Benjamin Britten - Leben und Sterben am Meer, IOCO Essay

Benjamin Britten: Peter Grimes ist die zweite Oper Brittens während der Ära Firmbach in Oldenburg. 2015 konnte man den Midsummernight´s Dream erleben. Doch während dieser zum Spätwerk Brittens zählt, ist .........

Benjamin Britten - Leben und Sterben am Meer, IOCO Essay
Oldenburger Staatstheater @ Stefan Walzl

Essay: Gedanken zu Benjamin Brittens „Peter Grimes“ - Anlässlich der Premiere im Oldenburgischen Staatstheater am 9. März 2024

von Thomas Honickel

The Sea

Brittens Peter Grimes ist die zweite Oper des bedeutenden Briten während der Ära Firmbach in Oldenburg. Bereits 2015 konnte man mit einem sehens- und hörenswerten Midsummernight´s Dream punkten. Doch während dieser zum Spätwerk Brittens zählt, ist sein Peter Grimes das bemerkenswerte Frühwerk, das Britten zum Durchbruch verhalf: Als Sinfoniker und Opernkomponist gleichermaßen. Anders indes als im Programm vermerkt handelt es sich nicht um seine erste szenische Arbeit; dem Werk ging ein (wenig erfolgreicher) Versuch einer „Ballad Opera“ (Paul Bunyan) wenige Jahre zuvor voraus.

Benjamin Britten Büste in Aldeburgh @ IOCO

Peter Grimes entstand in den letzten beiden Kriegsjahren, nachdem Britten mit Heimweh aus dem Exil der USA zurückgekehrt war. Als überzeugter Pazifist hatte er sich durch das amerikanische Exil der Einberufung entzogen. (Nach seiner Rückkehr 1942 wurde seine Kriegsdienstverweigerung in zweiter Instanz akzeptiert. Er ging zu den nicht kämpfenden Truppen). Sein epochales „War Requiem“ (UA 1961) zur Neueröffnung der im Krieg zerstörten Kathedrale von Coventry wurde zu einem flammenden Fanal der frühen Friedensbewegung.

Das Meer und die mit ihm verbundenen Menschen, die Tatsache, dass kein Ort in England weiter als 100 km von einer der die Insel umgebenden Meere entfernt ist, der Umstand, dass die vielfältigen und teils gewalttätigen Fluten eine dauerhafte Bedrohung der dortigen Bevölkerung darstellen, all das macht das Setting einer Küstenlandschaft nachgerade ideal für ein metaphorisches Drama, das von düster-bedrohlichen und unberechenbar-gefährlichen Kleinstgesellschaften handelt, die dort an den Küsten dem Meer ein karges und wenig glückvolles Leben abtrotzen.

Britten schrieb dazu 1945: „Die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich in engem Kontakt mit dem Meer. Das Haus meiner Eltern in Lowestoft (der östlichste Ort Englands in der Grafschaft Suffolk) blickte direkt auf die See, und zu den Erlebnissen meiner Kindheit gehörten die wilden Stürme, die oftmals Schiffe an unsere Küste warfen und ganze Strecken der benachbarten Klippen wegrissen.“

Britten ging es nach eigener Aussage darum, „dem ewigen Kampf der Männer und Frauen, die ihr Leben, ihren Lebensunterhalt dem Meer abtrotzten, Ausdruck zu verleihen.“

Das Meer als Spiegelbild menschlicher Seelenzustände bot damit gleichzeitig die Möglichkeit, Natur und Mensch in ein gegenseitig abhängiges Verhältnis zueinander zu setzen und eine Musik zu formen, die weit jenseits von naturalistischen Stimmungsgemälden den Abgründen menschlicher Seelen, ihrer Falschheit, Verlogenheit, Missgunst, Intriganz, Vorurteilsbehaftung und Selbstgerechtigkeit nachspürt und eine klangvolle Stimme zu geben vermag.

Was Britten in den Vor- und Zwischenspielen, die dem Orchester ein Höchstmaß an Farben und Energie abnötigt, mit Tönen beschreibt, ist ein Abbild der genannten Untugenden, die im Libretto der Titelfigur letztlich nur den Weg in den Freitod eröffnet.

Worum geht es?

