Dresden, Semperoper, L´ORFEO - Claudio Monteverdi, IOCO Kritik, 01.05.2023
L´ORFEO - Claudio Monteverdi
- Puppenspieler Nikolaus Habjan inszeniert - Lautist Wolfgang Katschner dirigiert -
von Thomas Thielemann
Der Mythos um den Dichter und Sänger Orpheus, der mit seiner Musik Menschen, Tiere und selbst Steine bewegen konnte, gehört zu den am häufigsten musikalisch bearbeiteten Stoffen der griechisch-römischen Sagenwelt. Von den 55 mir bekannten Musikwerken mit der Zentralgestalt Orpheus beschäftigten sich die meisten mit seiner Ehe mit Eurydike, vor allem mit der Tragödie, die nach dem Tode der Nymphe geschehen sein soll.
Nach den frühen Versuchen von Jacopo Peri (1561-1633) und Giulio Caccini (1561-1618), im Jahre 1600 eine „Eurydike-Oper“ aufzuführen, war es Claudio Monteverdi (1567-1643), der per seinem am 24. Februar 1607 uraufgeführten L´Orfeo die nach unserem heutigen Verständnis erste Oper schuf. Erstmalig verband der Librettist und Sohn eines Komponisten Alessandro Striggio (1573-1630) samt dem Komponisten Monteverdi ein deklamierend gesungenes Drama mit der musikalischen Darstellung menschlicher Emotionen. Das Libretto Striggios, eine gekonnte Anreicherung eines höfischen Schäferspiels inclusive Elementen der griechischen Tragödie, folgt in seinem Handlungsfaden der weithin bekannten Fabel von Orpheus und Eurydike, verknüpft dabei die Vorgänge mit dem Mythos der Proserpina: der Herr der Unterwelten Plutone hatte sich unsterblich in die Göttin der Fruchtbarkeit Persephone, in der römischen Mythologie Proserpina, verliebt. Ihr Vater Zeus lehnte seine Werbung um die Tochter ab, tolerierte aber eine Entführung unter der Bedingung, dass die Göttin der Fruchtbarkeit in der Frühlings- und Sommerzeit auf der Erde den Wechsel der Jahreszeiten sichere. Der Klagegesang Orfeos um die verlorene Geliebte weckte Proserpinas Mitleid und führte zur Bitte an ihren Gatten Plutone, die Eurydike weiter leben zu lassen. Plutone willigte unter zwei Bedingungen ein: Orfeo dürfe Eurydike auf dem Weg zurück ins Leben nicht anschauen und Proserpina müsse als Dank für Plutones Entgegenkommen auf ihren jährlichen Aufenthalt auf der Erde verzichten.
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Eurydikes Rettung hätte mithin die Auslöschung des Lebens auf der Erde zur Folge gehabt. Damit vermittelte der Librettist, dass der Tod um der Erhaltung weiteren Lebens zu akzeptieren sei. Orfeo aber musste lernen, dass ewigen Ruhm nur der erlangt, wer sich selbst besiegt und die Oper lässt ihn sich mit seinem Vater Apollon versöhnen.
Die Mythologie ging brutaler mit Orfeo um: weil er sich ob seines Kummers von den Frauen abwendete und den Freuden des Gottes Dionysos entsagte, wurde der Sänger von den Anhängerinnen des Dionysos-Kultes zerrissen und sein immer noch traurige Lieder singender nach Eurydike rufender Kopf samt Lyra in den Fluss Hebron geworfen. Erst als er an die Insel Lesbos gespült wurde, konnte ihn Apollon zum Schweigen bringen. Sein Instrument stieg zum Himmel und ist noch immer als Sternbild „Lyra“ zu bewundern. Einen ähnlichen Schluss hatte auch eine Erstfassung der „Favola in musica“. Offensichtlich wollte man das aber der Hofgesellschaft nicht zumuten und hat einen dem christlichen Werteverständnis entsprechenden Schluss gewählt. Das war ein konformistischer Kompromiss, ein Verrat an der Renaissance-Idee: die historische Wahrhaftigkeit wurde zugunsten der Barock-Ästhetik mit dem guten Herrscher, der alles löst, getauscht.
Monteverdis Oper war als „Favola in Musica“, eine Fabel gesetzt in Musik, lediglich für die Hofgesellschaft von Mantua in der Karnevalszeit 1607 gedacht gewesen, so dass die Aufführungen mit am Ort verfügbaren Musikern zu realisieren waren. Der Komponist musste sich bei der Festlegung der Stimmlagen an den Möglichkeiten der vakanten Sängerinnen und Sängern orientieren. Nicht zuletzt deshalb sind akrobatische Arien sowie Renommierstücke dem Werk völlig fremd, so dass die Konzentration auf die Geschichte im Vordergrund bleibt und die Ausstellung rein vokaler Fertigkeiten fehlt.
