Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Die Fantastischen Fünf - Reid Anderson, IOCO Kritik, 27.03.2018

Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Die Fantastischen Fünf - Reid Anderson, IOCO Kritik, 27.03.2018
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Stuttgarter Ballett | Oper Stuttgart

Stuttgart Opernhaus © A.T. Schaefer

Stuttgart Opernhaus © A.T. Schaefer

Die Fantastischen Fünf  -  Stuttgarter Ballett

Von Anfang und Abschied – Letzter Ballettabend in Reid Andersons Intendanz

Von Peter Schlang

Wenn die 22 jährige Dienstzeit Reid Andersons als Intendant des Stuttgarter Balletts im Juli mit einer ihm gewidmeten Festwoche zu Ende geht, wird die Liste der unter bzw. von ihm aus der Taufe gehobenen Uraufführungen weit über 100 Choreografien umfassen, darunter sage und schreibe elf abendfüllende Handlungsballette. Die meisten dieser Kreationen stammen aus den Köpfen und Händen von „hauseigenen Stuttgarter Kräften“, seien es Choreografinnen und Choreografen, die, häufig aus der Compagnie hervorgegangen, am Haus tätig waren, oder Tänzerinnen und Tänzer, die diesen Weg gerade eingeschlagen hatten oder im Begriff waren, dies zu tun.

Die Fantastischen Fünf  -  Im Schauspielhaus

Eine Frau und vier in diese Kategorien gehörenden Männer wurden nun vom seit 1969 dem Stuttgarter Ballett angehörenden Anderson zu einem Choreografen-Quintett zusammengespannt, um seinem Entdecker und Förderer unter dem beziehungsreichen Titel Die Fantastischen Fünf ein vorgezogenes Abschiedsgeschenk zu machen. Dieses durfte der Beschenkte am Freitag, dem 23. März auf der „kleinen“ Stuttgarter Ballettbühne im Schauspielhaus vor vollen, mit glücklichen und vielfach auch jubelnden Ballettfans besetzten Rängen auspacken.

Stuttgarter Ballett / Die fantanstischen Fünf - hier Under the Surface mit Fernanda Lopez De Souza Lopes, Alessandro Giaquinto, Ensemble © Stuttgarter Ballett
Stuttgarter Ballett / Die fantanstischen Fünf - hier Under the Surface mit Fernanda Lopez De Souza Lopes, Alessandro Giaquinto, Ensemble © Stuttgarter Ballett

Den Anfang dieses letzten Uraufführungs-Reigens dieser Spiel- und Amtszeit machte Roman Novitzkys Under the Surface, in dem das Multitalent (Novitzky ist nicht nur erster Solist und damit tanzender Choreograph der Stuttgarter Compagnie, sondern inzwischen auch deren Fotograf.) drei Tänzerinnen und fünf Tänzer verschiedene Formen und Stadien von Beziehungen und Begegnungen interpretieren lässt. Zu Musik von Ólafur Arnalds, Stephin Merritt und einer Auftragskomposition Marc Strobels entwickeln Fernanda De Souza Lopes, Jessica Fyfe, Veronika Verterich, Timoor Afshar, Matteo Crockard-Villa, Allessandro Giaquinto, Alexander Mc Gowan und Matteo Miccini ein wahres Feuerwerk an Charakter- und Gruppenstudien, die sich kurz mit fünf großen „ A“ zusammenfassen lassen: A wie Anmache, Annäherung, Anfang, Abstand und Abschied. In diesem halbstündigen Feuerwerk unter einer aus Glühbirnen geformten geometrischen Figur, unter der sich die gerade pausierenden Tänzer um einen großen Tisch versammeln, führt Novitzky dem Publikum verschiedene Stationen menschlicher Kontakte vor Augen. Diese kleidet er in ein originelles wie differenziertes Spektrum von Bewegungen und Figuren, welche die Tänzer kraftvoll und temporeich und nicht selten mit artistischem Aplomb auf die ganz in schwarz gehaltene Bühne bringen.

