Magdeburg, Theater Magdeburg, GRETE MINDE - Uraufführung - Eugen Engel, IOCO Kritik, 16.02.2022
GRETE MINDE - Oper von Eugen Engel, 1875 - ermordet 1943
Uraufführung - nach der Novelle von Theodor Fontane
von Christian Biskup
Eine Oper von Eugen Engel? Wer? Nie gehört?! Dann geht es Ihnen wohl so wie mir und den anderen 99 Prozent der Opernliebhaber. Dass der Name jetzt zumindest wieder in aller Munde ist, hat man dem Theater Magdeburg und seiner Dirigentin Anna Skryleva zu verdanken, die den Komponisten wiederentdeckt hat.
Doch wer war dieser Mensch? Eugen Engel wurde am 19. September 1875 in Widminnen in Ostpreußen geboren. Die Engels waren eine richtige jüdische Großfamilie. 13 Kinder entstammten der Ehe von Berta und Samuel Engel – eines davon war Eugen. Samuel war Grundbesitzer und erfolgreicher Kaufmann und siedelte mit seiner Familie 1892 nach Berlin über, wo Eugen in seine Fußstapfen trat. Stoffe für Damen waren sein Metier, doch Musik seine große Leidenschaft.
Wohl deshalb nahm Eugen Engels um 1900 Unterricht bei Otto Ehlers, der am Königlichen Ballett als Dirigent und Korrepetitor engagiert war. Das Werk Engels ist bisher kaum erforscht. Einige Lieder existieren, Kammermusik, kleine Orchesterwerke und die abendfüllende Oper Grete Minde. Das Libretto lieferte der Magdeburger Hans Bodenstedt, der später im NS-Staat Karriere machte und sogar Verlagspolitischer Direktor der NS-Verlage „Blut und Boden“ wurde. Eine interessante Zusammenarbeit also, wenn man das Schicksal Engels betrachtet. Obwohl kompositorisch wohl weitgehend Autodidakt, wagte sich der Komponist an eine große abendfüllende Oper, die ihn schließlich über 19 Jahre beschäftigen sollte. 1914 angefangen, versuchte er ab 1933 eine Bühne für sein Werk zu gewinnen, was angesichts der Machtübernahme Hitlers misslang. Doch auch ausländische Bühnen konnten sich nicht durchringen, das Werk aufzuführen. Für Engel wurde es durch die Nationalsozialisten außerdem zunehmend gefährlich in Deutschland. Seine Tochter Eva emigrierte bereits 1935 nach Amsterdam, Eugen Engel folgte ihr 1939. Nachdem die Wehrmacht auch die Niederlande besetzt hatte, versuchte er eine Ausreisegenehmigung nach Kuba zu erhalten. Dies scheiterte. Im März 1943 wurde er nach Westerbork deportiert, seine letzten Lebenszeichen stammen aus dem Lager. Am 23. März ging er mit einem Transport ins Vernichtungslager Sobibor – drei Tage später wurde der 67-jährige Eugen Engel, vermutlich in der Gaskammer, ermordet. Auch neun seiner Geschwister wurden ein Opfer der NS-Gewaltherrschaft.
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Eugen Engels Tochter hingegen überlebte und konnte 1941 in die USA ausreisen. Im Gepäck hatte sie Noten und Partituren ihres Vaters, die wohl sonst auf ewig verschollen gewesen wären. Ihre Tochter wiederum initiierte ein Andenken im Rahmen der Stolpersteine, sodass nun in der Berliner Charlottenstraße an den Komponisten Eugen Engel und sein tragisches Schicksal gedacht wird. Über eine solche Initiative erfuhr GMD Anna Skryleva erstmals von dem Komponisten, sah den Klavierauszug durch und überzeugte die Leitung des Theater Magdeburg von dem Werk, welches nun – fast 90 Jahre nach der Entstehung – seine Uraufführung erfährt.
Die Oper Grete Minde basiert auf der gleichnamigen Novelle von Theodor Fontane und ist im Tangermünde des Jahres 1614 angesiedelt. Grete Minde, ihr Halbbruder Gerdt und dessen Frau Trud leben gemeinsam. Grete ist eine Außenseiterin, da sie in zweiter Ehe von einer katholischen Spanierin geboren wurde. Eine Puppenspielertruppe ist zu Gast in der Stadt und führt ein Marienspiel auf. Trud und Gerdt sind daher außer Haus, wobei Grete die Wacht über ihren kleinen Jungen obliegt. Sie jedoch trifft sich lieber mit ihrem Geliebten Valtin, was hinterher zum Eklat zwischen den Geschwistern und Trud führt. Gemeinsam mit Valtin flieht sie einer ungewissen Zukunft entgegen.
