Stuttgart, Stuttgarter Ballett, CREATIONS IV - VI ~ Wasser, Sonne, Mond, IOCO Kritik, 29.02.2020
Stuttgarter Ballett | Oper Stuttgart
Creations IV bis VI - Stuttgarter Ballett
Botschaften - Aus dem Wasser - Von der Sonne - Vom Mond
von Peter Schlang
Nicht weniger als sechs Uraufführungen hat Tamas Detrich auf den Spielplan seiner zweiten Saison als Intendant des Stuttgarter Balletts gesetzt. Nachdem deren erste Hälfte im Herbst auf der „kleinen Ballettbühne“, jener des Schauspielhauses, das Stuttgarter Ballettpublikum in Begeisterung versetzt hatte, wurden die anderen drei Neuschöpfungen unter dem passend-programmatischen Titel CREATIONS IV – VI am 21. Februar 2020 auf der „großen Ballettbühne“, also im Opernhaus, präsentiert. Im Untertitel werden mit „Douglas Lee / Louis Stiens / Martin Schläpfer“ nicht nur die drei verantwortlichen Choreografen dieses Abends genannt, sondern für Kenner wird damit auch deutlich gemacht, dass diese aus drei unterschiedlichen Generationen stammenden Ballettschöpfer einen äußerst abwechslungsreichen, vielseitigen und spannenden Ballettabend, quasi ein choreografisches Drei-Gänge-Menü, kreieren würden.
Mit dem 42jährigen Douglas Lee, von 1996 bis 2011 als erster Solist Mitglied der Stuttgarter Compagnie, eröffnete der der mittleren Choreografen-Generation Angehörende diesen Uraufführungsreigen. Sein Naiad betiteltes Ballett nimmt Bezug auf die Wassernymphen der griechischen Mythologie und das 1830 entstandene Gedicht „Krake“ des englischen Lyrikers Alfred Lord Tennyson und möchte nicht nur die verschiedenen Eigenschaften des Wassers beleuchten, sondern vor allem die Mythen um dieses Element hinterfragen. Auf der Bühne selbst wird die Unterwasserwelt durch schwarze, in Wellenbewegung zu bringende Stoffbahnen an der hinteren Bühnenwand (Eva Adler) und eine Meerestiefen imaginierende, mystische Beleuchtung (Sakis Birbilis) angedeutet. Im Mittelpunkt steht aber der riesige schwarze Reifrock, mit dem Sinéad Brodd starke Assoziationen an eine Qualle erzeugt und der ihr ungeheuer weiche, fließende, auf- und ab wogende und weit ausladende Tanzbewegungen ermöglicht. Zudem nutzen Choreograf und Tänzerin das beeindruckende Kostüm für manch dramaturgische und tänzerische Überraschung, etwa wenn unter diesem „Rock-Zelt“ plötzlich ein anderer Tänzer hervorkriecht.
Um dieses die Fantasie anregende optische und choreografische Zentrum gruppieren sich in wechselnder Ensemblegröße weitere vier Tänzerinnen und fünf Tänzer, die in kraftvoll-artistischen wie weich-fließenden Bewegungen und Figuren und einer insgesamt sehr modernen Tanzsprache eine Wasserwelt simulieren, die mehr Schutz und Autonomie als Bedrohung und Lebensfeindlichkeit bietet.
Zusätzliche Bewegung und eine weitere Dimension erhalten die einzelnen Szenen Naiads durch die neun sich vertikal und um sich selbst bewegenden, aus dem Bühnenhimmel herunterragenden Spezialscheinwerfer, die nicht nur oft selbst regelrecht in Tanz geraten, sondern als modernes theatralisch-dramaturgisches Mittel der Szene etwas Futuristisch-Unwirkliches verleihen. Zudem lassen sie im Betrachter das Gefühl entstehen, (auf den Meeresboden) zu sinken.
Alle diese Effekte werden durch die von Douglas Lee ausgewählte, höchst emotionale Musik verstärkt. Im ersten Teil ist dies die von dem australischen Komponisten Sávva geschaffene Auftragskomposition Corallina, in der nicht nur die von Gustavo Surgik virtuos gespielte Solo-Violine und das mit ihr häufig dialogisierende Klavier für erstaunliche Effekte sorgen. Das ausgesprochen tänzer/innenfreundliche Werk nimmt den Hörer auch durch den fantasievollen Einsatz diverser Rhythmus- und Perkussionsinstrumente für sich ein.
Als zweites Musikstück greift Lee auf das 2011 veröffentlichte Stück Algol Bloom des vor allem als Filmkomponisten bekannten Briten Joby Talbot zurück, das ebenfalls das Schlagwerk im Stuttgarter Staatsorchester stark beschäftigt und die Lebensenergie des Wassers klangsinnlich verdeutlicht. Mit prächtig-metallenem Wirbel und fetzigem Drive werden die so selbst in Schwingung gebrachten und bereits heftig begeisterten Zuschauerinnen und Zuschauer in die erste Pause entlassen.
