Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Verführung! Bolero, Dark Glow, Faun, Le Spectre, IOCO Kritik, 9.2.2017
"Von der Lust des Begehrens und der Qual der Verführten" Verführung! - Stuttgarter Ballett mit grandioser Produktion
Von Peter Schlang
Das Thema Verführung! ist so alt wie die Menschheit und damit stets präsent, sei es im gelebten und erlebten Alltag oder in den Darstellungen unterschiedlicher Kunstformen, in denen es diese Seite menschlichen Handelns zu vielfacher, wenn auch teilweise zweifelhafter Berühmtheit gebracht hat. Und so überrascht es nicht weiter, dass das Stuttgarter Ballett am 3. Februar einen Abend mit vier Werken herausgebracht hat, die sich dieser alten und bewährten Form menschlicher Kommunikation über das Medium des Tanzes annähern.
Dabei setzen die Leitung des Hauses und seine Dramaturgie mit Maurice Béjarts Bolero von 1961 bzw. 1984 auf den Ballett-Klassiker zu diesem Thema schlechthin und damit auch einen nach wie vor grandiosen Schlusspunkt eines Abends, der mit einer beachtenswerten Uraufführung der zum Haus gehörenden Choreographin Katarzyna Kozielska begonnen hatte. Im Mittelteil buhlten mit den Stuttgarter Erstaufführungen von Sidi Larbi Cherkaouis Faun und Marco Goeckes Le Spectre de la Rose zwei in jeder Hinsicht extrem unterschiedliche Versionen des Themas um Aufmerksamkeit und Zustimmung des Premierenpublikums.
Katarzyna Kozielskas Dark Glow, das man mit „Dunkles Glühen“ übersetzen kann, stellt nicht nur im Wortsinn die eher dunklen Aspekte der Verführung in den Vordergrund, sondern gerät vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen in vielen Ländern der Welt über weite Strecken zu einer beklemmenden Parabel über die Verführungsgewalt der Politik wie der (modernen) Medien. Die im Jahr 2012 zur bemerkenswertesten Nachwuchs-Choreographin gekürte Polin, die als Halbsolistin auch aktives Mitglied der Stuttgarter Compagnie ist, setzt in ihrer dritten Arbeit für das Stuttgarter Ballett - ihrer ersten für die große Bühne des Stuttgarter Opernhauses - dabei auf eine moderne, aber stets elegante Bewegungssprache, die durchaus klassisch fundiert ist und so beispielsweise auch häufig auf den Spitzentanz zurückgreift.
In einem schwarzen Bühnenraum, dessen beklemmende Wirkung durch eine düstere Lichtregie verstärkt wird, bewegen sich bis zu vier Paare, eine einzelne Tänzerin und ein aus zehn Tänzerinnen bestehendes Kollektiv zur Musik des 1975 geborenen, in England lebenden Gabriel Prokofiev, einem Enkel des berühmten russischen Komponisten Sergej Prokofiev. Dieses Auftragswerk des Stuttgarter Balletts, das in enger Abstimmung mit der Choreografin als „work in progress“ entstanden ist, liefert eine packende und stimmige musikalische Kulisse für die tänzerische Erzählung, in deren Fokus die bösartige, zerstörerische Form der Verführung und ihre möglichen Folgen für eine Gruppe stehen. Als optisches Verführungssymbol fungiert dabei ein Lichtstrahl, der Individuen in seinen Bann zieht, aber seine Versprechungen von Hoffnung, Glück und lockenden Perspektiven nicht einhalten kann.
