Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Noverre - Exponate Junger Choreographen, IOCO Kritik, 28.04.2017
Stuttgarter Ballett | Oper Stuttgart
Stuttgart Opernhaus © A.T. Schaefer
Stuttgarter Ballett
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Von Peter Schlang
Der in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts am Hofe des kunstsinnigen Herzogs Carl Eugen von Württemberg wirkende französische Ballett-Pionier Jean Georges Noverre (Die Ballettwelt gedenkt am 29. April 2017 seines 290. Geburtstags.) wurde 1958 in Stuttgart zum Namensgeber einer Einrichtung, die in den nunmehr 59 Jahren ihres Bestehens unschätzbare Beiträge zur Förderung des modernen Tanzes und des Balletts geleistet hat und aus dem Kulturleben in Baden-Württemberg, ja Deutschlands, nicht mehr wegzudenken ist.
Ursprünglich mit dem Ziel gegründet, Wissen um den Tanz zu vermitteln und dieses zu erweitern, ist die Noverre-Gesellschaft, die sich selbst mit dem eher schwäbisch-bescheidenen Untertitel „Freunde des Balletts“ erklärt, spätestens seit 1961 einer der innovativsten Akteure und Förderer auf dem Gebiet der Choreografie und moderner Tanzideen. In jenem Jahr riefen nämlich ihr Gründer und langjährige Vorsitzende Fritz Höver und der Vater des Stuttgarter Ballettwunders, John Cranko, die seitdem jährlich im Frühjahr präsentierte Reihe „Junge Choreografen“ ins Leben.
Sie beglückt nicht nur an nur zwei Abenden ein immer größer werdendes und ungeduldiger auf die Neuausgabe wartendes tanzbegeistertes Publikum, sondern zieht auch Tanzexperten und Ballett-Verantwortliche aus allen Ecken Deutschlands, ja Europas an. Längst hat sich nämlich herumgesprochen, dass bei diesem Ereignis etliche der kommenden Choreografie-Stars ihre Erstlings-Entwürfe vorstellen oder zum zweiten oder wiederholten Mal eine Arbeit vor einem fachkundigen Publikum präsentieren. Entsprechend lang und illuster ist die Liste der Choreografinnen und Choreografen, für welche die Stuttgarter Reihe „Junge Choreografen“ zum Sprungbrett in eine internationale Karriere als Choreograf und Ballettleiter wurde: Pina Bausch, Bridget Breiner, William Forsythe, Marco Goecke, Jirí Kylián, John Neumeier, Uwe Scholz, Christian Spuk und Demis Volpi starteten einst als Noverre-Novizen und wurden für unzählige Tänzer und Nachwuchs-Choreografen Vorbild und Ansporn.
In diesem Jahr wurden aus der langen Liste junger und teilweise bisher unentdeckter Choreografie-Talente neun Mitglieder der Stuttgarter Compagnie und drei auswärtige Gäste - Guilherme Carola von der Akademie des Tanzes in Mannheim, Dustin Klein vom Bayerischen Staatsballett in München und Tadayoshi Kokeguchi vom Ballet de l´Opéra de Lyon - für würdig befunden, an diesem Schaulaufen des Choreografie-Nachwuchses teilzunehmen. Sie hatten für die zwei Aufführungen am 20. und 21. April neun Uraufführungen und eine Stuttgarter Erstaufführung vorbereitet und erhielten somit die absolut realitätsnahe Chance, ihr Arbeiten unter „Echt-Bedingungen“ vorzustellen – ganz nach der Maxime John Crankos: „Choreographen brauchen Licht, Bühne, Tänzer, Kostüme, Probenzeit und nicht zuletzt: ein Publikum, das sich die Stücke ansieht.“
Einzige Bedingung für alle Teilnehmenden ist die Länge ihres Balletts, welche 12 Minuten nicht überschreiten darf. Weitere Besonderheiten dieses Tanz-Ereignisses sind, dass sich die jungen Autorinnen und Autoren selbst um alles Details der Aus- und Aufführung kümmern müssen, also sowohl für die Bühne und die Kostüme verantwortlich zeichnen als auch z. B. die Lichtregie selbst entwerfen müssen. Aber nicht nur an die Schöpfer der Tanzvorlagen stellen diese Abende der Noverre-Gesellschaft allerhöchste Anforderungen. Auch die ausführenden Tänzerinnen und Tänzer, von denen einige Mitglieder der Stuttgarter Compagnie mehrmals auftreten, stehen vor einer besonderen Aufgabe, und selbst für das Publikum stellt die Fülle von Entwürfen und Ideen, die in zwei Fünferblocks mit einer jeweils höchstens zweiminütigen Umbaupause im zweimal total ausverkauften Stuttgarter Schauspielhaus vorgestellt wurden, eine gewisse Herausforderung dar.
Die erste Arbeit stammte in diesem Jahr von Noan Alves, der mit seinem Noverre-Erstling Venus eine Verbeugung vor der Rolle der Frau, ja dem Weiblichen überhaupt macht. Er schickt dabei vier wie Schwestern wirkende Tänzerinnen durch eine kleine Reise durch die Tanzgeschichte und verknüpft dabei klassische Zitate mit modernen, teilweise leicht akrobatisch anmutenden Elementen.
Seine Stuttgarter Compagnie-Kollegen Alexander Mc Gowan, der bereits zum zweiten Mal bei den „Jungen Choreografen“ gastierte, und Enes Comak wagten sich mit ihrem zweiteiligen Entwurf Fraternal/Stories schon etwas mehr in die Moderne vor. Ihre an Breakdance und an Marco Goecke erinnernden Bewegungen und Figuren, denen sie als Tänzer höchstpersönlich Leben einhauchten, gewannen durch eine beeindruckende Lichtregie weiter an Wirkung.
