Toulouse, Opéra National Capitole, VOYAGE D`AUTOMNE - B. Mantovani, IOCO
VOYAGE D´AUTOMNE, Toulouse: Für seine dritte Oper, ein Auftragswerk von der Opéra National du Capitole de Toulouse, greift der französische Komponist Bruno Mantovani (*1974) eine Geschichte auf, die ihn seit mehr als 15 Jahren verfolgt.....
W E L T U R A U F F Ü H R U N G - 22.11.2024 - Bruno Mantovani: VOYAGE D’AUTOMNE (2024), Oper in drei Akten mit einem Libretto von Dorian Astor nach einer historischen Begebenheit.
von Peter Michael Peters
EINE HERBSTFAHRT IN SATANS TAUSENDJÄHRIGES REICH…
Eine teuflische Verführung…
Für seine dritte Oper, ein Auftragswerk von der Opéra National du Capitole de Toulouse, greift der französische Komponist Bruno Mantovani (*1974) eine Geschichte auf, die ihn seit mehr als 15 Jahren verfolgt. Es ist nach einer nachgewiesenen historischen Episode geschrieben worden: Der von der NS-Propaganda mit großer Fanfare inszenierte Besuch von französischen Schriftstellern im Deutschland des Dritten Reiches im Jahr 1941. Diese unterschiedlichen Intellektuellen – die blind sind, die fasziniert sind, die verzweifelt sind - führen uns unweigerlich und aus einem neuen Blickwinkel zu großen Themen, die oft in Oper und Theater angesprochen werden: Das Böse, der Pakt mit dem Teufel, der Platz und die Verantwortung der Künstler in dunklen Zeiten, aber auch Schuld, Verlangen, Hoffnung und Erlösung.
Auf der Grundlage umfangreicher historischer Dokumentationen und zahlreicher literarischer Quellen hat Dorian Astor (*1973) ein Libretto verfasst, das die Seelenqualen sehr charakterisierter Charaktere erforscht, entfernte tragikomische Erben der commedia dell’arte. Auch das Libretto spielt mit den Konventionen der Oper und bietet dem Komponisten die Möglichkeit zu Arien, Duetten und Ensembles, die so viele bekannte Meilensteine dieser Odyssee zwischen bösen Träumen und phantasmagorischen Visionen darstellen.
Die französiche Regisseurin Marie Lambert-Le Bihan verzichtet bei der Inszenierung auf eine historische Rekonstruktion: Es sind keine Hakenkreuze nötig, um deutlich zu machen was hier passiert! Ein raffiniertes Universum, eine reichhaltige Beleuchtung und eine direkte Schauspieler-Regie laden das Publikum zu einer intensiven und poetischen Reise durch die Geschichte und die ewigen Fragen nach Gut und Böse ein, die sich jedem einzelnen von uns auch in unserem Leben stellt: Seelen- und Gewissensqualen.
Der Kontext…
Voyage d’automne basiert auf Fakten, die in dem Werk mit dem gleichen Titel von François Dufay (1963-2009) geschrieben und bei der Edition Plon im Jahre 2000 verlegt wurden. Der Titel der Oper ist eine sogenannte Hommage an die Arbeit des Historikers: Im besetzten Frankreich lautet die Parole des Reichsbotschafters in Paris Otto Abetz (1903-1958), zu verführen statt zu bestrafen, um einen scheinbar normalen Ablauf des kulturellen Lebens zu fördern. Ende 1941, fünfzehn Monate nach dem Debakel, nahm die Republik der Gelehrten ihre Tätigkeit wieder auf. Die Schriftsteller schreiben und veröffentlichen, verteilen und erhalten Preise, lassen ihre Stücke aufführen, sitzen in der Akademie. […] Listen mit Broschüren, die verboten sind oder im Gegenteil übersetzt und beworben werden dürfen, sind in Kraft getreten. Die Verlage haben sich verpflichtet, keine Bücher jüdischer, freimaurerischer oder antideutscher Autoren mehr zu veröffentlichen. […] Ansonsten hat sich die literarische Produktion nicht wirklich verlangsamt. So stapeln sich problematische Manuskripte aber auch druckfrische Bücher auf Gerhard Hellers (1909-1982) Schreibtisch in der Avenue des Champs-Elysées 52. Der Verantwortliche für die Schrifttum-Gruppe der Propaganda-Staffel, dieser charmante Preuße, der dank eines Aufenthalts als deutscher Lektor an der Universität Toulouse korrektes Französisch