Bern, Theater Bern, Katja Kabanowa - Leos Janacek, IOCO Kritik, 18.06.2018
KATJA KABANOWA - Leoš Janácek
- Frauen - Von Konventionen und Ängsten weggesperrt -
Von Julian Führer
Das Konzert Theater Bern ist ein Dreispartenhaus – einerseits scheint dies für die Bundesstadt der Eidgenossenschaft selbstverständlich, doch andererseits ist Bern eine Stadt mit gerade einmal 130 000 Einwohnern und liegt damit in der Größenordnung von Fürth, Ingolstadt und Wolfsburg. Das innen wie außen sehr schöne Theater ist daher nicht überdimensioniert; es zählt nur 650 Sitzplätze. Für gewichtige Stücke des Musiktheaters kann das Parkett noch weiter verkleinert werden, so wie es auch bei der Oper Katja Kabanowa von Leoš Janácek geschah. Dies Stück wurde in dieser Saison auch in Freiburg herausgebracht (vgl. die IOCO Kritik - HIER) Der Ansatz der Regie (Freiburg: Tilman Knabe, Bern: Florentine Klepper) unterscheidet sich erheblich.
Katerina (Katja) Kabanowa ist eine der vielen Frauengestalten auf der Opernbühne des beginnenden 20. Jahrhunderts, die aus Konventionen ausbricht, an gesellschaftliche Tabus rührt und daran zugrundegeht. Zwischen 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs publizierte Sigmund Freud zentrale Schriften, die auf lebhaftes Interesse stießen und auch künstlerische Auseinandersetzung mit den Tiefen und Abgründen menschlicher Seelenzustände anregten. Das Ergründen dieser Zustände gerade weiblicher Figuren auf der Bühne, musikalisch von Wagner bereits weit vorangebracht, war ein großes Thema der Zeit, man denke nur an Richard Strauß‘ Salome (1905) und Elektra (1909). Das von Janácek vertonte Drama Gewitter von Alexander Ostrowskij von 1860 wurde für die 1921 uraufgeführte Oper erheblich verdichtet und gestrafft, der Wortlaut dennoch meist beibehalten. Sehr viel schärfer als die Dramenvorlage schildert die Oper die psychische Disposition Katjas, die permanent in Angst lebt (hier in der Renata im fast zeitgleich entstandenen Werk Der feurige Engel von Sergej Prokofiew sehr nahe): Angst vor sich selbst, vor den eigenen Abgründen, vor der eigenen Schwäche, vor der Gesellschaft. Janácek liebt seine Figur und schenkt ihr als einziger lange ausgesungene Kantilenen, während die anderen Gestalten meist entweder grob daherpoltern oder drauflosschwatzen. Die Sympathien mit einer Ehebrecherin werden musikalisch subtil in raffinierten Klangfarben komponiert, so dass die teilweise durchaus schroffe Partitur viele abrupte Wechsel und damit ein sehr waches Orchester erfordert.
Wie wird diese Konstellation nun in Bern auf die Bühne gebracht? Wir sehen (Bühne: Martina Segna) ein Theater auf dem Theater; Zuschauer sind manchmal nur ein einzelner (Todd Boyce als Kuligin, der im Stück seit Jahrzehnten die Wolga betrachtet und hier wie in Brechts epischem Theater einen manchmal ironischen Kommentar liefert), manchmal auch der ganze Chor. Auf der Bühne tauchen Marionetten auf; überdimensionierte, unbewegliche Köpfe haben sie und singen. Großes Lob den Solisten für die choreographische Präzision, mit der die marionettenhaften Bewegungen umgesetzt wurden – ganz besonders an Toos van der Wal als Glascha. In der nächsten Szene schwingen sich die ersten Marionetten über den Rand ihrer Bühne und verwandeln sich in die einzelnen Menschen, um die das Drama kreist. Das namenlose Dorf an der Wolga ist ökonomisch vom boshaften Fabrikanten Dikoj (Andreas Daum, der die Riesenhände seiner Marionette lange anbehält) abhängig. Die Familie der Kabanows ist ihrerseits der herrischen Kabanicha unterworfen, deren Sohn Tichon mit Katja verheiratet ist. Tichon (stimmlich und szenisch stark von Andries Cloete gegeben) interessiert sich weniger für seine Frau als für den Alkohol. Als sich die Gelegenheit zu einer Reise ergibt, ist er froh, seiner Mutter zu entkommen und ohne seine Frau tagelang ungestört trinken zu können. Im Hause lebt noch die Pflegetochter der Kabanicha namens Warwara (Eleonora Vacchi), die zwar noch nicht verheiratet ist, aber doch eine Liebschaft mit Kudrjasch (Nazariy Sadivskyy) pflegt und Katja überhaupt erst auf die Idee bringt, die Abwesenheit des Ehemannes für ein Abenteuer zu nutzen. Die Dialoge zwischen Katja und Warwara leben vom charakterlichen Kontrast zweier junger Frauen mit unterschiedlichen Vorstellungen vom Leben (wie Elektra und Chrysothemis bei Strauss oder später Blanche und Constance bei Poulenc in den Dialogues des Carmélites).
Die Abreise Tichons wird zu einem Demütigungsritual seitens der Kabanicha, wie es Dmitri Schostakowitsch 1934 in der Lady Macbeth von Mzensk zwischen Katerina Ismailova und ihrem Schwiegervater Boris ganz ähnlich zeigt: Die Frau muss dem eigentlich widerstrebenden Ehemann öffentlich Treue schwören. In beiden Stücken dauert es keine halbe Stunde, bis dieser Schwur gebrochen wird. Doch ist Katja hier selbst nicht unbeteiligt, denn sie möchte zunächst Tichon auf der Reise begleiten (was dieser sichtlich nicht will) und dann wenigstens ihm das Versprechen geben müssen, dass sie keinen anderen auch nur anschauen wird. Tichon findet seine Frau hier wohl etwas albern, die Kabanicha platzt in die Szene und nötigt ihren Sohn dazu, jetzt doch den Eid zu fordern. Die Musik macht die zerrütteten Zustände ebenfalls deutlich: Als das Muttersöhnchen Tichon genötigt ist, von Liebe zu sprechen, blitzt im Orchester das Motiv der Kabanicha auf.
