lemberger Oper hat diesen Weg bereits mit der Aufführung von Stankowytschs Oper Schreckliche Rache eingeschlagen, und dieser Weg muss fortgesetzt werden, und zwar nicht durch die Aufführung klassischer Produktionen aus der Sowjetzeit, sondern durch ein Überdenken des musikalischen Materials, mit einer modernen, kühnen Interpretation unter Verwendung moderner technischer Innovationen. Dies muss von Musikern und Regisseuren mit Geschmack und Erfahrung nicht nur in der Ukraine getan werden. Ich kann noch hinzufügen, dass es unglaublich wenige qualitativ hochwertige Aufnahmen von Kammermusik, insbesondere von kammermusikalischer Vokalmusik, von ukrainischen Komponisten gibt, und fast alle sind 30-40 Jahre alt.

Adelina Yefimenko: Wäre es nicht ein aussagekräftigeres Zeichen der Solidarität mit der Ukraine, eine der Opern ukrainischer Komponisten aufzuführen, statt eine russische Oper, selbst wenn sie als Antikriegsgroteske interpretiert worden wäre. Gibt es Hoffnung auf eine künftige Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Opernrepertoire? Haben Sie irgendwelche konkreten Pläne für solche Projekte?

Olga Kulchynska: Es gibt noch keine konkreten Pläne. Es gibt immer Hoffnung, die Frage ist, was wir auf dem Weg zur Popularisierung unserer Kunst in der Welt tun werden. Wir müssen damit beginnen, unsere ukrainischen Klassiker zu Hause neu zu überdenken. Daran sollte auch das Kulturministerium interessiert sein, denn in den letzten Jahren, vor dem Krieg, schien es, dass unsere Kultur mit der Eurovision begann und endete. Über all das können wir nach dem Sieg sprechen, denn die wichtigsten Kämpfe finden nicht auf den Theaterbühnen, sondern an der Front statt, und deshalb sollten alle Kräfte und Unterstützungen dorthin geschickt werden. Nach dem Sieg möchte ich, dass unsere Regierung alle Anstrengungen unternimmt, um sicherzustellen, dass die Ukrainer ihre Klassiker kennen, dass es populär wird, in philharmonische Gesellschaften und Theater zu gehen und ihre eigene Musik zu hören, und dass Kunstorganisationen die finanziellen Mittel haben, um die Zusammenarbeit mit ausländischen Gruppen zu initiieren und zu unterstützen. Das ist ein sehr langer und dorniger Weg, aber ich glaube, dass wir genug talentierte Menschen im Land haben, um das zu schaffen.

Adelina Yefimenko: Wie und mit welchen Überzeugungen gelingt es Ihnen, Ihre Kollegen, mit denen Sie in verschiedenen Opernhäusern zusammenarbeiten, für ukrainische Werke oder Neuproduktionen ukrainischer Opern zu interessieren?

Olga Kulchynska: Keine noch so große Überredungskunst wird helfen, ausländische Künstler für die Aufführung ukrainischer Musik zu interessieren, wenn wir nicht selbst anfangen, sie aufzuführen. Und alle unsere staatlichen Kultureinrichtungen sollten alles Notwendige dafür tun. Natürlich haben auch die Künstler eine Verantwortung, aber in Wirklichkeit sollte dies nicht von einzelnen Künstlern, sondern von Kulturorganisationen, Kulturzentren und Institutionen initiiert werden. Ich persönlich habe mehrere Ideen für Aufnahmen ukrainischer Kammermusik. Denn keine europäische Philharmonie wird ein Konzert mit Werken von unbekannten ukrainischen Komponisten in ihr Programm aufnehmen. Also beschloss ich, zuerst die Aufnahme zu machen, ein Konzept für das Konzertprogramm zu entwickeln und mich dann an die Leitung der Konzerthäuser zu wenden. Diese Ideen entstanden vor dem Krieg, aber jetzt ist die Zeit in meiner Karriere, in der ich fast ständig in Opernproduktionen singe, und leider habe ich praktisch keine Kammermusikauftritte. Aber ich bin sicher, dass alles in der Zukunft liegt.

Adelina Yefimenko: Liebe Frau Kulchynska, für das ausführliche, spannende Gespräch darf ich mich auch im Namen der großen IOCO-Community herzlich bedanken.

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