Toulouse, Opéra National Capitole, EUGEN ONEGIN - Pjotr Tschaikowskij, IOCO
EUGE ONEGIN in Toulouse: Die beiden Urväter von Pjotr Tschaikowskijs (1840-1893) beliebtester Oper Eugen Onegin waren beide Außenseiter. Tschaikowskij war unglücklich und gesellschaftlich sehr kontaktarm, ein nervöser Hypochonder .......
Pjotr Tschaikowskij: EUGEN ONEGIN (1879), Lyrische Szenen in drei Akten von Konstantin Schilowskij und dem Komponisten nach dem Versroman von Alexander Puschkin.
von Peter Michael Peters
AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT: TSCHAIKOWSKIJ, PUSCHKIN, ONEGIN…
Die Liebe kennt keine Rücksicht auf das Alter,
ihre Begeisterung segnet sowohl den in der Blüte seiner Jugend stehenden,
noch weltfremden als auch den durch Erfahrung gestählten grauhaarigen Krieger!
Onegin, ich werde nicht verhehlen, dass ich Tatjana wahnsinnig liebe!
Mein Leben verging trübselig; sie erschien und erhellte es wie ein Sonnenstrahl
in einem stürmischen Himmel und brachte mir Leben und Jugend,
ja Jugend und Glück! (Szene des Fürsten Gremin / 3. Akt / Auszug)
Zwei Außenseiter…
Die beiden Urväter von Pjotr Tschaikowskijs (1840-1893) beliebtester Oper Eugen Onegin waren beide Außenseiter. Tschaikowskij war unglücklich und gesellschaftlich sehr kontaktarm, ein nervöser Hypochonder, der von der Angst heimgesucht wurde, dass das damals gefährliche Geheimnis seiner Homosexualität ans Licht kommen könnte. Die meiste Zeit seines Lebens war er verzweifelt knapp bei Kasse und als er von seiner Gönnerin Nadejda Filaretovna von Meck (1831-1894) gerettet wurde, war er sehr glücklich, ihre Beziehung auf Distanz zu führen und sie nie zu treffen. Sein einziger Versuch, einen konventionellen Lebensstil anzunehmen, bestand darin, eine katastrophale elfwöchige Ehe einzugehen, die in einer bitteren Trennung und noch mehr Unglück endete. Beruflich war er trotz seines Ruhms von den meisten seiner nationalistischen Komponisten-Kollegen geächtet und sehr entfremdet, die ihn leider fälschlicherweise für einen „westlich-orientierten“ Musiker hielten. Bequeme Beziehungen waren für ihn unerreichbar. Tschaikowskij war ein Mann voller Ängste, der außerhalb der alltäglichen russischen Gesellschaft lebte.
Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837), der Autor des Versromans, auf dem Tschaikowskij seine Oper basierte, war ein weiterer Russe, der sich nie anpasste. Er fand die Leute nicht einfach, er war ein unbeholfener schüchterner Mann, brillant, aber rebellisch, geneigt zu ärgern und zu provozieren. Wegen seiner liberalen Offenheit gegenüber Politik und Religion musste er jahrelang im Exil und unter Hausarrest leiden und wurde vom Zaren und seinen Polizisten genau beobachtet. Umgekehrt galt er als zu unzuverlässig, um von den politischen Dissidenten akzeptiert zu werden, die im Dezember 1825 einen verheerenden Aufstand auslösten. Seine Ehe mit einer jungen Schönheit brachte mehr Sorgen und finanzielle Probleme als Glück mit sich und er starb im Alter von 37 Jahren, als er die Ehre seiner Koketten Frau in einem Duell verteidigte. Obwohl auch sein Ruhm in den frühen 1830er Jahren zu schwinden begann, lebte Puschkin zusätzlich mit einem permanenten Lebensgefühl, das ihn unter Wert verkaufte und ihn ohne Geld, Gönnerschaft, gesellschaftliche Stellung, jegliche Sicherheit, Stabilität oder Zufriedenheit zurückließ.
Wohlgemerkt, dass waren zwei Männer von künstlerischem Genie! Wir sind an die Vorstellung gewöhnt, dass großartige Kunst von ruhelosen Seelen geschaffen wird, die dafür bekannt sind: Sich ewig zu quälen und auch rastlos kämpfen! Ihre Entfremdung und ihre asozialen Einstellungen können im Nachhinein nicht nur entschuldigt werden, wir können sie auch als unvermeidlich, ja sogar als Anreiz zur Perfektion ihrer Kunst akzeptieren. Während sie ein unbequemes Leben führten, haben sie ihre ganze Energie in eine Reihe von Meisterwerken gesteckt, die uns noch heute begleiten.