Peter Grimes, ein Fischer eines kleinen Dorfes an der Ostküste, wird beschuldigt, seinen Lehrling getötet zu haben. Im Prolog zur Oper wird die ganze Dramatik der folgenden drei Akte angelegt: Grimes wird gegen die Überzeugung der „breiten Masse“ nicht verurteilt; allerdings wird auch seine Unschuld in der gerichtlichen Voruntersuchung nicht einwandfrei geklärt. Das ermöglicht im Fortgang der Geschichte, dass die Gerüchte ins Kraut schießen, Vorurteile wachsen und vermeintliche Hinweise sich zu ebenso vermeintlichen Wahrheiten stabilisieren können. Letztlich hat der eher weltfremde, schroffe und nicht zuletzt wegen seines Jähzorns wenig einnehmende Grimes in der Gesellschaft dieses Dorfes keine Chance für ein Leben in Glück, für ein Leben mit einer Partnerin, für Anerkennung und Integration in eine Dorfgemeinschaf. Eine Community, die sich in Selbstgefälligkeit übt und sich mit schnellen Erkenntnissen einfach zufriedengibt.

Ein weiterer ihm zugeführter Lehrling wird vermeintlich oder tatsächlich mit Misshandlungen vorgefunden. Das (Vor)urteil scheint sich zu bestätigen. Grimes sieht sich einer zur Selbstjustiz greifenden Dorfgemeinschaft ausgeliefert. Ein erneuter, nun tatsächlicher Unfall - der Lehrjunge stürzt von der Klippe- bricht Grimes endgültig gesellschaftlich den Hals. Seine letzten Freunde, Ellen Orford, die er eigentlich heiraten wollte, und der Kapitän Balstrode, der ihm lange zur Seite stand und mehrfach half, erreichen ihn in seinem nun zunehmenden Wahnsinn nicht mehr. Balstrode empfiehlt ihm am Ende, sich selbst mit seinem Boot auf offener See zu versenken. So geschieht es. Der Alltag des Dorfes geht jedoch ungerührt über diese Episode hinweg und das dörfliche Leben geht weiter, als sei nichts geschehen.

Das Libretto basiert auf einer Gesellschaftsskizze des Dichters George Crabbe, welche dieser 1810 unter dem schlichten Titel „The Borough“ („Das Städtchen“) veröffentlichte: Eine Studie über das Leben in der Provinz, die bei ihm das selbst Erlebte und Erlittene, seinen eigenen Hass und seine Verachtung jener Gesellschaft sublimiert. 130 Jahre später fällt dieser Roman dem in Amerika weilenden Benjamin Britten in die Hände, der darin zu seinem Peter Grimes inspiriert und zur Rückkehr in die ostenglische Heimat motiviert wird. Aldeburgh wird in der Folge zu seiner neuen Heimat und zum bis heute anhaltenden Festspielort der Werke Brittens.

Benjamin Britten Grab in Aldeburgh @ IOCO

Einzelgänger in Literatur und Oper

Nicht wenige Bühnenwerke beziehen ihre Wirksamkeit aus dem Konflikt zwischen einem Einzelgänger und Außenseiter sowie einer Gruppe, die diesem gegenübersteht. Die Beweggründe und Triebfedern dieser Individualgestalten können dabei höchst unterschiedlich ausfallen. Don Giovanni mit seinem virilen Protz und seiner Beziehungsunfähigkeit, Carmen mit ihrem unbezähmbaren Willen zu Selbstbestimmtheit und Freiheit, Max als junger Mann, der den Anforderungen und Herausforderungen einer feudal geprägten Gesellschaft, die an überkommenen Traditionen festhält, nicht gewachsen und gleichzeitig in hohem Maße verführbar ist. Von den mythologischen Anfängen der Oper mit Monteverdis „Orfeo“ über Wagners einsame Helden (Holländer, Lohengrin, Tannhäuser, Siegfried) bis zu BergsWozzeck“ sind die Außenseiter, die Einzelgänger, die nicht angepassten Figuren das Salz in der Suppe von Literatur, Libretto und Oper.

Und sie sind die tatsächlichen Lieblinge des Publikums. Wir fiebern mit ihnen, wir fühlen uns in sie hinein, wir leiden ihr Schicksal an ihrer Seite. Viele von uns mögen in ihrem Leben solche Situationen von Ausgrenzung, Verunglimpfung und Intriganz erfahren haben, weshalb diese Figuren uns ans Herz wachsen: Von GoethesWilhelm Meister“ und „Doktor Faust“ über Thomas Manns „Felix Krull“ und „Gustav von Aschenbach“ bis zu „Harry Potter“, dem seine Andersartigkeit ins Gesicht geschrieben steht, oder den dystopischen Figuren aus „1984“, „Brave New World“ und „Fahrenheit 451“.

