Stuttgart, Staatsoper Stuttgart, SAINT FRANCOIS d´ASSISE - Olivier Messiaen, IOCO Kritik, 16.06.2023
SAINT FRANCOIS d´ASSISE - Olivier Messiaen
Natur und Kunst statt Religion und Glaube - Olivier Messiaens Mammutwerk im Opernhaus und im Stadtraum. Regisseurin Anna-Sophie Mahler fürchtet dabei jeglichen christlichen Bezug und verschenkt so eine glänzende Gelegenheit, in Zeiten von Umwelt- und Klimakrise die Rolle von Religion zu hinterfragen.
von Peter Schlang
Passanten bot sich am Sonntagnachmittag um das Stuttgarter Opernhaus und später auch in der Stadt ein ungewohnter Anblick: Über tausend Menschen in Freizeitbekleidung und mit Wanderschuhen, Rucksäcken und Sonnenhüten ausgestattet, ließen eher an eine riesig besetzte Wandergruppe des Schwarzwaldvereins oder der Naturfreunde als an das Publikum einer Opernpremiere denken. Dabei hatten in diesem Fall beide Zuordnungen ihre Berechtigung, denn der Ausflug in die Stadt und die Natur sind Teil des Regiekonzepts für Olivier Messiaens monumentale „Oper“ Saint François d’Assise, also Franz von Assisi, welche am Sonntag, dem 11. Juni 2023 an der bzw. - hier passender - durch die Staatsoper ihre Stuttgarter Erstaufführung erlebte.
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Dass dieses 1983 uraufgeführte Werk der französischen Komponisten-Ikone Messiaen erst so spät an den Neckar kam und es überhaupt bisher auf eine recht überschaubare Zahl von Inszenierungen brachte, dürfte nicht an seiner musikalischen Qualität liegen. Immerhin ist Saint François d’Assise eines der interessantesten Stücke der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eines der Schlüsselwerke des zeitgenössischen Musiktheaters. Der Hauptgrund für seine eher geringe Aufführungsfrequenz dürfte vor allem am immensen organisatorischen, logistischen und damit nicht zuletzt auch finanziellen Aufwand für eine Realisation liegen, denn 115 Mitwirkende im Orchester mit einem außergewöhnlich mächtigen Instrumentarium allein schon in der Perkussionsgruppe und fast 100 Chor-Sänger-innen und -sänger sprengen für viele Opernhäuser die Grenzen des Machbaren.
Dass die Stuttgarter Oper dieses Werk nicht nur als Saisonhöhepunkt auf ihren Spielplan gesetzt hat und es dabei auch nicht in den Mauern des Opernhauses belässt, sondern es in die Stadt hinein- und vor allem in die Natur hinausträgt, kann nicht genug gewürdigt werden. Vom Ende her betrachtet, erweist sich dies, vor allem bei solch fantastischem Wetter wie am Premierensonntag, als Glücksgriff und geniale Idee.
Dabei ist Saint François d’Assise streng genommen gar keine richtige Oper, denn dazu mangelt es ihr vor allem an einer opernhaften Handlung, was sich auch im Fehlen von Dialogen, Arien oder anderen typischen Opernmerkmalen zeigt. Und tatsächlich nennt Messiaen sein Werk im Untertitel auch „Scénes franciscaines“, also „franziskanische Szenen“. Unter musiktheoretischen bzw. -ästhetischen Gesichtspunkten ist das fast fünfstündige Werk am ehesten wohl der Gattung Oratorium zuzuordnen. Dafür spricht nicht zuletzt Messiaens unüberseh- und unüberhörbare und an vielen Stellen geradezu überbordende Glaubensüberzeugung. Sie speist sich aus einem unerschütterlichen, heute fast barock anmutenden Katholizismus, der wohl selbst den meisten der sich noch zum Glauben und zur Kirche Bekennenden ziemlich fremd geworden sein dürfte.