Der dritte Außenseiter…
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Waren diese beiden unangepassten Genies von der Persönlichkeit Eugen Onegins angezogen, weil sie in ihm eine Art fiktiven Bruder sahen, der wie sie selbst von der Welt um ihn herum entfremdet war und Mitgefühl verdiente? Puschkins Onegin ist sicherlich ein Außenseiter, aber an ihm sollte wenig Mitgefühl verschwendet werden. Er ist im Grunde ein schlechter Kerl – nicht weil er die Aufmerksamkeit der jungen Tatjana verschmäht hat, sondern weil er unnötigerweise das Leben eines naiven jungen Dichters, Lenskij zerstört hat. Viele Literaturkritiker haben Entschuldigungen für Onegins asoziales Verhalten, er sei tatsächlich ein Opfer von etwas oder anderem – die bedrückende politische Atmosphäre, die starren Konventionen der oberen Gesellschaft, ein mysteriöses europäisches Unwohlsein, das als „mal du siècle“ oder bösartiges Schicksal bekannt ist. Aber die Fakten sind klar: In Puschkins Novelle stachelt dieser Außenseiter, ein erfahrener Mann von Welt, 25 Jahre alt und ein sehr guter Duellant, einen 17-jährigen Jungen an und provoziert ihn: Lenskij ist gerade 18 geworden und er stellt sich auch dieser Herausforderung. Onegin ermordet ihn dann in einem Duell, wobei er absichtlich darauf absieht, zuerst zu schießen um ihn zu töten! Sein Motiv dafür, das manchmal auf Weltschmerz oder Langeweile zurückgeführt wird, beruht auf hasserfülltem Neid auf das zunehmende Glück des jungen Mannes. Es ist schwer, irgendetwas davon mit den vagen Ausreden zu rechtfertigen, die ihm im Allgemeinen vorgeworfen werden und es gibt auch keine kompensierenden Merkmale seiner Persönlichkeit – er hat weder Talent noch Originalität noch positive Eigenschaften: Die er der Welt bieten könnte! Wenn er ein Außenseiter ist, geschieht dies freiwillig! Wir können sein Verhalten nicht durch bloße Entfremdung rechtfertigen!
Dieser Punkt wurde in den 1960er Jahren in einer bissigen und unterhaltsamen Debatte zwischen Vladimir Nabokow (1899-1977) und Edmund Wilson (1895-1972) aufgegriffen. Nabokows wörtliche Übersetzung von Puschkins Novelle (1964) löste große Kontroversen aus. Wilson war einer der ersten, der gegen Nabokows aggressive Ablehnung jedes Kritikers und Übersetzers seiner Puschkin-Version als „einen Dummkopf und Ignoranten“, protestierte laut. Er verunglimpfte die neue Übersetzung als „ungleichmäßig und banal“, verurteilte die unangemessene Verwendung von archaischem Englisch und warf dem Russen vor, den Charakter von Eugen Onegin selbst völlig missverstanden zu haben. Der stärkste Punkt von Wilson ist, dass Nabokow zur Erklärung von Onegins empörenden Verhalten auf die wenig überzeugende Behauptung zurückgreift, dass er sich „außerhalb seines Charakters“ verhalten habe. Nabokow versucht auch, das Alter von Lenskij von 17-18 auf 21 anzuheben, trotz zweier klarer Altersangaben im Text. Die Bedeutung davon wird gleich klar werden! Wilson zeigt überzeugend, dass jeder einzelne Gedanke und jede Handlung dieses jungen Mannes konsistent ist, von der ersten Strophe an, in der wir hören, wie er egoistisch und ohne ein Wort des Mitgefühls über seinen sterbenden Onkel schimpft. Es wäre schwer, die Schlussfolgerung des Kritikers zu bestreiten, dass Puschkins Onegin grundsätzlich ein zloy ist: Schlecht, egoistisch, bösartig, brutal!