Prokofievs Musik, die von klassischen Zitaten über Jazz-Elemente bis zu modernen Anleihen viele Aspekte berührt und unterschiedlichste Techniken einsetzt und auch die Grenzüberschreitung zur elektronischen Musik nicht scheut, zeichnet aus dem Orchestergraben zutreffend und packend die gleiche dynamische, in die Katastrophe führende Entwicklung nach, wie sie die Protagonisten auf der Bühne durchleben. Großen Anteil an diesem fulminanten Auftakt hatten neben der kongenialen Leistung von Choreografin und Komponist und der stets packenden, äußerst präzisen wie präsenten Realisation der Partitur durch das Staatsorchester Stuttgart unter der bewährten, aber nie routiniert klingenden Leitung seines erfahrenen Ballett-Kapellmeisters James Tuggle die raffinierten Kostüme von Thomas Lempertz, die auf ihre Weise die Macht und Folgen der Verführung demonstrieren, wenn sie gegen Ende ihren in den pastellfarbenen Blusen verborgenen dunklen Kern zeigen. Vor allem aber galt den Solo-Tänzern Elisa Badenes, Constantine Allen, Alicia Amatriain, Agnes Su, Fernanda De Souza Lopes, Elena Bushuyeva, Adhonay Soares da Silva, Matteo Miccini und Fabio Adorisio der begeisterte Beifall des Premierenpublikums, der natürlich auch die schon erwähnten Tänzerinnen des Corps de Ballett mit einschloss.
Im Mittelteil des Abends folgten mit Sidi Larbi Cherkaouis Faun eine Stuttgarter und mit Marco Goeckes Le Spectre de la Rose gar eine deutsche Erstaufführung. Der belgisch-marokkanische Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui, der bereits 2015 für das Stuttgarter Ballett Strawinskys Feuervogel eingerichtet hatte, beruft sich in Faun, seiner Adaption von Vaslav Nijinskys Skandal-Erfolg L’après-midi d’un faune, nicht nur direkt auf Stephane Mallarmés Gedicht, sondern setzt auch zu großen Teilen auf Claude Debussys 1882 uraufgeführtes impressionistisches Werk Prélude à l’après-midi d’un faune. Dessen schwebenden, oszillierenden Klängen stellt er Musik des 1964 in England geborenen Nitin Sawhney zur Seite, die mit ihrem indisch-orientalischen Duktus dem Geschehen gleichsam eine zweite Ebene unterlegt und immer dann einsetzt, wenn der weibliche Teil des „Faun-Duos“ auftritt bzw. die Initiative ergreift. Dies wirkt durchweg schlüssig und erhellend, merkt man doch auch der Tanzsprache dieses Ausnahme-Choreographen den Einfluss unterschiedlicher Kulturen und Stilrichtungen an.
In seinem Faun lässt er eine Tänzerin und einen Tänzer, in Stuttgart sind dies die fabelhafte erste Solistin Hyo-Jung Kang und der ihr absolut ebenbürtige Solist Pablo von Sternenfels, alle Register der tänzerischen Verführungskunst ziehen, wobei die Ausdrucksmittel nicht selten fließend in jene des Bodenturnens und sogar der Akrobatik übergehen. Unterstützt durch die sensible Lichtregie Adam Carrées entstehen Körper-Konstellationen, die dem Zuschauer suggerieren, auf der Bühne bewege sich ein einziges Wesen, wobei die Anzahl und vor allem die Positionen einzelner Körperteile häufig im Unklaren bleiben bzw. sich so schnell verändern, dass dem Betrachter genauso schwindelig wird, wie er es für die beiden Tänzer fürchtet. Dazu besteht aber absolut kein Grund, denn die Bewegungen Kangs und Sternenfels‘ sind so organisch fließend und trotz ihres gelegentlich hohen Tempos von einer Reinheit und kreatürlichen Schönheit, dass man die im ersten Teil des Abend dargestellte zerstörerische Kraft der Verführung längst vergessen hat und nur noch gebannt dem hohen Reiz dieser Verführungslust folgt.
