Hannover, Staatsoper Hannover, GREEK - Die Plage tobt weiter, IOCO Kritik, 13.07.2021
GREEK - Mark-Anthony Turnage, Steven Berkoff
- There's still a plague on - Die Plage tobt weiter -
von Karin Hasenstein
"Seht diesen Ödipus an, der das Rätsel löste und ein mächtiger Mann war und auf dessen Glück voll Eifersucht geblickt wurde... In was für ein furchtbares Schicksal ist er geraten!" König Ödipus - Sophokles, 425 v.Chr.
Fast acht Monate ist es her, dass die Rezensentin eine Oper live auf der Bühne erlebt hat. Die letzte Oper vor dem Lockdown auf der Bühne der Staatsoper Hannover war Carmen von Georges Bizet, IOCO Kritk HIER!, auch schon unter strengen Hygiene- und Abstandsbestimmungen der Covid-19-Pandemie. Da mutet es ironisch an, dass es im Programmheft zu GREEK, der ersten Opern-Premiere nach dem Lockdown heißt "There's still a plague on - Die Plage tobt weiter".
Die Befürchtung, dass man in der Spielzeit 2020/ 21, so sie denn stattfinden konnte, nur noch "Corona-Inszenierungen" sieht, erfüllte sich glücklicherweise in dieser Inszenierung jedoch nicht.
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GREEK, eine Oper von Mark-Anthony Turnage nach dem Libretto von Steven Berkoff behandelt eine Adaption des Ödipus-Stoffes aus der griechischen Mythologie.
Ödipus heißt hier Eddy und wächst in einem düsteren Londoner Viertel auf. Um den sozialen Aufstieg zu schaffen, verlässt er die Kneipen mit den grölenden Fußballfans und sucht nur noch Bars auf, in denen Wein statt Bier ausgeschenkt wird. So, denkt er, schafft er den sozialen Aufstieg.
Sein Vater gesteht ihm, dass einst ein Jahrmarkt-Wahrsager prophezeit hat, dass Eddy seinen Vater töten wird und mit seiner Mutter schlafen wird. Der Vater lacht darüber, schließlich ist es nur die Prophezeiung eines Wahrsagers, aber insgeheim misstrauen die Eltern Eddy und haben Sorge, dass sich die Weissagung doch erfüllen könnte.
Die Prophezeiung lastet schwer auf Eddies Leben und er verlässt eine Familie und seine Heimat, um nicht doch Gefahr zu laufen, dass er seine Familie ins Unglück stürzt.
Zu Beginn ist der Vorhang oben. Die Bühne (Johanna Meyer) ist offen und schlicht gehalten. Im Hintergrund befindet sich eine helle hohe Wand mit zwei Türen an den Seiten. Rechts vor der Bühne befindet sich ein weiterer Raum, der bespielt wird, eine Art Laborsituation. Ein schlichter Tisch mit Beleuchtung, auf dem später verschiedene Handlungen vollzogen werden, während der Ganze von einer Videokamera auf die Wand als Projektionsfläche übertragen und somit für die Zuschauer sichtbar wird.
Eddy trägt einen roten Trainingsanzug, eine Englandmaske und weiße Turnschuhe. (Kostüme: Alex Lowde)
In einer Art Sprechgesang, der an einen griechischen Chor erinnert, beklagen die Personen, dass draußen immer noch die Plage anhält. Der Müll verrottet in den Straßen, Gewalt und Hass regieren den Alltag. Die handelnden Personen haben zum Teil Doppelrollen, so verwandelt sich der Vater in den Polizeichef und Eddy wird Mittelpunkt eines Aufstandes gegen Polizeigewalt. Zwei Frau trösten Eddy; er schwört Rache, indem er den Polizisten androht, ihnen im "Greekstyle" die Augen auszustechen.
In einem Café kommt es zu einem Streit, weil die Kellnerinnen vergessen, Eddy seinen Kaffee und Käsekuchen zu bringen. Im Laufe des Streits tötet Eddy den Manager, der, wie sich herausstellt, der Ehemann der Kellnerin ist. Diese beklagt den Tod ihres Mannes und fragt sich, wie sie ihr Leben ohne ihn bestreiten soll, war er doch so ein guter und fürsorglicher Ehemann. Der Song "Where will I find anyone like him?" ist sehr lyrisch angelegt. Eddy stellt fest, sie sei eine Lady und ein "geiles Stück" in einer Person und die beiden verlieben sich ineinander. Die Kellnerin findet, dass Eddy sie an jemanden erinnert, aber sie kommt nicht dahinter, an wen. Als Videoprojektion erscheint ein Kinderbild "Me and Mummy". Ein Boot ist in der Themse auf eine Mine gelaufen, überall Tote, ein Teddy, Eddy hat davon geträumt. In ihrem Schmerz beschließen die beiden Einsamen, zusammen ins Bett zu gehen. Dinah fragt ihn, ob er glaubt, dass der Fluch sich erfüllt. Die Musik ist hier stellenweise vom Duktus her ein wenig wie Brechts Dreigroschenoper. Eddy ist überzeugt "Fate makes us play the roles we're cast."