Das Libretto…
Aber wie viel davon trifft auf Tschaikowskijs Onegin zu? Obwohl er immer noch ein Außenseiter ist, wird er doch etwas anders, seine Figur wurde vom Librettisten Konstantin Schilowskij (1848-1893) leicht um adaptiert. Das Libretto von Eugen Onegin ist übrigens ein Kunstwerk für sich selbst! Es besteht aus großen und kleinen Auszügen, die behutsam aus nicht weniger als 56 verschiedenen Strophen von Puschkins Versroman übernommen und zum Haupttext der Oper zusammengefügt wurden – Soli, Ensembles und Chöre – insgesamt etwas mehr als sechshundert Zeilen. Zu diesem Material wurde eine ähnliche Anzahl neuer Zeilen hinzugefügt, die der Librettist wohlwollend erfunden hatte, allerdings nur für Rezitative und andere Passagen der Kontinuität. Im Wesentlichen besteht das Opern-Buch fast ausschließlich aus Puschkins Text. Es wurde mit liebevoller Sensibilität zusammengestellt, nicht von Schilowskij oder Modest Tschaikowskij (1850-1916), wie manchmal noch behauptet wird, sondern vom Komponisten selbst. In dieser Hinsicht irrt sich Wilson sehr vom dramatischen aus, wenn er behauptet, dass „Tschaikowskijs Libretto nicht mehr mit Puschkins Gedicht zu tun hat als Charles Gounods (1818-1893) Faust (1859) mit Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) Dramen Faust I. und II. (1808 und 1832)“.
Welche Änderungen hat Tschaikowskij eingeführt und warum? Erstens hat er das Alter der Charaktere verändert. Das Anfangsalter von Onegin wird von 25 auf 22 gesenkt, das von Lenskij von 17 auf 19 erhöht – allerdings nicht so stark wie bei Nabokov - : Der Altersunterschied zwischen ihnen ändert sich von Acht auf drei Jahre. Tatjana ist mit 17 Jahren etwas jünger als bei Puschkin und ihr Mann wurde im letzten Akt von 34 auf 45 angehoben: Der Altersunterschied zwischen ihnen hat sich fast verdoppelt! Diese Änderung waren nicht skurril! Wenn Onegin und Lenskij ungefähr gleich aussehen, sind Onegins Schuldgefühle gemildert – er gewinnt so etwas, das wie ein Kampf zwischen gleichen aussieht. Und wenn Tatjana im letzten Akt mit jemandem verheiratet zu sehen ist, der mehr als zwei Jahrzehnte älter ist als sie selbst, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie vielleicht versucht sein könnte, Onegins Annäherung zu akzeptieren. Bei Puschkin wäre das wirklich ein unwahrscheinliches Ereignis! Tschaikowskij hat nicht nur Onegin weniger tadelswert erscheinen lassen, sondern auch dem Ende mehr Plausibilität verliehen. Die Regisseure dulden manchmal, dass sie Tatjanas Ehemann wie 60 oder 70 aussehen lassen, aber selbst dann wissen wir in unserem Herzen, nach Fürst Gremins fesselnde Arie, einer Hymne an die Liebe selbst ( 3. Akt, 1. Szene), dass sie ihm wahrscheinlich nicht untreu wird. Doch die Musik spricht etwas anderes und lässt diese Möglichkeiten offen!
Die Schuld verschieben…
Es steckt noch mehr dahinter! In der Original-Geschichte gibt es keine wirkliche Motivation dafür, dass Onegin seinen Freund Lenskij auf Tatjanas Namenstag-Feier anstachelt. Er verfolgt seine Beute ohne jede Begründung! Tschaikowskij musste diese Konfrontation anpassen, wenn sein zweiter Akt glaubwürdig erscheinen sollte. Er hat mehrere Dinge getan! Erstens hat er Olga zu einem komplexeren und direkteren Charakter aufgebaut als bei Puschkin, was musikalisch befriedigend ist, weil es ohne sie keine Altpartie gäbe. Dann verbindet sie sich mit Onegin, um Lenskij anzustacheln, indem sie ihm sagt, dass sie Onegin sehr mag und Lenskij dafür bestraft, dass er unangemessen eifersüchtig ist. All dies geschieht kurz nachdem Onegin selbst in schlechte Laune geraten ist, weil er bösen Klatsch gehört hat, der bei Puschkin an dieser Stelle der Novelle nicht vorkommt. Zur Sicherheit fügt Tschaikowskij die Andeutung hinzu, dass Lenskijs Hitzkopf fast an Wahnsinn grenzt. Wir können sehen, wie sich die Schuld Stück für Stück vom älteren Mann auf den jüngeren verschiebt. Alle diese Änderungen führen uns in die gleiche Richtung und machen die Ereignisse glaubwürdiger und weniger strafbar. Der Komponist nutzt sein adaptiertes Material so gut aus, dass die daraus resultierende Streitszene (3. Akt, 1. Szene) eine der besten ist, die er je geschrieben hat, ausgeglichen, schnelllebig und köstlich unterbrochen von Monsieur Triquets prägnanter kleiner Hommage an Tatjana, immer wieder ein großer Hit, obwohl sowohl der Text als auch die Musik entlehnte Elemente waren. Diese Szene muss klar von ihrem parallelen Anlass, der ausgedehnten großstädtischen Ballsaal-Szene in St. Petersburg (3. Akt, 1. Szene), unterschieden werden. Der frühere Ort ist provinziell, eng und klaustrophobisch und vermittelt den Teilnehmern ein echtes Gefühl sozialer Unterdrückung und nervöser Zwänge.