Bunt gemischt ist deshalb auch nach der Art des „Zufallsorchesters der Renaissance“ das Instrumentarium der selbstständigen Orchesterstücke. Da aber Monteverdi wusste, welche Instrumente zur Verfügung standen und was die jeweiligen Musiker beherrschten, konnte er die Partitur zielsicher gestalten. Gerade diese „sporadische Mischung“ der historischen Instrumente ermöglichte die Lebendigkeit der von Wolfgang Katschner mit dem Ensemble lautten compagney BERLIN erzeugten Klangbilder. Als Musikalischer Leiter des Abends erweckte der Musikhistoriker Katschner mit der Opernbesetzung seines mit historischen Instrumenten spielenden Ensembles die barocke Partitur Monteverdis zu glanzvollem Leben. Eindrucksvoll passte der Dirigent Dynamik und Tempo dem dramatischen Geschehen der Handlung an und führte das Ensemble durch ein entspanntes Tempo-Tableau, das immer wieder mit gezielten Impulsen versehen war. Das Ensemble „lautten compagney BERLIN“ zeigte eindrucksvoll seine Hochspezialisierung gerade auch in Alter Musik. Glasklar bewältigten die Musiker die filigrane Polyphonie der Madrigale und mit überschäumendem Temperament die lebenssprühenden Tanzlieder
Die Bilder des Librettos mit ihrer dramatischen Kraft und Emotionalität entwickelten sich dank Claudio Monteverdis Musik klar, geradlinig. Der differenzierte Sound mit der Ober- oder Unterwelt-Charakterisierung führte die Besucher in die Tiefen der schmerzvollen Reibflächen der Musik Monteverdis und ließ sie an ihren feingestrickten Momenten teilhaben.
Da die Oper trotz ihres Alters bisher in Dresden nie vollständig aufgeführt worden war und auch ansonsten in den Spielplänen anderer Häuser sträflich vernachlässigt ist, musste sich Nikolaus Habjan in seiner Inszenierung nicht mit Verfremdungen und Zeitverschiebungen verrenken, konnte die Handlung inmitten der Antike belassen. Er konnte seiner Passion als Puppenspieler breiten Raum geben und mit der Einbindung menschengroßer beeindruckend ausdrucksstarker Puppen der Aufführung eine philosophische Tiefe vermitteln. Als von den ausgezeichneten Puppenspielern Manuela Linshalm, Johann Ebert, Angelo Konzett sowie Anderson Pinheiro da Silva brillant geführten „zweiten Ichs“, Seelen, Schatten, oder was immer der Betrachter hineindeutete, begleiteten sie die Eurydike Anastasia Taratorkinas und den Orfeo Rolando Villazóns. Mit der Vielfalt des Agierens zwischen Puppe und Protagonisten erfassten sie die breite Palette menschlicher Charaktere.
Ansonsten wurde frisch und locker auf der von Jakob Brossmann in eine Felslandschaft gestellten Treppe, die den Weg von der Erdoberfläche zur Unterwelt, vom Leben zum Tode symbolisierte, agiert oder Elemente der griechischen Tragödie genutzt. Oben ein Olivenbaum als Sinnbild des Lebens und eine überdimensionierte Sonne, die mit der Entwicklung der Tragödie zum abnehmendem Mond mutierte. Dazu passend die Kostüme von Cedric Mpaka und Lugh Amber Wittig, so wie sich die Vorstellungen über die Antike über die Zeit erhalten hat: die Bessergestellten in Gold-Brokat, die Hirten in neutralem Weiß und die Protagonisten in Schwarz oder Blau.
Mit einem Feuerwerk von Details faszinierten Regie, Bühne und Kostümbildner in ihrer Gestaltung des finsteren Hades. Ein qualmender Zerberus, Plutonus und die Furien als überlebensgroße Puppen, sowie effektvolle Verschiebungen einschließlich toller Lichteffekten schufen eine beängstigende Konstellation. Nikolaus Habjans Sensibilität der Personenführung gestalteten den Zauber der den Tod mehrfach überwindenden Liebe auch szenisch greifbar und schuf eine konzentrierte Inszenierung voller intellektueller Spannung.
Die italienische Sopranistin Alice Rossi spielte und sang eindrucksvoll im Prolog die „La Musica“ und im fünften Akt die Nymphe „Echo“. Mit der Schönheit ihrer Stimme konnte sie die Macht der Musik preisen. Intonationssicher, mit hervorragend in den edlen Sound der „lautten compagney BERLIN“ eingebetteter Ausstrahlung, ermöglichte sie den glanzvollen Auftakt des Abends.