Auch Alisa Scetinina gehört seit der vergangenen Spielzeit dem Stuttgarter Corps de Ballett an und setzte ihre Choreografie Intact zusammen mit ihrem Kollegen Shaked Heller selbst in Tanz um. Dabei verdienen nicht nur die zahlreichen höchst fesselnden Studien zum pas de deux Erwähnung, sondern vor allem auch der Umstand, dass die Choreografin laut Programmheft selbst die Musik zu ihrem Ballett komponiert hatte. Alessandro Giaquinto, ebenfalls Stuttgarter Noverre-Debütant, sorgte bei seiner von drei Tänzerinnen vorgetragenen Elegia nicht nur durch das darin angesprochene Thema Abschied und Sterben für Aufmerksamkeit, sondern ließ auch durch seine „Musikauswahl“, die Verbindung von Strawinskys Elegy for a solo viola mit dem von Giuseppe Ungaretti hinreißend vorgetragenen Gedicht Sono una creatura, regelrecht aufhorchen.
Für einen weiteren Höhepunkt vor der Pause sorgte der erste Gast der diesjährigen Aufführungen, der an der Oper in Lyon tanzende Tadayoshi Kokeguchi, der dort bereits mehrfach als Choreograf auf sich aufmerksam gemacht hat. Mit seinen zu Johannes Brahms erster Cello-Sonate geschaffenen Fences stellte er das längste Stück des Abends vor, in dem er die zwei Tänzerinnen und Tänzer - darunter er selbst – zu ganz unterschiedlichen Tableaus und bildhaften Formationen gruppierte. Für diesen faszinierenden Entwurf mit seinen überzeugenden psychologischen Studien und häufigen filmischen Adaptionen und Anspielungen wurde sein Schöpfer vom vollen Haus mit begeistertem, lang anhaltendem rhythmischem Applaus bedacht.
Eine Besonderheit an Pablo von Sternenfels‘ A drop of ocean, mit dem der Stuttgarter Halbsolist den zweiten Teil des Abends eröffnete, war nicht nur die Tatsache, dass der Schöpfer dieses Werks auch die Rolle des ausführenden Tänzers übernommen hatte. In jeder Hinsicht Augenweide wie Ohrenschmaus war vielmehr die musikalische Seite dieses Beitrags, für welche der Choreograf seinen Bruder Santiago an Saxophon und Wasserschlauch und die singende Kontrabassistin Fuensanta Mendez zu sich auf die Bühne geholt hatte. Großartig zu verfolgen, wie die fulminant dargebotenen Tanzbewegungen dieses Ausnahmetalents, zu denen er seinen Oberkörper häufig in Bodennähe oder knapp darüber bewegte, mit dem jazzigen und groovenden Sound der beiden Musiker amalgamierten. Nicht selten stellte sich dabei dem faszinierten Beobachter die Frage, wer bei diesem Trio nun Maß und Takt vorgab, der Tänzer oder seine Partnerin am Kontrabass.
Der nächste Beitrag stammte von der zweiten zu diesem Abend eingeladenen jungen Choreografin, der sich noch im Stadium einer Elevin befindlichen gebürtigen Italienerin Aurora de Mori. In ihrem Devenire anima zu Musik von Arvo Pärt schöpft sie alle Möglichkeiten aus, die sich zwei Tänzerinnen und drei Tänzern bieten und bietet flüssiges und sehr empathisches Tanztheater, das sehr stark auf klassische Elemente baut. Kaum krasser konnte der Gegensatz zum folgenden Stück sein, das wiederum von einem Gast kreiert worden war, von Dustin Klein aus München Zu typisch bayrischer Volksmusik lässt der seine beiden Tänzerkollegen Nikita Kotkov und Ilia Sarkisov alle Register der Tanzkunst ziehen, wobei es der Fantasie der Zuschauer überlassen bleibt, was diese in diesen turbulenten, abwechslungsreichen zehn Kraftminuten am ehesten sehen, eine Parodie auf bayrisches Brauchtum oder eine Verballhornung des klassischen Ballettbetriebs. Jedenfalls tobte das Stuttgarter Schauspielhaus nach dieser Vorführung sicherlich nicht weniger als ein Münchner Oktoberfestzelt.
Nach dieser furiosen Präsentation ließen die beiden auch als Tänzer agierenden Stuttgarter Compagnie-Mitglieder Robert Robinson und Adam Russell-John das Publikum und dessen aufgeheizte Sinne mit ihrem vom gleichnamigen Song von Jarvis Cocker und Chilly Gonzales begleiteten Room 29 wieder etwas zur Ruhe kommen.
Den Schlusspunkt dieses begeisternden Abends mit dem Schaulaufen großer Choreografie-Talente setzte der an der Mannheimer Akademie des Tanzes studierende Guilherme Carola, der mit diesem letzten Stück sicherlich den schwierigsten Part des Abends zu bewältigen hatte. Sein nach Einsteins Formel E=mc² benanntes Stück für einen Tänzer und vier Tänzerinnen versucht mit den Mitteln des Tanzes, hinter die Geheimnisse von Mathematik und Physik zu kommen. Dabei spürt er genauso der Faszination eines Stoffes und Themas nach, wie er untersucht, weshalb andere Menschen davon abgestoßen oder zumindest kalt gelassen werden.
Das Schluss-Defilee führte noch einmal alle anwesenden elf zukünftigen Choreografie-Stars auf der Bühne zusammen, wo sie sichtlich und verdient den tosenden Applaus des zwar ermüdeten, aber noch immer begeisterten Stuttgarter Ballett-Publikums genossen.