München, Residenztheater, Kinder der Sonne - Maxim Gorki, IOCO Kritik, 19.10.2017

München, Residenztheater, Kinder der Sonne - Maxim Gorki, IOCO Kritik, 19.10.2017

Residenztheater München

Residenztheater München © Matthias Horn
Residenztheater München © Matthias Horn

 Kinder der Sonne  von  Maxim Gorki 

„Ihr Hass ist blind...er wird euch vernichten“

Von Hans Günter Melchior

Werktreue oder postmoderne Beliebigkeit:   Im Zeitalter des Regietheaters, der Vielfalt und Beliebigkeit, der Postmoderne, Postdramatik, Performance, der Dramatik und der Dekonstruktion sowie der Mischformen von allem wird sich jeder Regisseur, bevor er sich an die Arbeit macht, fragen müssen: halte ich mich an den Text oder ist dieser mir im Grunde egal, allenfalls Projektionsfläche für Eigenes, für Assoziationen und Provokationen, „Hinzugedichtetes“ und dergleichen.

David Bösch hält sich in seiner Inszenierung der Kinder der Sonne von Maxim Gorki im Wesentlichen an den Text und das ist gut so. Hat man doch langsam genug von den neunmalklugen, eitlen und besserwisserischen Regisseuren, die sich für schlauer als der Autor halten und ihren schlaftrunkenen Fantasien freien Lauf lassen, solange, bis niemand (wahrscheinlich sie selbst nicht) mehr weiß, um was es eigentlich geht.

Maxim Gorkis Stück als Revolutionsstück, d.h. als ausdrücklichen Aufruf zur Revolution, zu bezeichnen, geht zu weit. Es ist mehr eine Warnung an ein sich in der Selbstreflexion erschöpfendes Bürgertum vor der Wut der Unterdrückten. Die Aufforderung, den Blick nach draußen auf die soziale Wirklichkeit zu richten, wo es gärt und ein revolutionärer Wille Kräfte sammelt.

Dass dabei wie in München eine Aufführung herauskommt, die letztlich ein wenig harmlos wirkt, ist nicht ausschließlich die Schuld des Regisseurs.

Residenztheater München / Kinder der Sonne - hier Norman Hacker als Chemiker Protassow © Thomas Dashuber
Residenztheater München / Kinder der Sonne - hier Norman Hacker als Chemiker Protassow © Thomas Dashuber

„Sie werden euch vernichten“

Anders als bei Tschechow, dessen somnabule Adelige der neuen Zeit hilflos entgegenträumen, nimmt sich Gorki den Mittelstand vor. Da ist der Chemiker Protassow (gelassen, skurril, glaubwürdig Norman Hacker), der mehr in die Chemie als in seine Frau Jelena (souverän, beeindruckend Hanna Scheibe) verliebt ist und es nicht einmal merkt. Der an die Allmacht des menschlichen Verstandes glaubt („Wir sind Kinder der Sonne“) und an einem Mittel für die Unsterblichkeit arbeitet.

In Protassows psychisch kranke Schwester (Mathilde Bundschuh, schillernd, für eine psychisch Kranke ziemlich rational) ist  der Tierarzt Tschepurnoj (Till Firit, jung, locker, modern) verliebt, er denkt an nichts als die Heirat, wird aber von der Angebeteten abgewiesen. Als diese gegen Ende des Stücks merkt, dass auch sie ihn liebt, ist es zu spät: Tschepurnoj hat sich aus Liebeskummer erhängt.

Ja, ach ja und dann: diese rührende Geschichte zwischen Melanija, Schwester des Tierarztes, eine mondäne und reiche Witwe (umwerfend, kabarettistisch Katharina Pichler, glänzend aufgelegt), die an den Chemiker heranmacht, in der irrigen Meinung, zwischen ihm und seiner Ehefrau Jelena sei es so gut wie aus. Eine hippelige Frau, die sich in ihrer Liebestollheit demütigt, während der Wissenschaftler Protassow zuerst gar nichts merkt und dann, als er endlich kapiert, der guten Frau eine laue „Freundschaft“ anbietet.

Und schließlich ist da im Liebesreigen noch der Maler Wagin, der um Jelena herumschleicht wie ein läufiger Kater (Aurel Manthei, quirlig, flexibel, bald derb, bald intellektuell), letztlich aber bei allem sticheligen und aufreizenden Gehabe der Verehrten ebenfalls mit einem Freundschaftsangebot abgewiesen wird, jedoch weit entfernt ist von einem Verzweiflungsakt. Soweit die Liebesgeschichten, die sich aufspielen, als seien sie bereits die ganze Welt.