Rolando Villazón war ein expressiver Orfeo, dessen Charakterstimme den lyrischen Stimmrahmen sprengt. Nie ermüdend, verblüffte er in der umfangreichen Partie mit immer neuen Schattierungen. Es wechselnden nachdenkliche Melancholie, wütende Ausbrüche und schlichte pointierte Feststellungen, aber auch höchst artifizielle Ausschmückungen. Villazón betonte die Zwischentöne der Entflammbarkeit und der Dramatik, fand auch im Elegischen immer wieder zu klaren sanften Linien. Er ließ seinen Orfeo durch alle Gefühlslagen des Lebens gehen: von höchster Freude zu tiefstem Leid, Trauer, Verzweiflung und schließlich kaltem Zorn. Technisch ohnehin perfekt, ist seine Stimme klangschön im gesungenen Parlando ebenso wie in der koloraturgespickten Arie.
Anastasiya Taratorkina sang und spielte eine anrührende Eurydike, die mit Leichtigkeit und delikater Linienführung unterwegs in das Totenreich ist, wo sie noch inniger zu lyrischer Intimität findet. Selbst als sie ihre erlesenen Verzierungen bis ins Pianomissimo herunterdimmte, konnte man ihren warm strömenden Stimmenklang noch hören. Gerade das Zarte, Leise machte sie plastisch erlebbar.
Besonders bewegend gelang Štepánka Pucálková das Überbringen der Todesbotschaft an Orfeo. Mit dramatischen Ausdruck und ihren tief nachwirkenden Pianimissimi sang sie eine beeindruckende Eurydike-Gefährtin Sylvia, die „Botin“.
Der ziemlich lange Besetzungszettel der leider knapperen Episodenauftritte der für den Ablauf wichtigen Figuren war mit außergewöhnlicher Freude am Detail abgearbeitet worden:
So die Nymphe der spanischen Gastsängerin Rosalia Cid, die nur kurz singen durfte und leider wenig zum Geschehen beitragen konnte. Im ersten Aufzug waren die exzellent stimmlich aufeinander abgestimmten vier Hirten, Singende aus dem Ensemble beziehungsweise aus dem jungen Ensemble, nämlich die Mezzosopranistin Justyna Olów, die Tenöre Aaron Pegram und Joseph Dennis sowie der Bassist Ilya Silchuk, in Aktion. Die drei Herren durften dann im vierten Aufzug die Verhandlungen des Paares Proserpina und Plutone als Geister kommentieren.
Für mich war der Einsatz des beeindruckenden Countertenors Eric Jurenas, einem Spezialisten der Barockmusik, in der kleinen Partie der „Hoffnung“ im dritten Aufzug eigentlich eine Luxusbesetzung.
Zu einem besonderen Erlebnis gestaltete mit einem profunden tragfähigen Bass der aus Rumänien stammende Bogdan Talos sein Hausdebüt, den Hades-Fährmann Charonte. Bereits am Folgetag steht seine zweite Aufgabe im Haus als Graf Rodolfo in der „La Sonambula“ an.
Gern hätten wir der im Hausensemble der Oper ihrer Heimatstadt fest verankerten Ute Selbig einen längeren Auftritt, als den der Handlung am Anfang des vierten Aufzugs eine Wendung gebenden Proserpina, gegönnt. Ihr gegenüber lieferte Tilmann Rönnebeck einem kernigen Herrn der Unterwelt Plutone, der die Verhältnisse im Gleichgewicht zu halten hatte.
Mit seinem repräsentablen Tenorgesang verschaffte uns Simeon Esper als Apollo eine den christlichen Erwartungen entsprechende Lösung des Schlusskonfliktes. Orfeo durfte die Eurydike-Puppe in den Himmel mitnehmen, während seine „leere Hülle“ zurück blieb.
Der von Jonathan Becker sensationell eingestellte Chor verlieh den Gruppen der Geister, der Nymphen und der Hirten Gestalt. Der wendige, vorbildlich textverständlich singende Staatsopernchor konnte in einer überschäumenden Dramatik mit all seiner leidenden Wucht die mitreißende Abgründigkeit des Geschehens auf die Bühne bringen, wie es sich in der antiken Tragödie gehört.
Mit spontanen “Stehenden Ovationen“ dankte ein, das Haus bis auf den letzten Platz füllendes Publikum den Agierenden und dem Inszenierungs-Team. Auf einen derart frappierenden Premierenbeifall kann ich mich in den Jahrzehnten meiner Premierenbesuche nicht erinnern.