Das zweite Stück des gut dreistündigen Abends wurde Fabio Adorisio anvertraut, dem Jüngsten aus dieser verheißungsvollen Fünfer-Bande, der aber auch schon neun Choreografien geschaffen und seinem jüngsten Werk den Titel Or Noir gegeben hat. Damit spielt er auf die japanische Porzellan-Reparatur-Technik „Kintsugi“ an, was auf Deutsch „Goldverbindung“ oder „Gold flicken“ bedeutet.

Dabei verdecken die aufgebrachten Goldbänder nicht die Risse oder Brüche, sondern betonen und veredeln diese. Adorisio macht diesen Bezug durch raffinierte zweifarbige Trikots deutlich, in die er seine fünf Paare kleidet und die ebenso von ihm entworfen wurden wie der Bühnenraum. An dessen hinterem Ende sitzt das aus Streichern des Staatsorchesters gebildete Streichquintett, welches das von der Komponistin Nicky Sohn als Auftragswerk gelieferte einsätzige Werk „Even in the oddest time“ packend und akzentuiert zur Uraufführung brachte. Obgleich der Choreograf seine je fünf Tänzerinnen und Tänzer zu schönen, meist an klassischen Vorbildern orientierten Figuren und Bildern gruppiert, welche diese souverän auf die Bühne setzen, wirkt diese Arbeit etwas ermüdend und weniger inspirierend als das Vorgängerstück, welches vielleicht auch - zumindest beim Publikum - manche Energie aufgesaugt hat.

Stuttgarter Ballett / Die fantastischen Fünf - hier Take your Pleasure seriously mit Alicia Amatriain und Ensemble © Stuttgarter Ballett
Stuttgarter Ballett / Die fantastischen Fünf - hier Take your Pleasure seriously mit Alicia Amatriain und Ensemble © Stuttgarter Ballett

Diese ist – und das auf allen Seiten – beim Mittelstück des Abends wieder uneingeschränkt zu spüren. Es wurde, gendermäßig völlig korrekt, der einzigen Frau dieses Choreografen-Teams anvertraut, der nach dieser Spielzeit sich von der Stuttgarter Compagnie verabschiedenden Halbsolistin Katarzyna Kozielska. Ihr und sich selbst wünscht man nach ihrem fulminanten Beitrag Take Your Pleasure Seriously, dass Tamas Detrich, Stuttgarts designierter neuer Ballettchef, sie als Gastchoreographin wieder einmal an ihre bisherige Wirkungsstätte holen möge. Die aktuelle Arbeit der gebürtigen Polin ist ihr Resümee über ihre fast zwanzigjährige Zugehörigkeit zur Stuttgarter Compagnie und gleichzeitig eine große Verbeugung vor der Leistung aller Ersten Solistinnen. Folgerichtig lässt Kozielska Alicia Amatriain alle Haltungen, Positionen und Figuren vorführen, die das klassische Ballett kennt, wirkungs- und eindrucksvoll wie dienend und unterstützend begleitet von ihren Kolleginnen Rocio Aleman, Diana Ionescu, Mizuki Amemiya, Joana Romaneiro und Aiara Iturrioz Rico sowie den zu gewaltigen Hebe- und Stemmfiguren angehaltenen Tänzern Jason Reilly, Martí Fernández Paixà, Daniele Silingardi, Adrian Oldenburger, Fraser Roach und Noan Alves. Es ist ein live vorgeführtes, mit Fleisch und Blut versehenes Vademekum der Tanzkunst und Ausdrucksmittel verschiedener Epochen und Genres, welche die sechs Paare in höchster Vollendung und mit größter Leidenschaft auf die Bretter stellen.

Die musikalische Grundlage liefert neben zeitgenössischer Musik vom Band Johann Sebastian Bachs Italienisches Konzert, das von Paul Lewis am langsam von links nach rechts fahrenden Flügel akzentuiert wie tänzerfreundlich gespielt wurde.