Das zweite Drittel dieses abwechslungsreichen Ballettabends lag in den Händen des jüngsten der drei mitwirkenden Choreografen, des als Halbsolist in der Stuttgarter Compagnie aktiven Louis Stiens.
In seinem Beitrag Messenger, für den er auch die Bühne und die Kostüme der zehn Tänzerinnen und sieben Tänzer entwarf, verfolgt er die so unterschiedlichen Reaktionen von Menschen auf einen aus einer anderen Sphäre gekommenen Boten, der in wechselnder Gestalt und Sendung auftreten kann. Ausgangspunkt für Stiens‘ Ideen und Botschaften war nach seinen eigenen Aussagen die dafür von ihm ausgewählte Musik, das 2017 im Auftrag des Bayerischen Rundfunks entstandene und der Geigerin Isabelle Faust gewidmete „Follow me“ des in Prag geborenen Komponisten Ondrej Adámek. Dieses dreisätzige Violinkonzert, den Solopart hatte dieses Mal Elena Graf übernommen, thematisiert die Beziehung einer Gruppe zu einem Individuum oder Solitär, die sich in ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen und Reaktionen äußern kann.
Mit seinen wechselnden Stimmungen und seinem rhythmisierenden, akzentreichen Duktus liefert „Follow me“ Stiens die perfekte Grundlage für seine höchst akkurate, körperlich-akrobatische Bewegungssprache. Diese beansprucht den gesamten Körper der Tanzenden, von denen Elisa Badenes und Jason Reilly häufig solistisch agieren, die aber auch dem Rest des Ensembles Einiges an Artistik, Körperbeherrschung und Synchrongefühl abverlangt. Ob in kleineren Formationen oder als gesamtes Ensemble im Einsatz, gelingen den Tänzerinnen und Tänzern zumindest anfangs beeindruckende Charakter- und Bewegungsstudien, die ihre Wirkung vor allem aus der großen Vielfalt an Tanz- und Ausdruckselementen und dem mitunter atemberaubenden Tempo der Musik bezieht. So liefert der Choreograf Studien in einer Art Pinguin-Gang oder im stakkatohaften Takt von Maschinen und lässt seine Kolleginnen und Kollegen puppen- und marionettenartige Bewegungen ausführen.
In den ersten zwei Sätzen von Adámeks Musik vermag das alles die Zuschauer zu fesseln und vermittelt auch einen interessanten Überblick über die dem zeitgenössischen Ballett zur Verfügung stehenden Tanzstile und Bewegungstechniken. Spätestens im letzten Teil verliert dieser Ansatz aber etwas an Wirkung und Reiz und fällt gegenüber dem Bisherigen durch das nun hinreichend Bekannte und häufig Redundante ab. Eine Entwicklung findet jetzt nur noch in der Musik statt, was nicht nur der Komposition, sondern in erster Linie dem auch hier fabelhaft aufspielenden Staatsorchester unter der bewährten Leitung seines Ballett-Dirigenten James Tuggle zu verdanken ist.
Das Publikum zeigte sich trotz dieser leichten Trübung von der neuen Arbeit eines seiner Lieblinge sehr angetan und spendete diesem, der ihn kongenial unterstützenden Licht-Designerin Tanja Rühl sowie dem gesamten Ensemble begeisterten Beifall.
Stuttgarter Ballett - Tamas Detrich und der Arbeitsalltag youtube Trailer des Stuttgartr Ballett [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Mit großen Erwartungen sah man nach der zweiten Pause auch dem letzten Teil des Abends entgegen, wofür neben seinem prominenten Namen vor allem die Tatsache sorgte, dass der hierfür gewonnene Schweizer Choreograf Martin Schläpfer nur zwei seiner bisher über 70 Arbeiten für Compagnien außerhalb seiner jeweiligen Wirkungsstätte geschaffen hat. Diese entstanden vielmehr fast ausschließlich für die Ballette in Bern, Mainz und Düsseldorf, von wo der jetzt Sechzigjährige im Sommer als Ballettdirektor an die Wiener Staatsoper wechseln wird. Dass Schläpfer für diese Aufgabe gut gerüstet ist und man sich in der österreichischen Hauptstadt uneingeschränkt auf ihn freuen kann, zumindest was seine schöpferische Meisterschaft betrifft, stellte er mit seinem über fünfundvierzigminütigen Beitrag, dem längsten dieses Stuttgarter Abends, eindrucksvoll unter Beweis. Für dieses von ihm versprochene und - das sei jetzt schon verraten - überzeugend realisierte „freudvolle Tanzfest“ als „Hommage an diese große Kompanie“ hatte Schläpfer mit Franz Schuberts 3. Sinfonie in freudvollem, hellem, heiterem D-Dur ein anspruchsvolles wie mitreißendes Konzertstück gewählt, das seinen Ansprüchen und Fähigkeiten als Vertreter der klassisch geprägten Ballettschule voll entgegenkam. Zu dieser Musik lässt er die neun Tänzerinnen und zehn Tänzer tatsächlich und wie von ihm versprochen „wie in ein Sommerhaus eintreten“ - „in kompletter Harmonie mit sich selbst“.
