Apropos Tschaikovsky, Puschkin & Co - IOCO Essay

Im Angesicht der großen gemeinsamen, Jahrhunderte alter Kulturgeschichte Europas sind die derzeit gelegentlich wahrnehmbaren Ausgrenzungen russischer Kultur auch in den heutigen Kriegszeiten unerträglich.

Apropos Tschaikovsky, Puschkin & Co - IOCO Essay
Alexander Puschkin Statue in St. Petersburg @ IOCO / HGallee

Persönliche Gedanken von Thomas Honickel

Im Angesicht der großen gemeinsamen, Jahrhunderte alten Kulturgeschichte Europas sind die derzeit gelegentlich wahrnehmbaren Ausgrenzungen russischer Kultur auch in den heutigen Kriegszeiten unerträglich. Seit dem Kriegsausbruch im Osten Europas muss sich die großartige russische Kultur immer wieder gegen die reflexartigen Reaktionen einer "Cancel Culture" bewähren."

Peter Ilytsch Tschaikovsky um 1870 @ wikimedia commons

Peter Ilytsch Tschaikovsky (1840-1893) starb am Ende des 19. Jahrhunderts, lange vor den Weltkriegs- und Revolutionswirren, die Europa politisch und ideologisch neu „ordneten“. Er war ein international agierender und hochangesehener Komponist, der im Dialog und in freundschaftlicher Verbindung stand zu Meistern wie Brahms, Grieg, Liszt und anderen Größen seiner Zeit. Er galt den Russen als zu westlich und verweichlicht, da er vor allem auch Errungenschaften der westlichen, vor allem der französischen Musik in seine oft melancholische Musik einbrachte.

Warum diese Ferne zu Russland?

Tschaikovsky war ethnisch gar kein Russe; vielmehr war sein Vater ein Saporoger Kosake (Schwarzmeerkosaken aus Saporischja) und seine Mutter Französin. Die ukrainische Geschichtsschreibung hält die Kosakenansiedlung dieses Volksstammes im 18. Jhd. für die erste autonome ukrainische Staatsform, die dann von Zarin Katharina der Großen zerschlagen wurde. Seine Schwester lebte auf der Krim und fast jährlich verbrachte Tschaikovsky dort seine Ferien. Er liebte diese Region des damals noch großrussischen Zarenreiches ganz besonders. Zahlreiche ukrainische Volkslieder fanden ihren Niederschlag in seinen Werken. Und seine sogenannte „kleinrussische“ Sinfonie Nr.2 ist eine eminent deutliche Liebeserklärung an die Ukraine, die oft als „Kleinrussland“ bezeichnet wurde.

Tschaikovsky schrieb über dieses Land: „Ich kannte geniale Menschen; aber ich kannte auch eine Nation von Genies – es sind die Ukrainer!“

Wie eng verzahnt beide Länder in der Vergangenheit und bis heute waren und sind, mögen die folgenden aufschlussreichen Hinweise geben: Die Staatliche Musikhochschule in Kiew, Foto unten, ist bis heute nach Tschaikovsky benannt.

Nationale Musikakademie Peter Tschaikowski in Kiew, Ukraine @ Wikimedia commons

In der Ukraine steht das einzige Strawinsky-Museum weltweit. Sein Vater war Ukrainer. Ein Großteil der grandiosen Ballettmusiken des russischen Meisters („Feuervogel“, „Petruschka“) entstanden in der Ukraine. Strawinsky wurde nicht nur von den deutschen Nationalsozialisten, sondern auch unter Stalin verboten.

Sergej Prokofieff („Peter und der Wolf“) wurde im Donbass geboren, bevor er in Moskau Karriere machte. Beide waren im übrigen Schüler des großen russischen Neuerers Nikolai Rimsky-Korsakow („Das mächtige Häuflein“), der sich jenseits nationalistischer Kunst auch mit exotischen Themen und Sujets beschäftigte (herausragend seine Suite zu „Scheheresade“).

Warum sollten diese Meister alle aus Konzertprogrammen verschwinden, und darüber hinaus Dichter wie Puschkin, Dostojewski, Tschechow und Tolstoi aus den Buchhandlungen eliminiert werden? Es sind dies alles, so wie die ukrainische (!) Dirigentin Oksana Lyniv es vor kurzem im Interview nannte, „Bestandteile der Weltmusik“.

Immer wieder in vergangenen Epochen hat es solche Verfemungen vermeintlich feindlicher Kunst aus Ländern, mit denen man im Krieg lag, gegeben. Immer wieder aber hat es auch intellektuelle Aufstände gegen solche „Bilderstürmereien“ und „Bücherverbrennungen“ gegeben:

Paul Hindemith setzte sich nicht ohne Risiko für all diejenigen Künstler ein, die im Rahmen der sogenannten „Entarteten Kunst“-Initiative des NS-Regimes an den Pranger gestellt wurden. Und Maurice Ravel plädierte während des 1. Weltkriegs in Frankreich nachdrücklich für die deutschen Komponisten seiner Zeit.

Igor Stravinskis Grab auf der Toteninsel in Venedig @ IOCO

Immer wieder gab es flammende kollegiale Bekenntnisse: über den Tellerrand nationaler Befindlichkeiten, kriegerischer Auseinandersetzungen und Ausgrenzungen aufgrund von Religion, Rasse, Herkunft oder sonstiger Kennzeichen des Menschseins.

Mögen auch wir offen für jede Musik sein, gleich aus welchem Kulturkreis sie kommt und mit welcher politischen Konnotation sie in der Vergangenheit, derzeit und künftig besetzt sein mag. Derzeit setzen sich zahlreiche Künstler und Kulturschaffende von beiden Seiten der Kriegsgegner für die Kultur des jeweilig anderen Landes ein; denn auch in den Reihen vieler Opernensembles, Kulturorchester und (Profi- wie Laien-) Chöre finden sich aktuell sowohl ukrainische wie russische Musiker, Instrumentalisten und Sängerinnen.

In Oldenburg sang vor kurzem noch ein ukrainischer Tenor, Flüchtling aus dem Kriegsgebiet, die Arie des Lenski aus „Eugen Onegin“ am dortigen Staatstheater: „Kuda, Kuda, vi udalilis?“ (Was, was hält der neue Tag für mich bereit? Mein Blick vermag nicht zu durchdringen, was mir verbirgt der Zukunft Schoss…)

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