Stuttgart, Staatstheater Stuttgart, Nixon in China - Oper von John Adams, IOCO Kritik, 16.04.2019
Nixon in China - Oper von John Adams
Darf man glauben? Wem kann man glauben? - Die Konstruktion und Dekonstruktion von Wirklichkeit
von Peter Schlang
Am Sonntag, dem 7. April 2019 erlebte an der Stuttgarter Staatsoper John Adams‘ im Jahr 1987 in Houston, Texas, uraufgeführte Oper Nixon in China ihre Stuttgarter Erstaufführung. Dies war zugleich deren erste deutsche Neu-Inszenierung seit vielen Jahren; nach der Uraufführung von Leo Dicks Antigone-Tribunal am 9. März und der Premiere von Hans Werner Henzes Der Prinz von Homburg am 17. März die dritte Neuproduktion im Rahmen des ersten Frühjahrsfestivals der Staatsoper Stuttgart mit dem Titel „wirklich wirklich“. Alle drei Opern widmen sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise und in je eigenen Zusammenhängen der Frage nach der „Konstruktion und Dekonstruktion von Wirklichkeit“, setzen sich also mit der möglichen Beeinflussung und der unterschiedlichen Wahrnehmung der Realität auseinander.
Nixon in China - Oper von John Adams youtube Trailer der Staatsoper Stuttgart [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Mit der Neuproduktion von Adams‘ stark an der Minimal-Music orientierter Oper nahm die Staatsoper Stuttgart ihre Tradition der Minimal Music wieder auf, die in den 1980er-Jahren mit der gefeierten Philip-Glass-Trilogie (Einstein on the Beach, Satyagraha und Echnaton) begründet wurde und gleich einen Höhepunkt erlebte.
Das für John Adams von Alice Goodman verfasste Libretto thematisiert, recht frei und auf sehr poetische Weise, den seinerzeit stark beachteten Staatsbesuch von Richard Nixon im Februar 1972 in der Volksrepublik China, den ersten eines amerikanischen Präsidenten im Reich der Mitte. Nixon, von 1969 bis zu seinem erzwungenen Rücktritt im Jahr 1974 der 37. Präsident der Vereinigten Staaten, nutzte diese Visite im damals noch ziemlich unbekannten, kommunistischen China für eine groß angelegte mediale Kampagne. Der Besuch wurde nämlich zu weiten Teilen live im amerikanischen Fernsehen übertragen und war damit eines der ersten medial ausgeschlachteten politischen Geschehnisse der Nachkriegszeit.
Im Zentrum dieses höchst aktuellen Werkes und seiner Stuttgarter Umsetzung steht die im Zeitalter von Fake News und deren momentan wichtigsten politischen Vertreters, ebenfalls ein US-Präsident, die Frage, wem man glaubt oder - noch besser - überhaupt glauben kann. Und in Richard Adams erster und wohl bekanntester Oper wird diese bedeutsame Frage gleich auf mehrfache Weise behandelt.
"wirklich, wirklich" - Frühjahrsfestival der Staatsoper Stuttgart - Wahrheit, Wahrheiten oder Fake -
Da sind zum einen die zwei diametral entgegengesetzten Weltanschauungen der aufeinandertreffenden Staaten bzw. ihrer politischen Führer und deren unterschiedliche Methoden, sich der eigenen und der jeweils anderen Öffentlichkeit real zu präsentieren. Eine weitere Ebene widmet sich den methodischen und didaktischen Mitteln, mit denen die subjektiv wahrgenommenen Realitäten weiter transportiert und damit interpretiert werden. Schließlich zeigt die Oper auch die meist befremdliche, so nicht erwartete Reaktion der „anderen Seite“ auf die wahrgenommene, vom Gegenüber präsentierte „Wirklichkeit“.
In Marco Štormans quirliger, zugespitzter, sich aller theatralischer Mittel bedienender Inszenierung mischt sich dies alles zu einem äußerst dynamischen, höchst unterhaltsamen und nicht selten musicalhaften, revueartigen Kaleidoskop menschlicher Verhaltensmuster und politisch-gesellschaftlicher Methoden, ja Tricks. Die Bühnenbildnerin Frauke Löffel baute dazu einen durch metallene Module schnell veränderbaren Raum, der eingangs den Flughafen mit Nixons Ankunft und Empfang, dann die große Bühne für publikumswirksame Massenauftritte und Projektionsfläche für im Propagandastil gehaltene Gemälde oder Video-Einspielungen darstellt.
