München, Bayerische Staatsoper, LA TRAVIATA - Giuseppe Verdi, IOCO Kritik, 05.07.2022
LA TRAVIATA - Giuseppe Verdi
Die Teufel von Loudun - gewandelt zu La Traviata
von Hans-Günter Melchior
Da ist der Opernorganisation der Bayerischen Staatsoper eine beachtliche Leistung gelungen. Denn eigentlich war auf den 30.06.2022 die zweite Aufführung von Krzysztof Pendereckis Oper Die Teufel von Loudun geplant. Und eigentlich sollte diese Aufführung wegen einigen Corona-Fällen im Ensemble auf den 3. Juli 2022 verlegt werden. Aber dann begann das Virus, ein wahres „Teufelsensemble“, auch unter den Teufeln weiter zu wüten, immer mehr Mitwsirkende wurden infiziert und auch diese Vorstellung musste abgesetzt werden.
Stattdessen wurde Verdis Oper La Traviata aufgeführt. Dankenswerterweise. Denn die Aufführung war insgesamt, wenn auch mit kleinen Einschränkungen, ein großer Erfolg. Nochmals: dankbarer Beifall.
Ganz allein die Musik kann überwältigen. Man darf die Augen schließen und nur zuhören. Man sollte manchmal sogar. Die hochengagierte und ständig wie auf dem Sprung befindliche Dirigentin Giedré Slekyté und das hellwache, jeder Nuance gewachsene Bayerische Staatsorchester agierten mitreißend, man konnte sogar bei aller angeborenen kritischen Distanz ins Schwärmen geraten und manche Passagen, besonders die lyrischen – als gäbe es das – gleichsam „auf der Zunge zergehen“ lassen. Herrlich. Bravo.
Zu wenig inspiriert erscheint freilich die szenische Darstellung. Günter Kremer, der inszenierte, ist allenfalls das Übliche eingefallen, manchmal sogar ein wenig Verwirrendes. Im 1. Bild, beim Fest der Kurtisane Violetta Valèry in Paris quellen aus einer Vielzahl von sich der Reihe nach öffnenden Türen die Besucher heraus und drängen sich auf einem schmalen vorderen Teil der Bühne. Es war schwer, da einen Überblick zu gewinnen und sich ein Fest vorzustellen. Allenfalls eines, das hinter den Kulissen stattfand.
Im 2. Bild wird das Landhaus der Violetta gezeigt. Rechts Gartenmöbel, Liegen, eine Schaukel, links ein riesiger Kronleuchter, der wohl den vornehmeren Teil des Gebäudes symbolisieren sollte. Im 3. Bild eher Konventionelles: ein Spielsalon, der Chor der Gäste, ein Spieltisch, undeutliche Aktivitäten im Hintergrund. Gewusel vorne. Ein Hin und Her. Eindrucksvoll eher das 4. Bild: Ganz vorne, am Rand der Bühne, ein hell beleuchtetes Bett, auf dem die todkranke Violetta liegt, während der übrige Teil der Bühne in tiefes Schwarz gehüllt ist. Später dann der gestürzte Kronleuchter wie ein Symbol der Depression und des Untergangs. Ein gelungener Einfall.
Über die Handlung ist viel geschrieben worden. Sie basiert auf dem Roman La dame aux camélias von Alexandre Dumas dem Jüngeren, wenn auch mit tendenziell etwas anderen Akzenten. Verkürzt dargestellt handelt es sich um die Liebe der unheilbar kranken Kurtisane Violetta Varléry (Lisette Oropesa), die im Paris der Mitte des 19. Jahrhunderts Gesellschaften gibt, zu ihrem Gast Alfredo Germont (Stephen Costello). Er erwidert die Liebe. Das Paar zieht auf Violettas Landhaus, die Finanzierung des gemeinsamen Lebens bestreitet Violetta, indem sie ihr Vermögen verkauft.
Der Vater Alfredos, Giorgio Germont (Lucas Meachem), leidet unter der Beziehung seines Sohnes zu einer Kurtisane. Er empfindet das Verhältnis als gesellschaftlich diskriminierend und bittet Violetta geradezu flehentlich, die Verbindung zu lösen. Andernfalls sehe sich der Verlobte seiner Tochter, ein Adeliger, gezwungen, die Verbindung kurz vor der Hochzeit mit Alfredos Schwester aus gesellschaftlichen Gründen aufzulösen
Im Bewusstsein ihrer todbringenden Krankheit willigt Violetta in die Trennung ein. Alfredo hingegen missversteht diesen Schritt als Untreue und Verrat und beleidigt die Geliebte. Erst als sie auf dem Totenbett liegt klärt sich das Missverständnis auf. Alfredo wird, vom ebenfalls anwesenden Vater zurechtgewiesen, sich seines Irrtums bewusst, versöhnt sich mit Violetta, die tot zusammenbricht, während von draußen die Klänge des Fasching feiernden Paris´ hereindringen…
Aus heutiger Sicht stellt sich die Haltung des um Mitleid für Violetta werbenden Vaters Giorgio Germont als reine Heuchelei dar. Er war sich des Umstands bewusst, dass die Beziehung Violettas zu seinem Sohn wegen der Krankheit der Kurtisane kaum eine Chance hatte. Sein Werben um Verständnis basierte auf reiner Eigensucht, die ihm keinerlei Opfer abverlangt.
Die umfangreiche Literatur, die sich auch mit diesem Umstand ausführlich befasst, wird letztlich durch überwältigende. stellenweise geradezu verführerische Musik beiseite geräumt. Natürlich gibt es dagegen Einwände, die sogar bis zum Vorwurf der Verlogenheit gehen. Und im Grunde kommt außer Mozarts Musik keine andere ganz genau und erschütternd wahrheitsgetreu hinter die psychologischen Wahrheiten und vermag nuanciert die Schwingungen und Widersprüche allein musikalisch aufzudecken.
Dennoch ist Verdis Oper voller Einfällen und Schwingungen und vermag den Herzensergüssen Raum zu geben, ohne auch nur im Geringsten dem Kitsch zu verfallen.
Im Mittelpunkt des Bühnengeschehens (Bühnengestaltung Andreas Reinhardt) stand fraglos die Gesangsleistung der von Lisette Oropesa verkörperten Violetta. Die enorm schwierige Partie wurde von ihr bis in die Höhen und das Letzte an Ausdruck und künstlerischer Kraft Fordernde hinein auf zuweilen geradezu ergreifende Weise bewältigt. Der emphatische Beifall am Schluss galt vor allem ihr und war vollauf verdient. Ihr zur Seite standen der beachtliche und schöne Tenor Stephen Costellos und der nicht übertrieben markige Bariton Lucas Meachems.
Diese drei Protagonisten stellen den darstellerisch-sängerischen Mittelpunkt der gesamten Oper dar. Um sie kreist das gesamte Geschehen. Sie wurden, nochmals sei es erwähnt, weil es wahr ist, von der leidenschaftlich-großen Leistung des Orchesters und seiner Dirigentin getragen.
Was die Leistung der übrigen Darsteller und des Chors nicht schmälern soll, sondern an der Konzeption des Werkes liegt.
Drei Stunden und darüber hinaus war Corona vergessen. Ganz sachte und den Traum behutsam abschüttelnd sank man aus den Wolken der Musik auf die Treppe vor dem Nationaltheater. Aufpassend – Schritt für Schritt zurück in die Realität.
Frenetischer Beifall am Schluss.
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