spricht. Er verteilt die wichtigen Veröffentlichungsvisa, desgleichen auch die Ablehnungspapiere für wenig wertvolle Arbeiten, aber vor allem kontrolliert er genauestens die deutschfeindlichen Autoren und bestraft sie mit schweren beruflichen Sanktionen. […] Als Leiter der französischen Literaturabteilung, ist es auch wieder Heller, der in diesem Monat Oktober als Aufsichtsperson fungieren wird und die von ihm rekrutierten Dichter Marcel Jouhandeau (1888-1979), Jacques Chardonne (1884-1968) und Ramon Fernandez (1894-1944) sicher nach Weimar zu begleiten. Die drei Dichter bekamen am 23. Oktober noch weitere französische Schriftstellerkollegen hinzu: Pierre Drieu la Rochelle (1893-1945), Robert Brasillach (1909-1945), aber auch André Freigneau (1905-1991) und Abel Bonnard (1883-1968). Schon vor dem Krieg hatte sich Abetz angewöhnt, im Namen der deutsch-französischen Annäherung französische Intellektuelle einzuladen, dazu alle Reisekosten zu bezahlen. Um mit diesen Franzosen das neue Deutschland zu besuchen und sie von den NSSAP-Kongressen bis hin zu den Konzentrationslagern [sic] mitzunehmen. Manchmal kamen diese sehr verführt zurück, jedoch waren sie fast alle immer sehr beeindruckt!
Diese bewährte Taktik wenden die deutschen Behörden weiterhin auf die intellektuellen Eliten des besiegten Frankreichs an. Aber in diesem zweiten Herbst der deutschen Besetzung hat die Annahme einer solchen Einladung offensichtlich nicht die gleiche Bedeutung und stellt eine einwandfreie stillschweigende Akzeptanz gegenüber der Politik dieser Besatzungsmacht. Das können Jouhandeau, Chardonne und Fernandez nicht ignorieren, aber wenn ihre Reise den „beruflichen“ Vorwand eines internationalen Schriftstellerkongresses hat: In diesem Fall ein „poetische Treffen“ in Weimar, der Stadt mit zwei der wohl berühmtesten Dichterfürsten: Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Friedrich von Schiller (1759-1805).
Zum ersten Mal wurden in diesem Jahr 1941 Schriftsteller aus ganz Europa, aus neutralen oder besetzten Ländern sowie aus Satellitenstaaten, vom Reichs-Propaganda-Ministerium von Dr. Josef Goebbels (1897-1945), dem Organisator der Veranstaltung „Literatur für das kommende Europa“, eingeladen, um mit ihren deutschen Kollegen zu diskutieren. […] Die französische Delegation wird in Weimar mit sieben Mitgliedern die stärkste sein. Da die Treffen von Weimar aber erst Ende Oktober beginnen, werden Jouhandeau, Chardonne und Fernandez unter der Leitung von Heller bis dahin in Begleitung anderer „europäischer“ Schriftsteller eine große Deutschland-Tournee unternehmen.
Der Zug fuhr los, ließ das schlafende Paris zurück und verwischte mit seinem immer schnelleren Tempo bald die Vororte. Und hier sind die Vertreter der französischen Literatur, inmitten von Ausländern in Uniform, mitgerissen, aber nicht von der…
…Wanderlust, das den jungen Dichter an einem Frühlingsmorgen auf den Straßen der weiten Welt vorantreibt, nein, sondern von einer eisernen düsteren Maschine, die in der dunklen Nacht nur so diabolisch dahin flitzt und einen Ort nach dem anderen auffrisst… Wie weit wird das gehen? Wie lange wird das gehen…
VOYAGE D`AUTOMNE - Weltaufführung - Opéra National du Capitole de Toulouse - 22. November 2024
Eine phantasmagorische schwarze Herbstreise…
Warum und wie lassen sich große Künstler von den barbarischsten Ideologien blenden und ausbeuten? Diese Frage stellt Voyage d‘Automne, die dritte Oper von Mantovani, die am 22. November 2024 als Weltpremiere an der Opéra National du Capitole aufgeführt wird. Der Komponist hat hier eine bedeutende historische Episode der Besatzungszeit und der Kollaboration aufgegriffen: Die Ankunft mehrerer großer französischer Autoren im Oktober 1941 auf dem vom Nazi-Regime organisierten Kongress Europäischer Schriftsteller in Weimar.