In drei Akten und acht von seinem Schöpfer, von dem auch das Libretto stammt, mit dem französischen Wort für Bilder als Tableaus bezeichneten Teilen beschreibt das Mammutwerk Erwählung, Leben und Vollendung des im umbrischen Assisi geborenen und dort auch hauptsächlich wirkenden „Umweltheiligen der Katholischen Kirche“, der längst zu einer Symbolfigur der Umwelt- und Klimaschutzbewegung und damit auch für nicht unbedingt gläubige Menschen hochstilisiert wurde. Dabei orientiert sich der komponierende Librettist weniger an der historischen Dimension seines Protagonisten, sondern vertraut viel mehr den unzähligen Legenden und den diese für die Nach- und Kunstwelt überliefernden Gemälden und Andachtsbildchen.
Vielleicht ist es die dadurch entstandene Ausblendung des Menschlichen, auch Konfliktbeladenen und die daraus resultierende Überhöhung der Titelfigur ins allzu Heilige, Überirdische, welches die Regisseurin Anna-Sophie Mahler und ihr Ausstattungsteam (Bühne und Raum: Katrin Connan, Kostüme: Pascale Martin, Video: Georg Lendorff, Licht: Bernd Purkrabek) zu dem Paradox verleiteten, in diesem (Glaubens-)Bekenntnis eines überzeugten, von jeden Zweifeln freien (Erz-) Katholiken auf jegliche christliche, ja religiöse Symbolik zu verzichten. Die Stuttgarter Verantwortlichen, zu denen man noch den Dramaturgen Ingo Gerlach zählen muss, setzen bei ihrer Inszenierung stattdessen ganz auf Naturphänomene sowie auf in den Kontext der Natur passende Zitate aus der bildenden Kunst. Zur ersten Kategorie gehören der Ersatz des Engels durch ein unbestritten schön anzusehendes Insekt - Libelle oder Glanzkäfer? - vor allem, wenn dies auf dem Fußweg im ersten Bild des zweiten Aktes unvermittelt in der sommerlich blühenden und duftenden Landschaft auftaucht - sowie das hervorragend gemachte Video der Verwandlung einer Larve in eine Libelle im Schlusstableau. Dort wiederholt sich bei der Bestattung von Franziskus auch das Zitat von Josef Beuys‘ berühmter Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“, das gleich zu Beginn des Nachmittags das Publikum auf den kunst- und vor allem umwelt-pädagogischen Pfad der Inszenierung hatte führen wollen: Mit der gleichen Erde, mit der François und seine ersten Brüder einen toten Hasen bedecken und damit zum Pflanzbeet für gesund aufwachsende (Tomaten-) Pflanzen vorbereiten, wird der Leichnam des Heiligen und wohl „ersten Grünen“ bedeckt und somit der Erde zurückgegeben.
Das mag zu den Vorstellungen vieler Menschen von einer intakten Kreislaufnatur passen, geht jedoch an der zutiefst religiösen Einstellung und entsprechenden Absicht Messiaens weit vorbei. Das gilt auch oder sogar erst recht für die Entscheidung der Regie, die im siebten Tableau von Franziskus fast ständig gehörte, seine eigentlich vorgesehene, hier aber nicht erfolgende Stigmatisierung begleitende und vom fast hundertstimmigen Chor symbolisierte Stimme Jesu durch einen sog. Blob verkörpern zu lassen. Das ist ein in der so artenreichen Natur noch immer geheimnisvoller, kaum erforschter Einzeller, dessen Darstellung durch ein überdimensionales Stoffgeflecht aber immerhin dramaturgischen Reiz entfaltet.
Aber leider – oder soll man sagen „Gott sei Dank“? – trägt die Angst, ja Kapitulation der Regie vor der religiösen Wucht und transzendenten Hoffnung Messiaens nicht bis zum Schluss, denn die Himmelfahrt des Protagonisten gerät (Obwohl er dazu in die oben beschriebene Libelle verwandelt wird.) in ihrer Aktion und erst recht durch die dazu aufgewandte Beleuchtungsorgie zu einer, wenn auch ziemlich verkitscht-süßlichen Apotheose, die aber zumindest traditionell eingestellte und bibeltreu glaubende Christinnen und Christen in Verzückung geraten lassen und ihnen einen für sie realistischen Vorgeschmack auf das ewige Leben vermitteln dürfte.