Residenztheater München / Kinder der Sonne - hier v.l. Till Firit als Boris Nikolajewitsch Tschepurnoj_ Norman Hacker als Protassow,   Thomas Huber als Jegor der Schlosser © Thomas Dashuber
Residenztheater München / Kinder der Sonne - hier v.l. Till Firit als Boris Nikolajewitsch Tschepurnoj_ Norman Hacker als Protassow, Thomas Huber als Jegor der Schlosser © Thomas Dashuber

Ins versponnene Gewusel bricht zuweilen der Schlosser Jegor (wunderbar berserkerhaft, kernig Thomas Huber) wie ein Donner, ein echter Proletarier, der seine Frau prügelt, weil er es nicht anders kennt, ein in der Kindheit und Jugend Geprügelter, der einfach weiterprügelt, aus Gewohnheit und Ratlosigkeit und aus Mangel an anderen Mitteln.

Manchmal treten zwei Geschäftemacher ins – vermeintliche – Idyll wie ins Fettnäpfchen, der Vermieter Nasar (glatt, schlüpfrig  Joachim Nimtz) und sein Assistent (gewissenlos, gefühlskalt, zynisch Thomas Huber). Sie bemühen sich vergeblich, den Chemiker  dafür zu gewinnen, in eine Firma, deren Ziel es sein soll, seine, Protassows, wissenschaftliche Erkenntnisse kommerziell auszubeuten, als Geschäftsführer einzutreten. Aber Protassow versteht sie nicht einmal, er lebt ausschließlich in der Hingabe an seine Wissenschaft.

Gleichsam über allem schwebt das zwielichtige, fadenscheinige Dienstmädchen Fima (sehr glaubwürdig und gekonnt Pauline Fusban), die sich mit den Verhältnissen arrangierende Proletarierin, bestechlich und infam, locker und sexy –; diesen hermetischen Kosmos der Selbstbespiegelung persiflierend und sich schließlich davon verabschiedend, als ein günstigeres Angebot winkt.

Lange geht es hin und her im Werben und Abweisen, als gebe es nichts anderes als die eigene Befindlichkeit. Bis das Unheil aus der Welt von draußen hereinschrillt: die Cholera. Eine Metapher des Schreckens und der gesellschaftlichen Erschütterungen, des Aufruhrs und der Veränderung. Der Schlosser berichtet darüber; und der Bericht ist zugleich ein Vorwurf.

Einzig Jelena ist der Gefahr tatsächlich und moralisch gewachsen. Sie entschließt sich spontan und gegen den Rat ihres Ehemannes, die erkrankte Frau des Schlossers zu pflegen, als dieser um Hilfe bittet. Bezeichnenderweise kommt auch sie zu spät. Man nimmt aber den guten Willen für die Tat.

Residenztheater München / Kinder der Sonne - hier v.l. Mathilde Bundschuh als Lisa Protassows Schwester, Till Firit als Boris Nikolajewitsch Tschepurnoj © Thomas Dashuber
Residenztheater München / Kinder der Sonne - hier v.l. Mathilde Bundschuh als Lisa Protassows Schwester, Till Firit als Boris Nikolajewitsch Tschepurnoj © Thomas Dashuber

Der hellsichtigen, psychisch kranken Lisa bleibt es vorbehalten, die prekäre Situation der „gut angezogenen“ Narzissten schonungslos auf den Punkt zu bringen: „Ich habe den blanken Hass auf der Straße gesehen, Massen von rasenden Bestien… Sie hassen euch, weil ihr euch entfremdet habt und ihr hartes unmenschliches Dasein ignoriert. Ihr Hass ist blind, aber ihr provoziert ihn und er wird euch vernichten.

Da wird zum ersten Mal ausdrücklich die Revolution angekündigt – konkret und es ist mehr als ein Wetterleuchten. In dieser zentralen Frage hätte man der Inszenierung etwas mehr Nachdruck gewünscht. Am Ende geht – ein wenig allzu plötzlich und kaum wirklich vorbereitet – schockartig das Licht in dem nüchtern eingerichteten Wohn- und Arbeitsraum des Chemikers aus, Blitze zucken, der Schlosser rückt mit einer Axt gegen den Flügel vor, während zwei oder drei weitere Genossen den Rest der Wohnung zerlegen.

Zweieinhalb Stunden Gorki, die Veranlassung geben, sich mit seinem Werk zu befassen. Er hat das Stück 1903 in der Haft geschrieben, 1905 kam es zum „Petersburger Blutsonntag“.

Längst vorbei? Mitnichten. Auch gegen die offenbaren sozialen Krankheiten unserer Zeit, die beharrliche Blindheit der Herrschenden und die zynische Überheblichkeit der Profitgierigen beginnt sich der Widerstand zu formieren.

Kinder der Sonne im Residenztheater, München; weitere Vorstellungen 29.10.2017; 4.11.2017; 13.11.2017

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