Und ganz am Ende, im nur mehr aus einem Bild bestehenden dritten Akt und bei geschlossenem Orchestergraben und der damit bis an die erste Zuschauerreihe vorgezogenen Bühne, bietet diese trotz ihrer scheinbaren Größe Raum für ein Kammerspiel. Dieses erinnert nicht nur thematisch-inhaltlich an Becketts Referenzstück Endspiel, sondern weist auch durch seine eigenartige Stimmung und Atmosphäre eine Parallele zu diesem und anderen Beckett-Stücken auf. Mit entscheidend dafür ist die zu sehende besondere Personen-Konstellation, die eine starke und nachhaltige Wirkung entfaltet: Am letzten Abend des Staatsbesuchs sehen wir die sechs Protagonisten, aus jedem Land drei, nach den vergangenen, sehr anstrengenden Tagen müde, ausgelaugt, leer. Einzeln oder als Paar sinnen sie dem Erlebten und ihrer eigenen Vergangenheit nach, beides ganz unterschiedlich reflektierend. Ihnen zur Seite, wie die Darsteller der sechs Hauptrollen eher freizeitmäßig gekleidet, sitzen die Souffleuse und der Dirigent, André de Ridder, der nur die Sängerinnen und Sänger dirigiert. Denn das Orchester wird - übrigens mit Hilfe einer hervorragenden Tonanlage - aus dem Off eingespielt, was die Anmutung dieser Schlussszene als Versuchsanordnung oder Probedurchlauf auf beeindruckende Weise unterstreicht.
Solche schicksalshaften, ganz unterschiedlichen Spiel-, Kommunikations- und teilweise auch Kampfmodelle stellt das einfallsreiche Regieteam, zu dem neben den bereits zwei Genannten auch die Kostümbildnerin Sara Schwartz, die Choreografin Alexandra Morales und die für die Licht- bzw. Videoregie verantwortlichen Reinhard Traub und Bert Zander gehören, im Verlauf dieser kurzweiligen 180 Minuten immer wieder gekonnt und höchst theaterwirksam zur Schau. Dabei meidet es allzu klischeehafte, übertriebene Anspielungen auf chinesische und amerikanische Stereotype und beschränkt sich auf eher dezente, zeitlose Hinweise auf die jeweiligen Charakteristika der aufeinandertreffenden Gesellschaften und Ideologien. Dazu gehören etwa die mit dem Flugzeug zu Boden sinkenden Ausgaben des Time Magazins mit dem Konterfei des Gastgebers Mao Tse-Tung und die im Gegenzug an die Gäste verteilten Mao-Bibeln.
Auch die Paraden der Revolutionsgarden und sonstigen Abordnungen der chinesischen Volksmassen, die meist in eher stilisierten, zeit- und sogar ideologie-übergreifender Kleidung auftreten, passen in diese Kategorie. So trägt der chinesische Ministerpräsident Chou en-Lai einen Overall, wie er auch einen Militärangehörigen aus Nixons Begleittross gut kleiden würde. Auch mittels solcher Kniffs liefert dieser Opernabend deutliche Hinweise auf sein Thema, die unterschiedliche Deutung und Wahrnehmung scheinbar gleicher Ereignisse, und vermag so das Stuttgarter Publikum hautnah an das Spiel mit Information und Desinformation, Hoffnungen und Versprechungen, Illusion und Desillusionierung heranzuführen.
Großen Anteil daran hat auch Adams‘ geniale Musik, die höchst artistisch mit den Phänomenen Rhythmus und Zeit spielt, welche ja einen wichtigen Aspekt der Wahrnehmung und Beurteilung von Erlebtem darstellen. Dabei setzt Adams nicht nur die bekannten Elemente der Minimal Music wie Patterns, Klang- und Melodie-Muster, Wiederholungen mit kleinsten Veränderungen von Tonfolgen und Harmonien sowie Rhythmusverschiebungen äußerst gekonnt ein. Er variiert diese Zutaten auch noch ständig und verwebt sie so kunstvoll miteinander, dass der Zuhörer jegliches Zeitgefühl verliert und sich immer wieder entrückt und wie in Trance fühlt.
Dazu tragen auch die musikalischen Quellen des 1947 geborenen Komponisten bei, der nie ein Geheimnis daraus macht, dass er in allen Epochen und Stilrichtungen zu Hause ist und nicht zufällig gern Werke älterer Komponisten neu arrangiert. So erlebt man in „Nixon in China“ einen mitreißenden Stilmix aus Barock, Romantik, Klassik und (klassischer) Moderne, ja Adams bedient sich sogar der Kirchenmusik. Schließlich zitiert er auch folkloristische Elemente aus ganz verschiedenen geografischen Ecken und scheut selbst vor der Übernahme süffiger, manchmal fast kitschiger Abfolgen aus der Popularmusik nicht zurück. All das wirkt zeit- und mühelos, auch weil der Komponist völlig spielerisch und häufig unbemerkt von einem Genre oder Rhythmus in ein anderes Feld wechselt. Sein Einfallsreichtum scheint dabei nahezu unerschöpflich, und die daraus resultierenden ständig changierenden, swingenden und groovenden Rhythmen wirken nie langweilig und ermüdend.