Diese Trübungen durch das Regiekonzept des Saint François d’Assise und seiner Umsetzung verdienen an diesem Nachmittag und Abend allerdings eher eine Randnotiz, denn die eigentlichen Stars dieses von Messiaen und seiner Kompositionskunst geprägten Stuttgarter Sonntagsdrittels sind die großartige, über weite Strecken überwältigende Musik und ihre nicht minder phänomenalen Ausführenden. Diese überzeugen von den ersten Takten des ersten Aktes, für den im Opernhaus der Orchestergraben hochgefahren wurde. Auf der so entstandenen riesigen Bühne finden sich in oratorischer Aufstellung sowohl der Chor als auch das Staatsorchester wieder. Vor diesen hinreißend agierenden Kollektiven und neben ihrem charismatischen, über die gesamte Dauer der Aufführung die Fäden in der Hand behaltenden Dirigenten Titus Engel „bewegen“ sich die Solisten dieser ersten drei Tableaus. Das ist vor allem der überragende, sage und schreibe sechs der sieben Tableaus bestimmende fabelhafte, ja überragende Bariton Michael Mayes‘, dessen große Kunst nicht zuletzt darin besteht, seine langen und an dramatischen Wendungen sowie stilistischer Dynamik armen Monologe nicht ins Belanglose und Monotone abrutschen zu lassen. Dank seiner in allen Registern sicheren, mit zartem Schmelz wie mit bassiger Robustheit ausgestatteten Stimme gerät seine Deklamation nie in Gefahr, langweilig zu werden. Nicht minder stupend und mitreißend agiert die Darstellerin der einzigen weiblichen Solistenrolle dieses Stücks, die famose, mit ihrem wirklich engelhaften Sopran die Zuhörer nah ans Paradies heranführende Beate Ritter als den Franziskus bestätigenden und ihn am Ende auch (stimmlich) ins Paradies geleitenden Engel.
Überragend auch Moritz Kallenberg, dessen sängerische Leistung umso bewundernswerter ist, als der von ihm verkörperte Aussätzige wie ein textiler Zellklumpen daherkommt, bei dem man sich nicht nur fragt, wo die einzelnen Körperteile zu suchen sind, sondern vor allem, wie und wo der Sänger seine Atemluft herholt. In weiteren Rollen überzeugen nicht nur im ersten Akt, sondern auch in den folgenden fünf weiteren Tableaus Danylo Matviienko, Elmar Gilbertsson, Marko Spehar, Elliot Carlton Hines und Anas Séguin als Gefährten und Mitbrüder von Franziskus. Der erst beim Schlussapplaus auf der Bühne erscheinende Gerhard Siegel tritt darstellerisch gar nicht in Erscheinung. Er leiht aber im vierten Tableau „Der wandernde Engel“, welches das dazu zum Killesberg wandernde Publikum auf MP3-Playern in der Natur hört, dem ziemlich aus dem franziskanischen Ideal fallenden, da recht groben Vikar des Klosters, Bruder Elie, seine Stimme.
Diese Wanderung, zu der die fast 1400 BesucherInnen in 20 verschiedene Vogelgruppen eingeteilt werden, ist zumindest vom (Natur-) Erlebnis her sicherlich ein Höhepunkt dieser Produktion. Sie führt vom geschäftigen, an Verkehr nicht gerade armen Pragsattel bzw. Löwentor durch den zur Internationalen Gartenschau 1993 geschaffenen wunderbaren Wartberg-Park mit seinen zahlreichen Teichen, Wäldchen und Wiesen in Serpentinen hinauf zum Höhenpark Killesberg. Egal, ob man die 35 Minuten lange, exzellent eingespielte Tonkonserve im Gehen oder, wie der IOCO-Rezensent es vorzog, auf einer schattigen Bank im Sitzen und am Stück hört, in jedem Fall gehen Messiaens Musik und die überall zu vernehmenden „echten“ Vogelstimmen, aber auch die sonstige, so üppig blühende und vor Leben strotzende sommerliche Natur eine beglückende Symbiose ein. Sie würde nicht nur den Natur- und Vogelfreund Messiaen über alle Maßen erfreuen, sondern beweist auch, dass das Konzept dieser Aufführung absolut richtig, ja ein Glücksfall ist.