Drei Jahre später sind Grete, Valtin und ihr mittlerweile geborenes Kind ein Teil der Puppenspielertruppe, die in Arendsee gastiert. Das Glück des Paares ist jedoch getrübt – Valtin ist schwer krank und nimmt Grete den Schwur ab, nach seinem Tod nach Tangermünde zurückzukehren, um für das Kind zu sorgen. Valtin stirbt noch am gleichen Tag und Grete sieht sich gezwungen, den Schwur einlösen. In ihrer Heimatstadt angekommen, verweigert ihr geiziger Halbbruder Gerdt die Hilfe, sogar den Anteil am mütterlichen Erbe. Obgleich Trud die Not Gretes erkennt und auf sie zugeht, lehnt Grete ihre Almosen ab – sie möchte das Recht, das ihr vorenthalten wird. Während die Tangermünder die Abendandacht besuchen, setzt Grete die Stadt in Brand und verbrennt vor den Augen der Stadtbürger auf der Spitze des Kirchturmes. Auch Gerdts Sohn kommt in den Flammen um.
Das Libretto Hans Bodenstedts ist temporeich, eng am Vorbild und bietet eine Vielzahl von reizvollen Personenkonstellationen, die eine dramatische Vertonung nahelegen. Doch wie ist die Musik Eugen Engels? Zuerst: Engel versteht sein Handwerk. Den spätromantischen Orchesterapparat behandelt er äußerst souverän, virtuos und farbenreich. Unschwer erkennt man, dass in den Jahren der Komposition Franz Schreker seine größten Erfolge in Berlin feierte – auch bei Engel reihen sich irisierende Klänge und mächtige Klangeruptionen aneinander – alles äußerst gekonnt instrumentiert. Handwerklich ist die Musik gut gemacht, aber sie vermisst doch vor allem eines: gezielt eingesetzte Dramatik, Kontraste und Melodie.
Das Orchester ist stets recht dick instrumentiert. Intime Momente fehlen fast gänzlich. Bereits zu Beginn verschießt Engel sein ganzes Pulver, orchestrale Höhepunkte reihen sich zu schnell aneinander, sodass ein großer, zielführender Aufbau – den es vom Libretto her durchaus gibt – musikalisch über weite Strecken fehlt. Zudem äußerte Bruno Walter schon zu Engels Lebzeiten, dass er keine eigene Tonsprache hätte, was zu bestätigen ist. Hier ein bisschen Schreker, da ein wenig Venusberg und Meistersinger, dann ein wenig volkstümelnder Humperdinck. Das Werk ist eklektizistisch bis hin zum direkten Zitat. Dennoch ist es schwer, das Werk zu bewerten. Der Komponist hatte nie die Gelegenheit es bühnenpraktisch zu revidieren. Es gibt auch Szenen, in denen es den Sängern schlichtweg unmöglich ist, über das Orchester zu klingen. Solche Probleme wären sicherlich geändert worden, hätte Engel die Möglichkeit der Überprüfung gehabt. Vielleicht wäre dann auch aufgefallen, wie wenig gelungen die Todesszene Valtins geraten ist. Mit den eher heroisch anmutenden Trompetenklängen war das Mitfühlen in dieser doch äußerst wichtigen Szene, sehr schwer geworden. Als richtiger Theatermann erweist sich Engel erst im 3. Akt, der auch später als die anderen Akte entstand. Die Einleitung ist ein morbides Fin de Siècle-Stück par excellence. Äußerst eindrucksvoll gelingt auch die Szene vor der Kirche. Während aus der Abendandacht ein altertümlicher Choral mit Orgelbegleitung von der Hinterbühne erklingt, beginnt Grete auf der Vorderbühne ihren Rachefeldzug, was ein toller musikalischer wie szenischer Effekt ist. Auch die Feuermusik – die Walküre lässt grüßen – gelingt und erstmals findet Engel auch zu großer dramatischer Wucht. Umso bedauerlicher ist es, dass gerade in diesem Moment das Libretto eine Schlussansprache der Grete vorsieht, die alles ausbremst und auch den Schrecken der Handlung nimmt. Somit bleibt rein von der musikalischen Vorlage ein eher zwiegespaltener Eindruck zurück.