Ohne Tichon sehen wir Katja und Warwara mit ihren bunten Kopftüchern der Kabanicha folgen. Das nächtliche Treffen der Frauen mit ihren Liebhabern verläuft seltsam pragmatisch: Katja ist auf Boris aufmerksam geworden, einen Neffen des Dikoj, Warwara arrangiert das Treffen (jetzt ohne Kopftücher). Beide meinen, sie seien ineinander verliebt, Katja ringt mich sich, aber man wird sich „einig“, wie es heißt. Zehn Tage später kehrt Tichon zurück, unerwartet früh. Katja, in Angst vor dem niedergehenden Gewitter, gesteht vor der Gesellschaft ihren Fehltritt. Der Chor sitzt als Publikum vor der Puppenbühne, wir sehen Katjas Marionette (mit Kopftuch) und vorne Katja selbst (ohne Kopftuch). Psychologisch gesehen besonders interessant ist der Moment, als die Marionette ihrerseits ihre Bühne verlässt und mit Katja einen angedeuteten (inneren) Kampf ausficht. Katja, die sich ihre Sünde nicht verzeihen kann, stürzt sich in die Wolga und stirbt – hier verschwindet sie wenig spektakulär hinter der Marionettenbühne. Tichon trauert, die Kabanicha hingegen herrscht ihn an, er solle lieber erleichtert sein und dankt – auf einmal freundlich – den Umstehenden für ihre Hilfe beim Herausziehen der Leiche.
Katja kämpft nicht mit ihrem Mann. Sie sucht auch nicht die Konfrontation mit ihrer Schwiegermutter (ganz anders als Elektra, deren schrankenlose Aggression gegenüber Klytämnestra den Kern der Strauss’schen Oper bildet). Über Boris, ihren Liebhaber, erfahren wir so gut wie nichts, außer dass er nach der Entdeckung des Skandals von Dikoj nach Sibirien geschickt wird und sich nicht auflehnt. Gesanglich ist sein Part dennoch beachtlich, und Alessandro Liberatore absolviert die Rolle mit kraftvoller Stimme, die auch die Höhen gut meistert. Die zentralen Partien sind gleichwohl die der Kabanicha und der Katja: Ursula Füri-Bernhard verkörpert die garstige Schwiegermutter so, dass keine Wünsche offenbleiben. Die „Giftspritze“, die manche Inszenierungen aus ihr machen, ist sie nicht, eher eine ältere Dame, die die Konventionen der dörflichen Gesellschaft verkörpert und den Schein nach außen um jeden Preis wahren will. Die Hauptrolle liegt in den Händen eines Gastes, nämlich der Südafrikanerin Johanni van Oostrum, die in nächster Zeit in Deutschland und Österreich auch als Marschallin, Elsa und Salome zu erleben sein wird. Die musikalischen Anforderungen der Partie meistert sie scheinbar spielend, und auch szenisch wirkt sie glaubhaft. Eine Stimme, die man gerne häufiger in Bern hören möchte!
Im Vergleich zur Freiburger Lesart wird in Bern weniger auf die Verkommenheit der Gesellschaft fokussiert als auf den psychologischen Konflikt; auch ist der Einsatz szenischer Mittel deutlich reduziert. Der fast filmischen Bilderwelt in Freiburg steht in Bern eine innere Perspektive gegenüber. Die aus Buchstabentafeln zusammengesetzten Textkommentare, die Kuligin immer wieder neu arrangiert, sind hierbei meist verzichtbar; die Zahlen 23,1 und 69,1-33 deuten hingegen offensichtlich auf die Psalmen: Katja erzählt aus ihrer Kindheit, wie gerne sie in die Kirche ging (vgl. Ps. 23,1: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“) – und quält sich selbst ob ihrer Sünden, wie auch in Psalm 69 geklagt wird („Gott, hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Seele.“). Beide szenischen Varianten können als geglückt bezeichnet werden und beleuchten unterschiedliche Facetten eines komplexen Werks, das in Bern ohne Pause gegeben wurde (und mit etwa 80 Minuten Spieldauer auch problemlos ohne Unterbrechung gezeigt werden kann).
Im Graben war ein für die Dimensionen des Hauses großes Orchester am Werk. Das Berner Symphonieorchester wurde von seinem Chefdirigent Musiktheater geleitet, dem Bielefelder Kevin John Edusei. In einem eher kleinen Haus Janácek zu zeigen, ist ein Wagnis, und tatsächlich wurde es manchmal laut; auch hätte man sich in manchen Momenten eine stärkere Abstufung der Pianograde gewünscht. In der ersten Szene singen die Solisten von der etwas zurückgesetzten Marionettenbühne und durch ihre Pappmachéköpfe, wobei sie vom Orchester manchmal zugedeckt wurden. Dennoch überzeugte die Präzision im Zusammenspiel der Musiker, für die der Dirigent am Ende vom Publikum gefeiert wurde. Dem Berner Haus ist zu danken, dass es sich an Leoš Janáceks Katja Kabanowa gewagt hat, und man würde ihm wünschen, dass das Publikum bei den ausstehenden Vorstellungen noch zahlreicher strömt.
Katja Kabanowa am Theater Bern: Die folgenden Termine 19.6.; 27.6.2018
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