Lübeck, Theater Lübeck, SIMONE BOCCANEGRA - Giuseppe Verdi, IOCO Kritik, 18.05.2023

Lübeck, Theater Lübeck, SIMONE BOCCANEGRA - Giuseppe Verdi, IOCO Kritik, 18.05.2023
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Theater Lübeck

Theater Lübeck © Olaf Malzahn
Theater Lübeck © Olaf Malzahn

SIMONE  BOCCANEGRA - Giuseppe Verdi

- Eine herrliche Premiere nach großen Hindernissen -

von Wolfgang Schmitt

Giuseppe Verdi - Mailand © IOCO
Giuseppe Verdi - Mailand © IOCO

Als letzte Premiere der Spielzeit 2022-23 hatte das Theater Lübeck Giuseppe Verdis Friedensoper Simone Boccanegra ausgewählt. Man hatte sich für die Zweitfassung dieser Oper entschieden, die 1881 an der Mailänder Scala aufgeführt wurde, nachdem die Urfassung von 1856 in Venedig nicht zuletzt aufgrund der nur schwer verständlichen verworrenen Handlung durchgefallen war. 25 Jahre später unterzog Verdi gemeinsam mit Arrigo Boito dieser Oper eine Bearbeitung, und dieser neuen Fassung, deren musikalische Gestaltungsweise sich bereits den späteren Werken Verdis annähert, war dann auch aufgrund seiner eindrucksvollen Harmonik, der instrumentalen und tonmalerischen Effekte und des dramatischen Ausdrucks ein großer Erfolg beschieden.

Einen nervenaufreibenden Premierentag hatte das Theater Lübeck zur besprochenen Vorstellung am 12. Mai sicherlich, denn den Sänger der Titelpartie, Heldenbariton Gerard Quinn, plagte ein Infekt, der jedoch seine Stimmbänder nicht beeinträchtigte. Aber zum krankheitsbedingten Totalausfall wurde an diesem Vormittag der Hausbassist Rúni Brattaberg, so daß sich Almas Svilpa vom Aalto Theater Essen ins Auto setzte, um noch rechtzeitig zum Vorstellungsbeginn in Lübeck einzutreffen und die Partie des Fiesco zu übernehmen.

Doch allen Widrigkeiten zum Trotz ging diese Opernpremiere glatt über die Bühne und bescherte dem Theater Lübeck einen grandiosen Erfolg. Am Ende gab es nicht enden wollende Ovationen für alle Mitwirkenden und fürs Regie-Team.

Theater Lübeck / Simone Boccanegra hierYoonki Baek als Adorno, Flurina Stucki als Amelia, Gerard Quinn als Boccanegra © TL / Olaf Malzahn
Theater Lübeck / Simone Boccanegra hier Yoonki Baek als Adorno, Flurina Stucki als Amelia, Gerard Quinn als Boccanegra © TL / Olaf Malzahn

In einer wirklich sehenswerten spannenden, ausgefeilten Inszenierung zeichnet die junge italienische Regisseurin Pamela Recinella die Geschichte des Korsaren Simone Boccanegra nach, der die Stadt Genua von den Piraten befreite und zum Dogen ernannt wurde. Dessen Ziel war es, den politischen Spannungen entgegenzutreten, Versöhnung mit der Republik Venedig anzustreben und in Frieden zu leben, sowie  die internen Konflikte zwischen den Patriziern und den Plebejern in Genua zu bewältigen. Hinzu kommt seine private Situation: Mit seiner verstorbenen Geliebten Maria hat er eine Tochter, Amelia, die er nach 25 Jahren im Hause der Grimaldis wiederfindet. Sie liebt den Genueser Gabriele Adorno, wird jedoch begehrt von dem Höfling Paolo Albiani, der schließlich Boccanegra vergiftet, weil er ihm seine Tochter nicht zu Frau geben will. Amelia heiratet Adorno, und im Sterben ernennt Boccanegra diesen zu seinem Nachfolger als Dogen von Genua.

Die Handlung dieser Oper ist in der Tat etwas verworren, doch es gelingt Pamela Recinella vortrefflich, die Handlungsstränge so darzustellen und zu entwirren, daß das Publikum dem Ablauf der Geschichte nahezu mühelos folgen kann.

Theater Lübeck / Simone Boccanegra hier Scenefoto Amelia, und Simone Boccanegra © TL / Olaf Malzahn
Theater Lübeck / Simone Boccanegra hier Scenefoto Amelia, und Simone Boccanegra © TL / Olaf Malzahn

Die wunderbar anzuschauenden Bühnenbilder entwarf  Jason Southgate, der durch den  Einsatz und mithilfe der Drehbühne variable Räume und Spielorte schuf, die z.B. eine Stadtmauer darstellen konnten oder die Palastfassade, während sich durch Drehung dahinter der Saal des Senates auftat. Wie im Programmheft ausgeführt hatte er sich von den Malereien des Hieronymus Bosch inspirieren lassen,  und so gab es in der Mauerkulisse eine runde Öffnung - ähnlich wie in Boschs Gemälde „Aufstieg der Seligen“ - in der sich Szenen aus der Vergangenheit oder auch Paolo Albianis Hinrichtung im Gefängnis abspielten. Es gab eine Chorszene mit einer Kogge, die an Boschs Zeichnung des „Narrenschiffs“ denken ließ. Wenn Paolo Albiani sich selbst verfluchen muß und die Choristen mit Heugabeln auf ihn zielen, dann drängt sich der Gedanke an BoschsHeuwagen“-Gemälde auf. Mit der in dunklen Rot-Tönen gehaltenen Szene im Senat ließ sich Boschs „Grausamkeit der Hölle“ assoziieren. Der eigenen Phantasie waren hier keinerlei Grenzen gesetzt. Die ständig wechselnden raffinierten Licht-Effekte von Falk Hempel trugen ein Übriges zum szenisch spannenden Verlauf der Handlung bei.