Sie alle sind Individuen in den Geschichten ihrer Schöpfer; Individuen, die sich im Kontext der Gesellschaften nicht (mehr) zurechtfinden und häufig an ihnen und in ihnen scheitern. Häufig lastet ihnen ein Stigma an, das sie als quasi aussätzig zeichnet, Vorurteile, die sich verfestigt haben und tradiert wurden. In Oper, Drama und Roman finden diese so einsamen Protagonisten höchst individuelle Wege, dieser lastenden Qual zu entgehen; nicht wenige durch den Tod, von fremder wie eigener Hand.

In diesem Zusammenhang sei auf das markante Buch eines weiteren großen Briten verwiesen: Sir Peter Ustinovs „Vorurteil“!

Brittens erneuerter „Verismo“

Es scheint, dass die fiktionale Welt als Spiegel unserer Wirklichkeit solche Außenseitergestalten benötigt, um sich selbst an ihnen zu reiben, zu entwickeln, kritisch zu hinterfragen oder eben den Wert des Individuums trotz aller Reibungen zu würdigen. Nimmt man Brittens Grimes als Anstoß für solche Überlegungen, können viele derzeit auf dem Markt der Möglichkeiten und der Meinungen diskutierte Themen virulent werden: Wie gehen wir mit Andersartigkeit um (Migration, Queere Community, Pluralität im politischen Raum)? Welchen Stellenwert nehmen Nonkonformismus, Zivilcourage und das Überdenken eigener, ehedem betonierter Positionen ein? Solche und ähnlich brisante Fragen werfen derzeit auch die Gerichtsdramen von Ferdinand von Schirach auf, die den Ball der Entscheidung sogar ins Publikum zurückspielen: „Terror“ und „Gott“ etwa (beide waren am Oldenburger Haus zu erleben).

Britten entwickelt in seinen Opern den „Verismo“ der Italiener weiter zu einer äußerst kritischen Diskussion mit Themen, die überzeitliche Gültigkeit für sich reklamieren und einen neuen, hochaktuellen Realismus auf die Bühne bringen: The Rape of Lucretia (1946/Vergewaltigung und Freitod aus Scham), Albert Herring (1947/Geschlechter und ihre Rollenzuweisung), Billy Budd (1950/Hierarchische Systeme und das Scheitern des Individuums), The Turn of the Screw (1954/Wahnvorstellung und Psychopathie), A Midsummer Night´s Dream (1960/Anfälligkeit und Orientierungslosigkeit des Menschen) und Death in Venice (1973/Scheitern des Künstlers und latente Pädophilie).

Dabei sind ihm sehr prominente Literaten kompetente Stichwortgeber: Thomas Mann, Henry James, John Crozier, Charles Dickens, Herman Melville, Hugh Auden.

 Was für ein reiches Opernschaffen mit anhaltender Brisanz!

Von Benjamin Britten in Aldeburgh im Meer von Aldeburgh geschaffene Gedenkmuschel - "I hear those voices that will not be drowned" @ IOC

Bühne und Filmleinwand als Gerichtssaal

Folgerichtig scheint in diesem Kontext, dass solche Fragen nach Recht und Gerechtigkeit auch juristisch auf der Bühne nachgespielt werden. Bei Grimes ist das nicht anders als in vielen Verfilmungen von Gerichtsdramen, die vor allem Hollywood als eigenes Genre berühmt gemacht hat. („Die zwölf Geschworenen“, „Wer Wind sät“, „Zeugin der Anklage“, „Wer die Nachtigall stört“, „Philadelphia“, „Eine Frage der Ehre“, „Erin Brockovich“ und ganz aktuell „Anatomie eines Mordes“).

Man schwankt zwischen Anteilnahme und Gaffen, so wie im Mittelalter schon Gerichtsprozesse zu Volksfesten umgewidmet wurden. Schon damals war die Rechtsprechung mit Unterhaltungswert und moralischem Anspruch verknüpft: Wer gegen die Gesetze der Gemeinschaft verstieß, wurde vor der Gemeinschaft bestraft. Das Teeren und Federn wurde dann über die Jahrhunderte verfeinert und „kultiviert“ bis in unsere Zeit, wo öffentlich in den aktuellen Nachrichten diskutiert wird, ob neueste Giftspritzen oder Kohlenmonoxid ein sanfteres Töten für die dem Tod Geweihten darstellen soll.