Mit einem Stück des zeitgenössischen japanischen Komponisten Toshio Hosokawa, dessen Oper Erdbeben.Träume im Juli 2018 in der Staatsoper Stuttgart ihre umjubelte Uraufführung erlebte, fügt Schläpfer dem Schubert’schen Sommerhaus aber gleichsam einen Keller oder ein Untergeschoss hinzu und bleibt damit seiner vielfach gerühmten Tiefgründigkeit treu. Diese Dialektik von Unten und Oben, hell und dunkel, Tag und Nacht findet sich auch in dem vom Choreografen für sein Stuttgarter Stück gewählten Titel wieder, Sonne und Mond, den er allerdings dem zweiten, japanischen Musikstück angepasst hat und in die viel leichter und musikalischer klingende japanische Fassung übersetzen ließ: Taiyo to Tsuki.
Das Staatsorchester unter seinem „großen Ballett-Versteher“ James Tuggle versieht dazu die Musik des erst siebzehnjährigen Franz Schubert mit strammen Tempi und trocken-klarem Klang, kurz, mit unbetonten, fast harschen Schlüssen und nahezu vibratofrei, sprich in historisch-informiertem Stil, was diese 3. Sinfonie auch für Liebhaber des „Originalklangs“ zu einem Fest werden ließ.
Dass es zu diesem auch uneingeschränkt für die Anhänger großer Tanzkunst wurde, war neben der alle Register des Spitzentanzes und anderer klassischer Ausdruckmittel ziehenden Choreografie-Kunst Schläpfers natürlich vor allem auch dem diesem bedingungslos folgenden Stuttgarter Ensemble zu verdanken. In größter Meisterschaft demonstrieren Miriam Kacerova, Hyo-Jung Kang, Anna Osadcenko, David Moore, Roman Novitzky und Friedemann Vogel, alles Erste Solistinnen und Solisten der Compagnie, sowie die anderen, hier aus Platzgründen nicht namentlich genannten, Ensemblemitglieder in Solo-Auftritten, als Paar und in unterschiedlichsten Gruppenformationen alle Bewegungsmöglichkeiten und Ausdrucksmittel, die sich das klassische Ballett über Jahrhunderte hinweg erarbeitet und angeeignet hat.
Dieses Leichte und Spielerische wird durch die Kostüme Florian Ettis unterstrichen, der die Tänzerinnen in leichte, weite Kleider und die Tänzer in ebenso bequeme weite Hosen und Shirts steckt; eine Art Haus- oder Freizeitkleidung, die auch eine gewisse ironische Distanz zu herkömmlichen klassischen Balletten schafft.
Freilich entspringt diese Leichtigkeit und dennoch vorhandene Tiefe von Schläpfers Entwurf auch der von ihm pausenlos verfolgten und sicht- wie hörbar gewordenen engen Beziehung zwischen seiner Choreografie und der diese begleitenden Musik, die zudem das Geschehen auf der Bühne nicht nur sensibel doppelt und unterstreicht, sondern auch einen gewissen inhaltlichen Bogen zum zuvor gezeigten Messenger von Louis Stiens schlägt.
Dass Martin Schläpfer dem modernen Tanztheater durchaus offen gegenübersteht und dieses gekonnt mit klassischen Stilmitteln und Elementen zu verknüpfen weiß, zeigt er im letzten Teil, also zur „Mond-Musik“ Hosokawas, die dessen Stück „Ferne Landschaft III“ entnommen ist. Hier bemerkt man bei deutlich herausgenommenen Tempi, teilweise wie in Zeitlupe, ganz neue, überraschende Figuren und Bewegungen in einer formenreichen, vielseitigen Tanzsprache, die einen tatsächlich in schlaf- oder traumhafte Stimmung versetzen. Ja, der Berichterstatter sah sich hier gar in Gefahr, (Mond)- und tanzsüchtig zu werden - Ballettkunst in höchster Vollendung!
Nach so viel Lob für die drei Choreografen und die deren Ideen in traumhafter Sicherheit umsetzenden Tänzerinnen und Tänzer sei abschließend noch einmal das (nicht nur) an diesem Abend fabelhafte Staatsorchester und sein Ballett-Dirigent James Tuggle dafür gelobt, dass und wie sie in einer einzigen Aufführung fünf so unterschiedliche, äußerst anspruchsvolle Stücke spielen, dazu nicht als rein akustisches Ereignis in einem Konzertsaal, sondern für Tänzerinnen und Tänzer, die dazu in ebenso anspruchsvollen wie unterschiedlichen Choreografien ihr Bestes geben müssen.
Dafür, dass dies ausnahmslos überzeugend, ja begeisternd gelang, ernteten alle Beteiligten nach jedem der drei Teile des Abends - und an dessen Ende nochmals zusammengefasst und verstärkt – uneingeschränkten Beifall, ja großen Jubel.
Creations IV - VI des Stuttgarter Ballett - weitere Vorstellungen am 29.02.; am 03., 19., 25., 29. 03.; am 08., 11. 04.; am 22., 23. 07. 2020
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