Dieser Eindruck setzt sich auch auf der Freilichtbühne fort, wo inzwischen, unterstützt durch die nötige Übertragungs- bzw. Verstärkungstechnik, der gesamte Orchesterapparat aufgebaut wurde und gegen 18 Uhr mit dem fünften und sechsten Tableau der zweite Akt fortgesetzt wird. Hier wird nicht nur der bereits angedeutete Eindruck von der überragenden musikalischen Qualität bestätigt, sondern das intensive musikalische Erlebnis erfährt durch den nun im 360 Grad-Modus hörbaren Gesang der Stuttgarter Vogelwelt eine weitere Steigerung. So wird man etwa bei Franziskus‘ Vogelpredigt musikalisch um ein Vielfaches dafür entschädigt, dass sich die Regie hier geradezu franziskanisch-asketisch einer bildhaften Unterstützung enthält. So sehen etwa die dazu auf ein zentrales Podium getragenen Vogelstelen zwar aus der Nähe hübsch aus, haben aber darüber hinaus keinen dramaturgischen Mehrwert und bleiben zudem einer der wenigen Regieeinfälle an diesem Spielort.
Da ist es am besten, wenn man beim Hören von Franz‘ Vogelpredigt und der dabei erklingenden, nicht in menschliche Worte zu fassenden zwei Vogelkonzerte, die sich auf der Freilichtbühne auf wunderbare Weise mit dem Gesang der echten Vögel vermischen, entweder den Blick in die sommerliche Natur schweifen lässt oder aber die Augen schließt. So kann man sich ungestört der Klangmagie, ja dem Klangwunder hingeben, das Messiaen erschaffen und Titus Engel(!) und seine himmlisch musizierende Gefolgschaft so betörend in unsere Ohren fließen lassen. Und dann spürt man vielleicht auch und erneut, wie musikalisch unfassbar das alles ist - so wenig greifbar wie unsere Vorstellung vom Paradies, Eine Ahnung davon stellt sich in diesem Moment und an diesem Ort aber auf jeden Fall ein!
So eingestimmt, bricht die riesige Pilgerschar gespannt wieder in Richtung Innenstadt auf und nimmt diese musikalischen Wunder-Empfindungen mit ins Opernhaus, wo zu den beiden letzten Tableaus der Orchestergraben geöffnet wurde, in dem freilich nicht das gesamte Riesenorchester Platz findet. Ein Teil, vor allem des gewaltigen Perkussionsapparates mit allein drei Marimba- bzw. Vibraphonen sowie drei der von Olivier Messiaen sehr geschätzten und immer wieder eingesetzten Ondes Martenot, einer Art Vorläufer des Synthesizers, wird vom Probenraum des Orchesters zugespielt. Akustisch und von der dramatischen Wirkung schadet dies dem allerhöchsten musikalischen Niveau dieser Produktion nicht. Ja, Titus Engel und seinem Kollegen Manuel Pujol, der den wiederum fabelhaft agierenden Chor und Extra-Chor bestens vorbereitet hat und bei dessen Auftritt im Freien auch unterstützend leitet, gelingt das nach den vorangehenden Leistungen und Klangerlebnissen nicht Selbstverständliche, den Spannungsbogen bis zum, dem Komponisten etwas langatmig geratenen, Schluss zu halten.
So ist dann auch der kaum enden wollende Beifall, ja frenetische Jubel verständlich und verdient, mit dem sich das Premierenpublikum, in dem sich erfreulich viele jüngere Musikfreundinnen und Musikfreunde befinden, für diese längste und wohl auch aufwändigste Stuttgarter Opernproduktion bedankte.
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Hinweis: Aufführungsbeginn jeweils um 14 Uhr. Die Vorstellungen enden i. d. R. gegen 22 Uhr.