Dass der Abend dennoch ein voller Erfolg wurde und großen Beifall fand, lag vor allem an der Magdeburgischen Philharmonie, die unter GMD Anna Skrylevas versierter musikalischen Leitung die leuchtend, schillernde Partitur zum Leben erweckte. Skrylevas Tempovorstellungen und interpretatorische Konzeption gingen voll auf, sodass die Musik den nötigen „Drive“ bekam. Die zahlreichen kleinen Motive drangen stets durch den relativ dicken Klangteppich, dessen Eruptionen sie genussvoll ausspielte. Unter den Sängern ist Raffaela Linti in der Hauptrolle hervorzuheben. Die nicht ganz leichte Partie gestaltete sie in ihren lyrischen und dramatischen Facetten äußerst glaubhaft und stets klangschön. Ihre Diktion war – wie man allgemein vom Magdeburger Ensemble sagen kann – äußerst klar. Dagegen hatte es Zoltán Nyári in der Rolle des Geliebten Valtin schwer. Besonders die großen emotionalen Ausbrüche gelingen ihm sehr gut und auch rein stimmlich hat er die nötige Strahlkraft für die jugendliche Rolle, die ihm schauspielerisch ebenfalls gut zu Gesicht steht. Lediglich in den lyrischen Stellen hätte man sich ein wenig mehr legato-Gesang gewünscht. Den bot in der Nebenrolle Trud jedoch Kristi Anna Isene, die gesanglich am meisten überzeugen konnte. Isene verfügt über einen hochdramatischen, klaren Wagner-Sopran. Der herrischen Hausfrau und verzweifelten Mutter gab sie eine stimmliche Stärke und Wucht, ohne dass je die Textverständlichkeit darunter leiden musste. Bei allen dramatischen Ausbrüchen wird ihr Gesang nie unkultiviert – ihre legato-Phrasen und dynamische Gestaltung sind kontrolliert und klug gestaltet. Kurzum – von der Sängerin wird man hoffentlich noch einiges hören.
Auch das restliche Ensemble, besonders Jadwiga Postrozna als Emrentz, Johannes Stermann als Bürgermeister und der bestens von Martin Wagner einstudierte Chor, waren sehr solide und trugen zum musikalischen Erfolg des Abends bei.
Szenisch bot die Aufführung eine Mischung aus Realismus und Abstraktem. Die Bühne (Nicola Turner, auch Kostüme) war ein Einheitsraum mit grauer Wand, der als Haus der Mindes, Projektionsfläche für den Arendsee, das brennende Tangermünde und Kirchturm dient. Regisseurin Olivia Fuchs ist es vor allem daran gelegen, die Geschichte und Handlung adäquat auf die Bühne zu bringen und verzichtet auf fremde Handlungselemente – hier wird einfach, wenn auch mit modernen Mitteln, erzählt. Ihre Personenführung ist temporeich und besonders in den wichtigen Treffen der Hauptpersonen intensiv. Den Chor weiß sie klug und das Bild belebend einzusetzen, was besonders in den Puppenspieler-Szenen eine Freude ist. Die Kostüme lassen zum Teil eine tolle Mittelalteraura im Opernhaus entstehen. Hier wurde ein Musiktheater geboten, bei dem auch die Traditionalisten ihren Genuss haben werden.
Was bleibt von dem Abend? Auch wenn das Werk als solches nicht überzeugen konnte, bin ich froh über die Erfahrung. Sie ist ein weiteres Beispiel für die – leider doch recht vergessenen – Werke nach dem Kaiserreich, für die musikalischen Strömungen in Deutschland, für die doch hohe musikalische und kulturelle Qualität, die von den Nationalsozialisten sinnlos geopfert wurde. Wir brauchen mehr solcher Werke, wir brauchen mehr Leute wie Anna Skryleva im Musiktheater. Menschen, die für eine Sache brennen und sie verwirklichen können; Menschen die ihr Zeichen gegen die Verengung des Spielplans setzen und dann natürlich auch Menschen, die solche Pläne unterstützen und den Mut haben, nicht unmittelbar die Publikumsrenner zu bedienen. Man kann kaum ermessen, welch große Bedeutung diese Premiere für die anwesenden Nachkommen Eugen Engels hatte.
Zum Ende der Uraufführung wurden sie mit viel Applaus belohnt. Es wird spannend sein, zu sehen, wie und ob sich das Werk GRETE MINDE in der Zukunft durchsetzen kann
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