Auf einem bemerkenswerten konstruierten Libretto von Astor tauchen wir ein in eine intensive lyrische Tragikomödie mit einem faustischen Pakt: Französische Künstler, die nach Anerkennung, Macht und Eitelkeit streben, verdammen sich selbst, indem sie sich hypnotisieren lassen durch die Nazi-Doktrin des neuen Menschen und die Erneuerung der europäischen Kultur. Eine erschreckende Kulisse, die von der zeitlosen Faszinationskraft totalitärer Ideologien erzählt, nicht nur auf Menschenmassen, sondern auch auf Intellektuelle, die so die dunkelsten Projekte moralisch unterstützen.
Auf einer Zugfahrt von Paris nach Weimar entdecken wir neben dem verführerischen Heller, dem deutschen Zensor des französischen Literaturlebens, drei der talentiertesten Schriftsteller ihrer Zeit: Den antisemitischen Homosexuellen Jouhandeau, den kalten und desillusionierten Chardonne und der rechtsextreme Genießer Fernandez. Zu diesen dreien gesellen sich noch in Deutschland der sogenannte erste Intellektuelle der Kollaboration, der nihilistische Dandy Drieu la Rochelle und der Antisemit Brasillach, der Chefredakteur von Je suis partout.
Mit einer solchen Galerie von „Bastarden“ passt Voyage d’Automne voll und ganz in die Konventionen der Oper: Eine Hauptfigur – Jouhandeau – die mit seiner Reue und seiner Libido kämpft, sieben weitere Protagonisten, die sowohl gut positioniert als auch komplex sind, eine Erotik Intrige zwischen Jouhandeau und Heller, eine Spannung, die bis zur Ankunft auf dem Kongress mit der Rede des furchteinflößenden Propaganda-Minister Bögst alias Goebbels zunimmt. Einem Chor, der eine undurchdringliche Menschenmenge verkörpert und die Teilnahme an einem dieser diabolischen Nazi-Hochämter. Ein weiterer erschreckender Moment: Unsere fünf Autoren werden unerwartet von ihrem Zug aus Zeugen der Ermordung jüdischer Häftlinge durch die SS sein und beschließen, nach ihrer Rückkehr nach Frankreich nicht darüber zu sprechen. Erst das dreimalige Erscheinen der Figur der Nachdenklichen vermenschlicht dieses düstere Bild: Ganz in Weiß gekleidet singt sie eine geheimnisvolle Elegie und wiederholt ein erhabenes Gedicht von Gertrud Kolmar (1894-1943), der in Auschwitz ermordeten jüdischen Dichterin.
Mantovanis Musik ist wunderbar theatralisch, energiegeladen und üppig. Sein Gesangsstil ist hier oft einer Ästhetik, die dem Sprechgesang nahesteht, einem Sprechgesangsstil, der eine sehr hohe Textverständlichkeit ermöglicht. Der Orchestersatz ist angespannt, scharf, perkussiv und besonders virtuos. Sie trägt die Lyrik, kommentiert die Handlung, enthüllt die Psychologie und die Qualen jedes einzelnen Protagonisten und wird so zu einer eigenständigen Figur, insbesondere in den brillanten Orchestereinlagen, die die Oper untermalen.