Dieselben Probleme, die sich aus der Notwendigkeit ergaben, Onegin sympathischer zu machen, wurden von Ralph Fiennes (*1962) und Martha Fiennes (*1964) in ihrer exquisiten Verfilmung (1999) von Puschkins Geschichte noch nachdrücklicher gelöst, die Lenskijs Unschuld noch weiter in Frage gestellt hat und ihn sogar erwischt im Duell als Erster zu schießen. Zuerst Tschaikowskij, dann Nabokow und schließlich Fiennes – sie alle haben ihr Bestes getan, um Puschkins Monster zu vermenschlichen, den selbsternannten „Außenseiter“, der so tragisches Unheil angerichtet hat. Tschaikowskij war derjenige, dem es am meisten gelang und er brauchte auch etwas von seiner besten Musik: Um das zu erschaffen…
EUGEN ONEGIN - Premiere - 20. Juni 2024 - Opéra National Capitole / Toulouse
Eine blasierte zerstörende Leidenschaft…
In dieser neuen Produktion des französischen Regisseur Florent Siaud erstreckt sich die Bühnendekoration des französischen Bühnenbildners Romain Fabre über zwei Ebenen: Eine stellt die Bibliothek des Gutshaus der Familie Larina dar, dann die opulenten Innenräume des Palast in Saint-Petersburg von Fürst Gremin, die andere materialisiert einen dunklen schneebedeckten Wald in einem ewigen kalten Winter. Diese Konstruktion ermöglicht die Darstellung zahlreicher Szenen aus einer doppelten Perspektive oder einer doppelten Lesart: Wie z. B. der Ball im Hause der Familie Larina, der Lenskij mit seinem Freund Onegin empfängt, während Tatjana am Fusse der Bäume liegt und träumt in einer oberen Wald-Ebene. All dies macht den Übergang von einer Szene zur anderen und desgleichen auch die Charaktere sehr fließend und bewegend. Auch wenn die glitzernden Silhouetten von einigen Tänzerinnen die Szenografie schwer belastet und geradezu in kitschigem Kitscht endet. Die Bewältigung von diesem Übermaß an aktiver und unpräziser Massen machen diese Inszenierung äußerst schwer und ungeniert „bodenständig“ (sic). Um besser zu sagen: Es passiert viel (zu) viel und es passiert eben nichts! Die Inszenierung ist äußerst flach ohne die tiefforschende psychologische Charakter-Eigenschaften der drei Hauptpersonen: Tatjana, Onegin, Lenskij!
Die ukrainische Sopranistin Valentina Fedeneva, Foto oben, leidet am meisten unter dieser nicht gerade sehr spirituellen Schauspielführung. Ihre Tatjana behauptet vom ersten Akt an eine sichere Haltung und eine kalte Distanz, die spezifisch für die spätere Fürstin ist, zu der sie werden wird, aber jedoch nicht vereinbar mit dem schüchternen Mädchen am Anfang der Oper. Ihr jubilierender höhensicherer Sopran hat alles, was eine Tatjana haben muss! Die russische Schule ist unverkennbar… die Bolschoi-Praxis ist unüberhörbar…
Die französische Mezzo-Sopranistin Eva Zaïcik fühlt sich sehr wohl als Olga, ihre wohlklingende Stimme bewegt sich in der gesamten Bandbreite ihrer Rolle vollkommen wohl, wobei das Timbre mit herrlicher Frische und offensichtlicher Sensibilität hervorsticht. Madame Larina wird von der französischen Mezzo-Sopranistin Juliette Mars mit viel Verve und Sicherheit interpretiert, leider muss man sagen, dass sie für diese Rolle mit ihrer äußeren jugendlichen schönen Erscheinung nicht sehr glaubwürdig ist. Die alte Zofe Filipiewna wird mit Aplomb und feinnerviger Empfindsamkeit von der französischen Mezzo-Sopranistin Sophie Pondjiclis gesungen.
