Stuttgart, Staatsoper Stuttgart, L`ORFEO - Claudio Monteverdi, IOCO Kritik, 04.08.2022
L`ORFEO - Claudio Monteverdi
Perspektiven-Flash im Fabrik-Club oder: Der Styx liegt am Pragsattel Ausklang der Spielzeit : Monteverdis „Orfeo“ im Club Wizemann als Stationen-Theater
von Peter Schlang
Kokett und mit den Augen zwinkernd lächelt Eurydice / La Musica bzw. deren famose Sängerin-Darstellerin Josefin Feiler dem Rezensenten zu, während sie über zwei große Stufen auf ein gerade mal drei Meter entferntes Podest steigt. Dreißig Minuten später kann bzw. könnte - wenigstens der weiter vorne stehende Teil des Publikums - seine Hände auf den Laufsteg legen, den Jil Bertermann für das Fest gebaut hat. Auf ihm gibt La Musica, die Muse der Musik, Orfeo, von Moritz Kallenberg zwei Stunden lang mit enormer Energie und großer Stimmkultur überzeugend und lebensnah dargestellt, die gern und eindrucksvoll genutzte Chance, von seinem erlebnisreichen Leben als Sachwalter des Gesangs, ja, der Musik zu erzählen.
Diese und noch viele andere für eine Oper eher ungewöhnliche Einblicke und Erfahrungen ermöglicht die Inszenierung von Claudio Monteverdis erster Oper L’Orfeo, mit der die Stuttgarter Staatsoper am vorletzten Juliwochenende ihr angestammtes Haus am Eckensee verlassen hat.
Ort des Geschehens und einer mehrfach gebrochenen Handlung war der angesagte Stuttgarter Club „Im Wizemann“, der sich durch manche Aufführung mit sog. Alter Musik im Rahmen der Musikfeste der Stuttgarter Bachakademie für solche Ausflüge empfohlen und bewährt hatte. Da das „Wizemann“ - selbst wenn gewollt - nie und nimmer die Bedingungen eines klassischen Opernhauses bieten kann, dafür aber (als ehemaliges Industriequartier) über eine Vielzahl atmosphärisch ganz unterschiedlicher und äußerst reizvoller Spielorte und Winkel verfügt, entschloss sich das Regieteam um Marco Stormann, Monteverdis Opus als - Zitat aus dem Programmheft und den Presseankündigungen - „Orpheus-Installation bzw. als Opern-Parcours“ anzulegen. Diese Form erlaubt nicht nur die erwähnten Erfahrungen und direkten Begegnungen, ja spannende Interaktionen von Darstellenden und Zuschauenden bzw. Zuhörenden, sondern hebt auch die klassische Trennung dieser Gruppen auf, bringt sie auf Trab oder mindestens in Bewegung und schafft so ganz neue, eigenwillige und reizvolle wie Erlebnis- und Erfahrungsräume. Seiten- und Perspektivenwechsel sowie das Mittel der Prozession oder - profaner - eines Umzugs werden hier zum Prinzip und zur Quelle für einen zauberhaften wie bezaubernden „Sommernachtstraum“ der etwas anderen Art.
Dass nur eine der vier Stationen im großen Saal des Wizemanns und damit im Gebäude-Innern liegt, während die anderen drei an unterschiedlichen Stellen im Freien angesiedelt sind, erwies sich technisch-akustisch natürlich als große Herausforderung, der man mit modernen Übertragungstechniken, Mikrofonen und Verstärkern entgegentrat. Dazu setzte man das Kernorchester in den erwähnten Saal hinter eine Spiegelwand, wo es beim zweiten Bild von der bei den übrigen drei, im Freien angesiedelten Bildern und dort näher bei den Sängern agierenden Continuo-Gruppe umrahmt wurde. Diese Trennung und die damit nötig gewordene Übertragung der Orchesterstimmen zu den Sängerinnen und Sängern funktionierte erstaunlich gut, wofür im letzten Bild bei Orfeos schließlich gescheitertem Versuch der Herausführung seiner geliebten Frau aus dem Hades auch der Einsatz modernster Kopfhörer für das Publikum sorgten. Über diese konnten die Zuhörer auch den von Manuel Pujol wie gewohnt bestens vorbereiteten, hier aber als Konserve eingespielten Chor genießen. Großen Anteil an diesem musikalisch-akustischen Spagat hat neben den vermutlich häufig ins Schwitzen gekommenen Tontechnikern der junge Dirigent Killian Farrell, der über zahlreiche Monitore an den verschiedenen Szenen von den dort agierenden Sängerinnen und Sängern und den Mitgliedern des Bläserchors und der Continuo-Gruppe zu sehen ist.
Dass dennoch an manchen Stellen keine für einen ungetrübten Operngenuss übliche Klangqualität zu erleben war, lag nicht nur an den bei einem solchen Vorhaben und trotz modernster Technik nicht ganz vermeidbaren leichten Verschiebungen, Holperern und anderen Störungen, sondern auch an den naturgemäß gegebenen mehr oder weniger natürlichen Begleitumständen, sei es der von der nahen Pragstraße herüberdrängende Verkehrslärm oder das leise Rauschen des abendlichen Sommerwindes. Der guten Laune und der sehr gelösten Stimmung des im Gegensatz zu einem „normalen Opernabend im Großen Haus“ erstaunlich jungen und leicht hipp daher kommenden Publikums taten solche vermeintlichen Mängel keinerlei Abbruch. Vielleicht war dies auch ein ganz wichtiges Ergebnis dieses Ausflugs der Stuttgarter Oper in die Partyszene: Den Altersdurchschnitt im Publikum zu senken und Menschen anzusprechen, die man in der traditionellen „Theaterschachtel“ eher selten antrifft. Und wenn diese jüngeren Menschen dann noch auf der „anderen Seite“ Altersgenossinnen und -genossen erleben, die nicht nur in einer eher modernen, stellenweise leicht queer angelegten Szenerie zu erleben sind, sondern die ihre Rollen so perfekt und hinreißend spielen wie dieses junge Stuttgarter Solistenensemble - zu den genannten fabelhaften Hauptdarstellern gesellten sich in jeweils mehreren Rollen Andrew Bogard und Pihla Terttunen sowie Mingjje Lei, Ángel Macias, Andrea Conangla, Sirin Kilic und Junoh Lee - dürfte dies eine viel wirksamere und direktere Werbung für die doch gar nicht so verstaubte Gattung der Oper sein als viele der sonst üblichen Werbemaßnahmen.
Schade nur, dass diese ungewöhnliche L`Orfeo-Produktion zum Ende dieses trotz aller Corona-Verstörungen dann doch versöhnlichen und an etlichen Neuproduktionen reiche Stuttgarter Opernjahres nur dreimal zu erleben war und nach Angaben der Intendanz in der nächsten Spielzeit nicht wieder aufgenommen werden soll.
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