Dieses hohe Niveau kann Marco Goeckes Le spectre de la Rose, ebenfalls eine Verneigung vor dem Tanzdenkmal Nijinski und den „Balets Russes“ und 2009 zu deren 100. Geburtstag in Monte Carlo uraufgeführt, leider nicht durchgehend halten. Zu einseitig und ideenarm ist seine Körpersprache, die sich überwiegend in stark überzeichneten, abgehackten Bewegungen der Hände und des Kopfes erschöpft und deren Wirkung nach wenigen Minuten verblasst. Auch wenn bzw. gerade weil man den modernen Stil dieses jungen Stuttgarter Haus-Choreographen kennt und von anderen, deutlich besseren Arbeiten schätzt, kommt an diesem Abend schnell ein Gefühl der Ermüdung und der Langeweile auf, und man lässt seinen Blick unweigerlich von den ständig flatternden Händen hinunter zu den Beinen und Füßen der Tänzerinnen gleiten, wo sich einem aber ebenfalls trotz einiger netter Einfälle keine wirkliche Abwechslung und Anregung bietet.
An den fabelhaften Agnes Su und Adam Russell-Jones und ihren nicht minder jederzeit präsenten sechs Kollegen liegt die begrenzte Wirkung dieses Balletts auf keinen Fall, denn sie setzen die Vorgaben des Ballett-Rebellen Goecke kompromisslos und mit großer Hingabe um. Auch ist die vom Choreographen selbst und Michaela Springer gestaltete Bühne ein durchaus anregender Ort für den Traum des Mädchens von der Rose, die sich hier in unzähligen auf den Bühnenboden regnenden und an den Beinen und Armen des Solotänzers befestigten Blütenblättern multipliziert. Und schließlich tragen auch die Lichtregie Udo Haberlands und die musikalische Umsetzung von Carl Maria von Webers berühmter Aufforderung zum Tanz, der als zweites Stück Webers Der Beherrscher der Geister zur Seite gestellt wurde, durch das Stuttgarter Staatsorchester dazu bei, dass dann doch auch dieser dritte Teil des neuen Stuttgarter Ballettabends sein das durch dessen Titel verheißene Versprechen einhalten kann.
Dass dies ohne jeden Abstrich für das letzte, nach der zweiten Pause zu sehende Stück gilt, den seit Juli 1984 zum Repertoire des Stuttgarter Balletts gehörenden Bolero, bedurfte keines Beweises mehr. Drei Generationen „Stuttgarter Tänzerinnen und Tänzer“ begeisterten schon viele Tausende von Ballettfreunden und überzeugten diese von der noch immer ungeheuren Spannung, Faszination, und eben auch Verführungskraft, die Maurice Béjarts 1961 beim Balet du XXe Siècle in Brüssel uraufgeführte geniale Choreografie ausstrahlt. Es ist immer wieder erstaunlich, wie originell, modern, verführerisch und mitreißend dieses Meisterwerk des französischen Großmeisters der Ballettkunst damals schon war und noch immer ist. Friedemann Vogels Interpretation fügt sich hier ohne Bruch und Makel in die beachtliche Reihe seiner Vorgängerinnen und Vorgänger ein, wobei sich beim Betrachter durchaus die Frage einstellen kann, ob der Protagonist, der Ravels Musikvorlage, diese in Musik gegossene Ektase, dieses zwanzigminütige atemberaubende Crescendo, so hinreißend auf den roten Tisch bringt, nun Verführer oder selbst Verführter ist.
Am Ende des 150minütigen Programms gab es langanhaltenden Applaus, ja großen Jubel vom Premierenpublikum, unter das sich viel Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Kultur gemischt hatte. Er galt einem Ballettabend, der von höchster künstlerischer und ästhetischer Qualität ist und ein eindrucksvolles Zeugnis von der Verführungskraft des Tanzes, der Musik, ja der Kunst im Allgemeinen ablegt - und der auch eine unwiderstehliche Verführung zum Zuschauen darstellt. Von Peter Schlang
Verführung! - Stuttgarter Ballett: Weitere Aufführungen am 11., 14., 23., 27. und 28. Februar sowie am 4. und am 7. März 2017