Der mittlerweile berühmte französische Bariton Stéphane Degout in der Titelrolle stellt einen nicht sehr lebhaften Charakter dar, der sich den Annäherungs-Versuchen einer verliebten jungen Tatjana nicht überzeugend stellt. Seine Darbietung bleibt einfach an der Oberfläche haften: Dass komplexe tollwütige brodelnde und kochende böse Innere dieser nicht sehr sympathischen Puschkin-Figur geht an der arroganten steifen äußeren Person des Sängers glättend vorbei. Er hat sie nicht, er wird sie nie haben: Die Interpretation ist einfach zu artig und zu einfach böse! Es fehlen die vielen Nuancen und Farben eines gequälten Dämon… Die Stimme des Bariton ist immer schön, aber wir würden sagen für diese Rolle zu schön. Auch fühlt man sichtbar seine inneren Kämpfe mit der russischen Sprache: Alles ist geordnet, überlegt, klassiert… es herrscht keine Spontanität! Leider!
Ihm gegenüber ist die Aufrichtigkeit des norwegischen Tenor Bror Magnus Tødenes in der Gestalt des sensiblen naiven Dichter Lenskij sehr aufregend. Er demonstriert eine fließende freie Gesangslinie und äußerst kontrolliert gehaltene Noten – vielleicht mitunter ein wenig zu rau und guttural -, die Projektion seiner Stimme unterstützt eine offene und überzeugende Interpretation. Auch scheint er sich in gewisser Weise von der statischen Schauspielführung ein wenig frei zu machen und interpretiert so einen Charakter frei nach Puschkin: Introvertiert, sensible, eifersüchtig…
Am Ende der Aufführung fällt amüsant auf, dass die Rollen vertauscht sind: Dritte Liebesfigur in der Person des Fürst Gremin, es ist der deutsche Bass-Bariton Andres Bauer Kanabas, der die größte Begeisterung des Publikums genießt. Es ist wahr , dass es sich um eine Anthologie-Melodie handelt, die uns der Sänger präsentiert, dargestellt durch eine unvergleichliche stimmliche Solidität und einen beeindruckenden höhlenartigen Bass, der die Ergüsse eines von der Liebe wiederbelebten Mannes zum Ausdruck bringt, der seine etwas vergessenen verführerischen Kräfte wiederentdeckt. Die charmante und delikate Erscheinung von Monsieur Triquet auf dem Ball bei Larina zum Namenstag von Tatjana wird umwerfend von dem französischen Tenor Carl Ghazarossian interpretiert. Weit entfernt vom karikierten Triquet mit seinen nasalen und lächerlichen Manierismus! Ein Extra Bravo! Der russisch-israelische Bass Yuri Kissin in den beiden kleineren Rollen: Ein Kapitän und Zaretski, wie immer professionell vom gesanglichen und vom schauspielerischen!
Der deutsche Dirigent Patrick Lange, ehemaliger 1. Kapellmeister der Komischen Oper Berlin, hat uns weitgehend enttäuscht. Vielleicht war die Bühnen-Inszenierung ansteckend oder auch das so kurze Einspringen nach der General-Probe für seinen Kollegen, der ungarische Dirigent Gábor Káli, schuld daran? Die ganze Vieldeutigkeit der Musik und ihre tiefschürfenden Deutungen und Absichten waren nicht zu spüren noch zu hören! Es war oberflächlich seicht und ohne jegliche Vision, so wie die schon genannte Schauspielführung! Dagegen der Chor der Opéra National Capitol Toulouse unter der Leitung seines französischen Direktors Gabriel Bourgoin hatte die nötige Dynamik und war solide in jedem seiner Interventionen.
Ein Pariser Kritiker schrieb unter anderem folgendes Satz: „Aus dem Wald wird das wilde Tier Onegin kommen, ein schädliches Tier, das Tatjanas Herz verwüsten wird… usw“. Eine tolle Beschreibung ganz frei nach Puschkin, aber eine derartige Inszenierung und Interpretation sahen wir nicht! Wir hätten sie gerne gesehen… Wir hätten sie gerne beschrieben… Aber wo war sie? (PMP/25.06.2024)
Auskünfte und Karten: opera.toulouse.fr