Ein Zwischenspiel mit Schlagwerk, Blech, Holz und Klavier leitet laut und schrill über zum zweiten Akt.
Zehn Jahre sind vergangen. Zehn Winter, zu Eis erstarrt. Eddy hat gemeinsam mit seiner Ehefrau etwas aus dem Café gemacht. "Fließen, fließen, es fließt in mich hinein". Die Musik ist hier sehr lautmalerisch, man hört den Fluss sehr gut, Flöte und Harfe dominieren. Nicht sehr obertonreich ist sie stets klar, metallisch, flexibel. Tonsprünge bleiben sperrig, auch als Dinah ihren Mann preist.
Überraschend kommen Eddy´s Eltern zu Besuch, die sich um ihren Sohn sorgen. Die Plage wütet immer noch, die vier halten einen oberflächlichen Smalltalk. Man hört, dass sich eine Sphinx draußen vor der Stadt aufhält, die jeden tötet, der ihr Rätsel nicht lösen kann.
Eddy alias Ödipus stellt sich vor - very British - in der Thatcher-Ära youtube Staatsoper Hannover [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Die Wand dreht sich zu einem kurzen Zwischenspiel, das dunkel und bedrohlich daherkommt, wie eine tickende Uhr...
Die Sphinx wird von den beiden Sängerinnen dargestellt, in schwarzer Lederkleidung mit Halsband, am ehesten in der SM/ Bondage-Szene zu verorten. Die Sphinx verkündet "Männer muss man töten, bevor sie die Welt töten!" Zu diesen Worten werden auf der Rückwand reichlich Spielzeugsoldaten gezeigt. Männer werden als Plage dargestellt und die Frage aufgeworfen "Wann ist das Ende dieser Plage?"
Ein Puppenkopf taucht zwischen den Soldaten auf und parallel verkündet Eddy "Du kannst mich nicht schrecken!" Sehr beeindruckend an dieser Stelle der Gesang der beiden Sphinxen (Iris van Wijnen und Angeles Blancas). Eddy ist bereit, das Rätsel zu lösen, kann er es nicht, so stirbt er. Die Sphinx stellt also ihr Rätsel, das da lautet:
"Was geht am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien?"
Eddy weiß es sofort, das ist der Mann ("Man"), der als Baby au fallen Vieren krabbelt, als junger Mann aufrecht auf zwei Beinen geht und im Alter den Stock als drittes Bein nehmen muss. Die Sphinx ist frustriert und verkündet "Ich bin es leid, eine Sphinx zu sein". Eddy hat das Rätsel gelöst und tötet die lebensmüde Sphinx.
Seine Frau und die Eltern sind begeistert "Nice one, Eddy" - "My hero!"
Eddy´s Frau kann nicht glauben, dass der Vater dem Wahrsager geglaubt hat. Seine Eltern erklären plötzlich "Du bist nicht unser Sohn!" Der Vater beginnt zu erzählen, wie es sich damals zugetragen hat: "Es war ein stiller Sonntag... ein Schiff lief auf eine Mine, wir fanden den kleinen Jungen. Er hatte einen Teddybären. Ich sag 'Den behalten wir' Er war hübsch." Zu Eddy´s stummem Schrei erklingen Dissonanzen im Orchester.
Eddy erkennt sein Schicksal: "My dearest wife... and now my Mom!" Indem er den Manager des Cafés getötet hat, hat er seinen Vater getötet und den zweiten Teil der Wahrsagung erfüllt, als er mit dessen Witwe, also seiner Mutter geschlafen hat. "Ich wollte diese Stadt säubern, ich war Schuld an ihrem Dreck! Nie mehr werde ich die Süße meiner Frau schmecken."
"This is madness, twisting my brain!"
Hier wechseln sich gesungener und gesprochener Text ab, von Trommelsalven begleitet: "Wir lieben nur, also tut's nichts zur Sache, Mutter, halt an mir fest"
Eddy´s Frau und Eltern kommen dazu. Seine Mutter jetzt in einem grünen Kleid mit roter Schürze, sein Vater im schwarzen Muskelshirt und brauner Hose. Eddy fragt, ob er sich ganz greek-style die Augen ausstechen soll, mit den Fingernägeln? Er erkennt "Ich selbst bin die Plage!" Die Eltern appellieren "Halt an uns fest!", aber Eddy ist schon im Begriff, sich das Auge auszustechen. Er schmiert sich Ketchup ins Gesicht ("Darkness falls"), seine Frau und die Eltern stehen vor der Wand, er geht an ihnen vorbei, nimmt sie nicht wahr. Seine Mutter, seine Frau, sein Vater, alle gehen ab, es wird dunkel. Eddy erklärt "Ich will zurück in meine Mutter, in dein Heiligtum, raus aus dem Paradies! Rein in den Himmel!" Er bestraft sich nicht für seine inzestuöse Tat, sondern plädiert für die Liebe an sich.