Schon vor Grimes Gerichtsverhandlung schuf Smetana in seiner eher unbekannten Oper „Dalibor“ (i.e. der spätere Nationalheld der Tschechen) eine Gerichtsszene mit dramatischer Durchschlagskraft. Und auch der 3. Akt von Mozarts „Figaro“ am Vorabend der französischen Revolution ist eine Gerichtsszene im Kleinen, wenn Almaviva entlarvt, gedemütigt und bestraft wird. Umberto GiordanosAndrea Chenier“ nutzt dann die bekannten Scheinprozesse der Revolution in Frankreich für sein Verismo-Drama, bei dem die Revolution ihre Kinder gleich reihenweise fraß. Ganz ähnlich auch bei Georg Büchner und im musikalischen Gewand von Gottfried von Einems Dantons Tod“, wo die Titelfigur einem durch Robespierre eigens inszenierten und instrumentierten Schauprozess zum Opfer fällt; als Warnung für alle möglicherweise noch Abtrünnigen, Widerspenstigen oder Andersdenkenden.

Sea Interludes – Orchester als Hauptdarsteller

Britten war schon in jungen Jahren ein sinfonisch denkender Komponist, der im Instrumentalen das Emotionale in hohem Maße verorten konnte. Folgerichtig sind die rein instrumentalen Stücke des Opernerstlings, wie oben geschildert, Spiegelbilder der Handlung im Gewand der verschiedenen Stimmungen, wie sie nur einem Meer zu Gebote stehen. Hier ist er Debussys sinfonischer Dichtung „La Mer“ nicht ganz unähnlich. Fast 30 Opernnummern zählt Brittens Orchesterwerk bis zu Grimes, Werke, an denen der Brite sein handwerkliches und fantasiereiches Vermögen schulte und entwickelte hin zu einem Personalstil, der ihm dann auch in seinen späteren Opern zu Diensten war.

Wie zentral diese rein instrumentalen Teile in Peter Grimes für das Verständnis der Oper und die Reflexion bzw. Vorausschau des Bühnengeschehens sind, mag man an dem Umstand ermessen, dass Britten vier dieser Sätze später als Suite unter dem Namen „Four Sea Interludes“ herausgab als op. 33a. „Sonnenaufgang über dem Meer“, „Sonntagmorgen“, „Mondlicht“, „Sturm“ sind die einzelnen Sätze übertitelt. Gemeinsam mit der „Passacaglia“ aus dem 2. Akt sind das fast 25 Minuten rein instrumentale Musik, die Peter Grimes instrumental eigenständig mitgestalten. Ein gutes Fünftel der gesamten Oper!

Damit stellt sich Britten in die Folge von zyklischen Werken vorangegangener Kollegen, die instrumentale Highlights ihrer Opern als Einzelwerke herausbrachten: Purcell, Bizet, Schostakowitsch, Prokofjew, Richard Strauss, Tschaikovsky, Janacek, Berg u.v.m.

Diese Sätze führen fortan ein Eigenleben im sinfonischen Repertoire, auch unabhängig von ihrer ehedem zwingenden Bestimmung im Kontext der Oper. All dies Orchestrale aus Grimes ein Gewinn für jedes Konzert, auch ohne die Szene!

Besides

Wenige Monate vor seinem viel zu frühen Tod 1976 wurde Benjamin Britten - schon zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnet und geehrt, Mitglied zahlreicher Akademien in vielen Ländern und neben Elgar und Vaughan Williams mit dem „Order of Merit“ ausgezeichnet - zum Baron geadelt.

So schön und angemessen diese Ehrung auch sei; aber recht eigentlich ist Britten - neben dem „Orpheus Britannicus“ Henry Purcell, dem Wahl-Briten George Frideric Handel (sic!) und dem bedeutsamen Heroen Edward Elgar - ein weiterer König im Reich der britischen Musik, dessen Werk über Kontinente, politische Systeme und nationale Grenzen hinweg bis heute für alle Generationen seine Strahlkraft behalten hat. Dazu das folgende Beispiel:

Der Este Arvo Pärt, damals noch in der UDSSR lebend, hatte die Musik Brittens erst in den 70er Jahren kennen und schätzen gelernt. Bedingt durch den „Eisernen Vorhang“ war ein persönlicher Kontakt unmöglich; ein Umstand, der Pärt zutiefst bedrückte. Als Reflex auf den so aus der Ferne verehrten Briten schrieb Pärt als Hommage auf Britten kurz nach dessen Tod eines der bedeutendsten Werke seines Oeuvres, den „Cantus in Memoriam Benjamin Britten“. Ein Stück Musik, das meditativ und kontemplativ das Verstreichen der Zeit und das Gedenken an den verehrten Meister thematisiert; ein Requiem im aeolischen Modus:

Arvo Pärt: Cantus in memoriam Benjamin Britten - youtube Norwedian Chamber Orchestra

PETER GRIMES - Staatstheater Oldenburg - IOCO Rezension - link HIER!

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