Der 1971 geborene deutsche, vorwiegend in England arbeitende Dirigent André de Ridder nimmt sich dieser Musik kongenial wie begeistert an und führt das hoch motivierte und äußerst konzentriert aufspielende Stuttgarter Staatsorchester wieder einmal zu einer bewunderten, nicht erst am Schluss bejubelten Höchstleistung. Der seit Beginn dieser Spielzeit unter neuer Leitung agierende Staatsopernchor - für diese Produktion hat sie der stellvertretende Chordirektor Bernhard Moncado inne - ist das zweite herausragende Kollektiv dieses Abends. Ohne Unterschied auf seine jeweilige Besetzung und die gerade zu verkörpernden Rollen präsentiert sich der Chor wieder einmal in Höchstform und zeigt sich nicht nur stimmlich total flexibel. Denn diese Beweglichkeit benötigen die Choristen auch in darstellerischer Hinsicht; das einige Male so ausufernd, dass sie den Zuschauerraum zur Bühne machen und Agitationsgesänge von den Rängen des Opernhauses schmettern.
Nixon in China - Probeneinblicke mit Marco Storman youtube Trailer der Staatsoper Stuttgart [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
An diese fabelhafte Leistung schließt sich die des neunköpfigen Solistenensembles ohne jeden Abstrich auf höchstem Niveau, an. An vorderster Stelle stehen dabei der stimmgewaltige und auch darstellerisch für diese Rolle wie geschaffene amerikanische Bass-Bariton Michael Mayes als Richard Nixon und der nicht minder phänomenale und großartige Sänger-Darsteller Matthias Klink als oft philosophisch-weltabgewandter Parteichef Mao Tse-Tung. Ihre Auftritte und erst recht Bühnen-Begegnungen ermöglichen im Sinne der mehrfach erwähnten Konstruktion und Wahrnehmung von Realitäten eindrucksvolle Studien und Erkenntnisse und bieten dazu hohen musikalischen Genuss.
Katherine Manley als Nixons Frau Pat und Gan-ya Ben-gur Akselrod als Mao Tse Tungs Gemahlin Chiang Ch'ing verkörpern äußerst differenziert und glaubhaft sowohl in sängerischer als auch in schauspielerischer Hinsicht die Arroganz und Widersprüchlichkeit ihrer Rolle als jeweilige First Lady. Im Zusammenspiel mit ihrer Gegenspielerin haben diese beiden Protagonistinnen zudem überragenden Anteil daran, dass das Thema der Oper und ihrer Stuttgarter Realisierung am Sonntagabend so glaubhaft, wirklichkeitsnah und ohne Bruch auf der Opernbühne zu erleben war.
Auch die politischen Begleiter der beiden Staatsoberhäupter bzw. ihre Darsteller tragen ihren Teil zum großen Erfolg dieser außergewöhnlichen Opernproduktion bei. Auf „chinesischer Seite“ ist das der von Jarrett Ott äußerst facettenreich und systemgetreu gesungene Ministerpräsident Chou En-lai, der im lokal denkenden Betrachter große Freude aufkommen ließ, dass dieser begnadete Sänger zum festen Ensemble der Stuttgarter Oper gehört. Dies gilt auch für den schon lange in Stuttgart wirkenden Kammersänger Shigeo Ishino als Nixons Berater Henry Kissinger, dem späteren Außenminister der USA, dessen Rolle und Auftrittszahl allerdings bedeutend knapper ausfällt als die des übrigen bereits erwähnten Hauptpersonals. Dennoch haben beide Sänger wie ihre Verkörperungen hohen Anteil daran, dass nicht nur ihre jeweiligen Vorgesetzten und deren Gattinnen, sondern auch das Stuttgarter Premierenpublikum immer wieder erfolgreich in die jeweiligen Utopie-Biotope entrückt werden. Dafür sorgen „unter chinesischer Flagge“ schließlich auch die drei Sekretärinnen Maos, die von Ida Ränzlöv, Fiorella Hincapié und Luise von Garnier stimmsicher und ideologie-konform, stellen- und zeitweise aber recht folkloristisch auf die Bühne und unters nicht nur chinesische Volk gebracht werden.
Nach fast vier höchst abwechslungs- wie erkenntnisreichen Stunden erbebte die Stuttgarter Oper von einem ähnlichen Jubelsturm, wie er vor über dreißig Jahren dem eingangs erwähnten Glass-Zyklus entgegengebracht wurde. Er galt ausnahmslos allen Beteiligten auf, unter, vor und hinter der Bühne, hielt viele Minuten an und wurde nur beim Auftritt des Regie-Gespanns von ganz vereinzelten, dazu nur schüchternen und fast unhörbaren Buhs vergeblich zur stören versucht.
Nixon in China, Oper von John Adams, die weiteren Vorstellungen: 20. April, 03., 09. 11. Mai 2019
---| IOCO Kritik Oper Stuttgart |---