Coronabedingt ohne Pause aufgeführt verlangt GREEK dem Zuschauer in dieser Inszenierung einiges ab. Da ist zunächst die Musik, die modern ist, manchmal an Thomas Adès erinnert ohne das Geniale von Adès und manchmal an Philipp Glass, jedoch ohne die hypnotische Wirkung von Glass.
Allgemein ist sie als noch tonal zu bezeichnen, es gibt immer wieder Bezüge zu einer Grundtonart. Schlagwerk und Trommeln sind stellenweise dominant, in lyrischeren Partien beeindrucken Flöte und Harfe. Ohrwurmpotential birgt sie nicht, eher die Chance, zu verstören.
Insofern ist sie gut geeignet, die an sich schon verstörende Geschichte von Ödipus, hier Eddy genannt, zu untermalen. Alle vier Solisten leisten an diesem Premierenabend Großes, was vom Publikum mit lang anhaltendem Beifall und Jubel honoriert wurde.
Das ist zum einen sicher schon damit zu erklären, dass das Publikum nach dem langen Kultur-Lockdown überhaupt dankbar war, wieder in einem Opernhaus zu sitzen und live dargebotene Musik mit Solisten und einem "echten" Orchester, wenn auch in kleiner Besetzung, geboten zu bekommen, zum anderen aber auch damit, dass diese Musik wirklich komplex ist und von den Solisten absolut souverän und überzeugend interpretiert wurde.
Die Bebilderung der gesungenen Szenen auf der schlichten Bühne durch die Videoeinspielung vom rechten Bühnenrand stellt den Zuschauer stellenweise vor echte Herausforderungen. Manchmal kommentieren sie das Bühnengeschehen schlüssig, manchmal sind sie auch einfach nur verstörend. Gossen- oder Fäkalsprache hat ja schon länger Einzug in moderne Inszenierungen gefunden, ebenso wie unappetitliche oder abstoßende Bilder.
Als der "griechische Chor" die Plage beschreibt, kippt Eddy dazu gebackene Bohnen auf den Projektionstisch, schüttet Ketchup darüber und garniert das Ganze mit Masturbationsbewegungen, als deren Ergebnis sour cream aus einer Flasche vor seinem Unterleib auf den Tisch spritzt. Maden breiten sich auf dem Essen aus. Die Plage hat das Land fest im Griff und spätestens an dieser Stelle wird klar, warum es für "Greek" eine Altersempfehlung ab 16 gibt.
GREEK fordert, fasziniert die Besucher durch seinen Zeitgeist. Ein leichter, unterhaltsamer Opernabend ist GREEK also nicht
Durch die starke gesangliche und darstellerische Leistung aller vier Solisten, insbesondere von James Newby in der Hauptrolle des Eddy, und das äußerst wandlungsfähige Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von Stephan Zilias wird dieser Premierenabend jedoch zu einem sehr eindrucksvollen Erlebnis und der Staatsoper Hannover gebührt großer Dank für den Mut, mit solch einem ungewöhnlichen Stück nach dem Lockdown zu eröffnen. Leider war die Besucherzahl entsprechend überschaubar, die Zuschauer, die sich auf diesen Abend eingelassen hatten, waren jedoch durchgehend begeistert und brachten dieses auch lautstark und dankbar zum Ausdruck.
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GREEK: Musikalische Leitung Stephan Zilias, Inszenierung Joe Hill-Gibbins, Bühne Johanna Meyer, nach einer Idee von Johannes Schütz, Kostüme Alex Lowde, Mitarbeit Kostüme Winnie Janke, Choreographie Jenny Ogilvie, Video Dick Straker, Licht Elana Sibersk, Nach einem Konzept von Matthew Richardson, Ton Maria Anufriev, Dramaturgie Julia Huebner,
MIT: Eddy - James Newby, Wife, Doreen, Sphinx II, Waitress I - Iris van Wijnen, Dad, Café Manager, Police Chief - Michael Kupfer-Radecky, Mum, Sphinx I, Waitress II - Ángeles Blancas, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
GREEK an der Staatsoper Hannover; die nächste Vorstellung am 6.11.2021, 19.30
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