Der Tod ist stets gegenwärtig in dieser Inszenierung. Vorn an der Bühne, dort wo eigentlich der Souffleur-Kasten ist, steht während der gesamten Oper ein Sarg, und ein Statist im Skelett-Kostüm erscheint stets, wenn der Tod gerade Thema ist. Boccanegra bekommt seinen Gift-Trank zuletzt auch von diesem gereicht.

Jason Southgate entwarf ebenfalls die Kostüme, die der damaligen Zeit entsprechen sollten: Simone Boccanegra in prächtigem Ornat, Amelia in üppigen Roben, Paolo Albiani in einem Ledermantel, während besonders die Kleider der Choristinnen einem Pieter-Brueghel-Gemälde entsprungen sein konnten.

Theater Lübeck / Simone Boccanegra hier das Ensemble zum Schlussapplaus © Wolfgang Radtke
Theater Lübeck / Simone Boccanegra hier das Ensemble zum Schlussapplaus © Wolfgang Radtke

Einen phantastischen Abend hatte das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck. Der Erste Kapellmeister Tokahiro Nagasaki durchleuchtete Verdis interessante Partitur sensibel und differenziert, entlockte den Streichern fein nuancierte zarteste Passagen und schwingende Melodiebögen, ließ die Bläser dramatisch auftrumpfen, erzeugte zupackende Spannung und präsentierte italienischen Verdi-Wohlklang in höchster Form. Den Solisten und dem Chor war er ein aufmerksamer Begleiter dank präziser Einsatzgebung. Auch der von Jan-Michael Krüger hervorragend einstudierte Opern- und Extra-Chor des Theater Lübeck lief zu einer Hochform auf und erfüllte die von der Regie vorgegebenen mannigfachen Aufgaben vortrefflich.

Zwar hatte sich Gerard Quinn als Simone Boccanegra indisponiert ankündigen lassen, doch davon war außer einem angerauhten Ton und einer transponierten Stelle nichts zu spüren, im Gegenteil klang sein Heldenbariton vor allem in den lyrischen Passagen an diesem Abend geradezu balsamisch. Darstellerisch war er ganz der würdevolle Doge. Seine Tochter Amelia wurde von Florina Stucki gesungen, eine junge Schweizer Künstlerin, die derzeit an der Deutschen Oper Berlin engagiert ist. Sie präsentierte einen technisch perfekt geführten, klangschönen jugendlich-dramatischen Sopran, vital und farbenreich mit leuchtendem Höhenregister. Gleich in ihrer Auftrittsarie „Come in quest'ora bruna“, auf einer Schaukel sitzend vor blauer Meereswellen-Kulisse, überzeugte sie mit edlem Timbre, zarter lyrischer Tongebung und intensiver Strahlkraft. Ihre Duette mit Simone Boccanegra und auch mit Gabriele Adorno hatten etwas anrührendes und hoch emotionales.

Yoonki Baek sang den Gabriele Adorno mit seinem geschmeidigen, sicher geführten Spinto-Tenor, dem es lediglich in den dramatischen Passagen noch an dem nötigen Volumen fehlt.

Almas Svilpa als Retter der Premiere gestaltete die Partie des Jacopo Fiesco mit markantem voluminösen Bass, klangvoller Mittellage und sonorem Tiefenregister. Darstellerisch fügte er sich mit nur kurzen Einweisungsproben professionell und routiniert in das Regiekonzept ein.

Jacob Scharfman meisterte die Partie des intriganten Bösewichts Paolo Albiani vortrefflich. Er war in seinen Auftritten ungemein prägnant, und sein kraftvoller Bariton hat einen beeindruckenden profunden Klang.

Die Partie des Höflings Pietro und Begleiters von Paolo Albiani ist in dieser Inszenierung insofern aufgewertet, als er am Ende, in Paolos Ledermantel gehüllt, bedrohlich im Scheinwerferlicht steht, während Gabriele Adorno sichtlich verunsichert auf dem Thron des Dogen Platz genommen hat. Sicherlich ahnt er, daß er in Pietro einen neuen Rivalen vor sich hat und daß dieser seinen Freund Paolo zu rächen gedenkt. Die klangvolle dunkle, füllige Stimme des jungen Bassisten Changjun Lee als Pietro ließ aufhorchen.

Noah Schaul in der kleinen Tenorpartie des Hauptmanns, der hier allerdings im Kostüm eines Harlekins auftrat, sowie Simone Tschöke als Amelias Magd vervollständigten das großartige Sängerensemble.

Auch die kommende Spielzeit 2023/24 am Theater Lübeck wird spannend werden: Neuinszenierungen wird es u.a. von Eugen Onegin, Faust, Elektra, Die Regimentstochter und La Boheme geben.