Der Unterschied, ja Bruch zum nächsten und vorletzten Stück dieses denkwürdigen Ballettabends hätte kaum radikaler ausfallen können, denn Louis Stiens, ebenfalls Halbsolist und von Reid Anderson schon mehrfach mit Choreografien betraut, ist sowohl in seiner Formensprache als auch musikalisch eindeutig der Gegenwart zugewandt und hier wiederum leicht der Generation Twitter und Instagram zuzuordnen. Sein Bekenntnis, die Musik zu seinen Arbeiten ständig online zu suchen, wird durch die lauten, zumindest für einen älteren Zuhörer die Schmerzgrenze überschreitenden Beats und Rhythmen als absolut richtig eingestuft. Skinny, der Titel dieses Werks, wird vom Rezensenten deshalb weniger als „Unter die Haut gehend“, denn als nichts für „Dünnhäutige“ und für Klang-Ästheten gedeutet. Zwar gelingen dem Jung-Choreografen, der sich im Programmheft auch als Hobby-DJ outet, durchaus eindrucksvolle und teils sensible Körperbilder, doch die meisten der zu dieser aktuellen Clubmusik kreierten Tableaus und Szenen führen seelenlose, kalte Maschinenmenschen, ja zu Zombies dressierte Wesen vor, die den Verfasser dieses Textes an Chaos und Apokalypse denken lassen. Und wenn der Rezensent die Reaktionen vieler anderer Zuschauerinnen und Zuschauer richtig gedeutet hat, fand nicht nur er keinen richtigen Zugang zu der von Stiens gewählten Ausdrucksform.

Stuttgarter Ballett / Die fantastischen Fünf - hier Or Noir und Rocio Aleman und Ensemble © Stuttgarter Ballett
Stuttgarter Ballett / Die fantastischen Fünf - hier Or Noir und Rocio Aleman und Ensemble © Stuttgarter Ballett

Die gleiche Analyse dürften viele Besucher der Premiere auch in Bezug auf die letzte Arbeit des Abends treffen, auch wenn der Jubel für den scheidenden Haus-Choreografen Marco Goecke zumindest in manchen Ecken des Zuschauerraums orkanartige Dimensionen annahm und sich der etwas exzentrisch gebärdende, aber sichtbar gerührte Goecke einem regelrechten Blumenregen ausgesetzt sah. In der Tat polarisiert seine Tanzsprache auch in diesem letzten für das Stuttgarter Ballett geschaffenen Stück Almost Blue wohl wie die keines anderen zeitgenössischen Choreografen: Während die einen ob der konvulsivischen Zuckungen und der Tierwelt entlehnten Laut-Untermalungen verzückt und begeistert applaudieren, mögen andere eher verständnislos und ablehnend das Geschehen auf der Tanzbühne verfolgen. Zweifellos sind die von den vier Tänzerinnen und fünf Tänzern vorgeführten Bewegungen in ihrer Präzision äußerst bewundernswert, zumal die Beleuchtung, zusammen mit den von Thomas Mika geschaffenen Kostümen, für eindrucksvolle Momente und überraschende Effekte sorgt. Allerdings erschließen sich nicht alle der von Goecke eingesetzten Stilmittel und Kunstgriffe, sondern lassen den Berichterstatter an vielen Stellen eher ratlos und unberührt zurück.

Dieser natürlich sehr subjektive Eindruck schmälert indes die Kunst und Wirkung dieses abwechslungsreichen und spannungsgeladenen Ballettabends in keiner Weise. Und so sind Die fantastischen Fünf ein würdiges und bleibendes Vermächtnis des großen Tanz-Ermöglichers und Talente-Entdeckers Reid Anderson, dessen von ihm geförderte Choreografie-Talente mit ziemlicher Sicherheit weiter von sich reden machen werden – in Stuttgart und erst recht an anderer Stelle.

Die Fantastischen Fünf des Stuttgarter Ballett im Schauspielhaus; weitere Vorstellungen am 28. März, am 10., 21., 25. und 29. April sowie am 17. Juli 2018 im Stuttgarter Schauspielhaus