Die raffinierte und nüchterne Inszenierung von Lambert-Le Bihan ist perfekt auf die Herausforderungen des Werkes abgestimmt. In einer Szenografie in Schwarz, Grau und Weiß überlagern sich drei kreisförmige Dekorationselemente: Ein geneigter Tisch, eine bewegliche Decke und ein großer leuchtender Kreis. Die Beleuchtung ist herrlich und grausam kalt, die Schauspielerei ist besonders körperreich und subtil. Und die Gesangsbesetzung ist sowohl gesanglich als auch szenisch tadellos eingefangen mit dem französischen Bass-Bariton Pierre -Yves Pruvot in der komplexen Rolle des Marcel Jouhandeau und auch der französische Tenor Yann Beuron in der des Pierre Drieu La Rochelle. Sein anmutiger Tenor spielt mit seinem schönen Timbre und seiner kontrollierten Gesangslinie, um seine Figur zu einem furchterregend komplexen Charakter zu machen, der sowohl melancholisch als auch verführerisch ist. Für Göbst alias Goebbels wählte Mantovani eine unerwartete Counter-Tenorstimme und zwar mit dem britischen Counter-Tenor William Shelton, der mit einer unstrukturierten unangenehmen Gesangslinie unheimliche Gänsehaut verursachte. Noch nie wurde – mit dieser Roboteroptik und nur einer Kopfstimme – eine so faszinierende „Entkörperlichung“ geschaffen! Dieser Roboter ohne Seele und ohne Körper ist absolut beängstigend und faszinierend zugleich! Die Nachdenkliche dagegen wird mit einem leuchtendem Timbre von der französischen Sopranistin Gabrielle Philiponet interpretiert. Der deutsche Bariton Stephan Genz in der Rolle des Heller verfügt über eine kraftvolle Stimme, die es ihm ermöglicht, die ganze Komplexität seiner Figur hervorzuheben. Der schweizerische Tenor Emiliano Gonzalez Toro drückt mit seiner schattenhaften Tenorstimme die Aufregung von Ramon Fernandez aus und lässt ihn zeitweise fast sympathisch wirken. Der französische Bass Vincent le Texier ist ein stinkend selbstgefälliger Jacques Chardonne. Sehr schöne Komposition, aber seine schöne Bassstimme kommt nicht immer besonders gut zur Geltung. Der französische Bariton Jean-Christophe Lanièce interpretiert Robert Brasillach, der seine Jugend nutzt, um hervorzustechen und bezeichnet sich selbst klar und deutlich eher als Journalist denn als Schriftsteller und Zeitzeuge. Umso tragischer ist sein Scheitern bei seiner Rückkehr, er wird blinder Zeuge sein, wenn der Zug anhält! Dieses Urteil ist der schrecklichste Moment, denn die fünf Männer, denen die summarische Hinrichtung der Juden bevorsteht, werden „ihren Augen nicht trauen wollen“, auch wenn ihre Beschreibung der barbarischen Tatsachen sehr präzise ist. Auch der belgische Tenor Enguerrand de Hys als Hans Baumann mit seiner schönen Tenorstimme verbindet zumeist unbeholfene Verführung in seiner Art und den Gehorsam eines
Der größte Erfolg der Dramaturgie besteht darin, die Banalität des Bösen aufzuzeigen, wie jeder, auch heute noch in der Lage ist, sich vom Bösen verführen zu lassen. Unsere Zeit kann sich an diesem „geistigen Abenteuer“ ein Beispiel nehmen und es nicht so hart beurteilen. Nichts sehen zu wollen bleibt wohl das größte Unwohl in dieser Welt und wir haben auch nichts dazu gelernt: Klima, Kriege, Armut, usw..
Lassen wir uns nun über die Partitur von Mantovani begeistern. Er schreibt eine Art Rezitativ für die Stimmen, das die Fließfähigkeit des Textes ermöglicht, aber den Gesang vermeidet. Das Orchester greift hauptsächlich zwischen den Dialogen ein und klingt kraftvoll, komplex und reichhaltig. Dieser Wechsel erzeugt eine hypnotische Form! Es gibt auch schöne Ostinato-Momente sowohl für die Zugfahrt als auch für den Abstieg der Protagonisten in die Hölle. Man hätte eventuell komplexere Gesangsmomente integrieren können! Aber warum auch nicht? Letztendlich ist es der Chor, der die lyrischsten Momente haben wird. Das Orchester und der Chor der Opéra Nationel du Capitole de Toulouse sind einfach großartig. Desgleichen der französische Dirigent Pascal Rophé: Präzise und nuanciert…
Diese denkwürdige Welturaufführung, die von der Öffentlichkeit sehr begrüßt wurde, stellt eine gewonnene Wette für das beeindruckende Künstlerteam dar, das von Christophe Ghristi, künstlerischer Direktor der Opéra National du Capitole, Initiator und Förderer dieses bemerkenswerten Werks verantwortlich ist. Ein historisches Thema, das jeder kennt, findet hier viele Anklänge an die jüngsten Ereignisse, bei denen fast überall auf der Welt Totalitarismus, Kriege und abscheuliche Ideologien auf dem Vormarsch sind. (PMP/08.12.2024)
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