Stuttgart, Staatsoper Stuttgart, Don Carlos - Giuseppe Verdi, IOCO Kritik, 02.11.2019,
Don Carlos - Giuseppe Verdi
Staat und Kirche vereint - gegen jede Menschlichkeit
von Peter Schlang
Größer könnten die Unterschiede kaum sein: Als am Sonntag, dem 27. Oktober 2019 die Amazonas-Synode im Vatikan neue Wege für die Zulassung zu den Weiheämtern propagierte und somit Möglichkeiten für eine menschenfreundlichere, volksnahe Kirche aufzeigt, präsentiert die Staatoper Stuttgart in ihrer Neu-Inszenierung von Don Carlos einen Groß-Inquisitor, dem alles Menschenfreundliche und erst recht die Nächstenliebe ein Gräuel ist. Stattdessen hat er Machterhalt und Ausübung des Gewaltmonopols um jeden Preis zu seinen einzigen Zielen gemacht und Menschenverachtung und Zynismus zu seinen wichtigsten Werten erklärt.
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Aber auch über dieses „katholische Thema“ hinaus bietet die von der jungen niederländischen Regisseurin Lotte de Beer und ihrem Bühnen- und Kostümbildner Christof Hetzer verantwortete erste Stuttgarter Neu-Produktion der aktuellen Spielzeit manche Vergleichsmöglichkeit mit aktuellen Befunden und liefert aufschlussreiche psychologische, soziologische und politische Erkenntnisse.
Lotte de Beer, Preisträgerin der International Opera Awards, und ihr Team wählten für ihren Stuttgarter Don Carlos eine fünfaktige Fassung in französischer Sprache, die sich weitgehend an der Pariser Urfassung von 1866/67 orientiert.
Im Unterschied zu anderen Aufführungen dieser Version, einer von sieben dieser wohl traurigsten und hoffnungslosesten Oper von Giuseppe Verdi, weist die Stuttgarter Produktion drei Besonderheiten auf: Eine nur in der Generalprobe zur Uraufführung gespielte Szene tritt an den Beginn des ersten Aktes - und stellt mit der darin dargestellten Flüchtlingsthematik einen weiteren Gegenwartsbezug her. Die manchmal gestrichenen Ballettmusiken, wichtiger Bestandteil der damals in Paris obligatorischen Grand Opéra, werden in Stuttgart musiziert, allerdings nicht, wie vielleicht von manchen Opernbesuchern erwartet, klassisch getanzt, sondern jeweils von einer Gruppe von fünf ganz in weiß gekleideten Kindern szenisch-darstellerisch interpretiert. Verkörpern diese anfänglich noch viel kindliche Unschuld, stumpfen sie im Verlauf ihrer Auftritte gegenüber den ringsum tobenden Grausamkeiten beständig ab und passen sich so der deutlich eskalierenden Gewalt der dargestellten Gesellschaft an.
Die letzte dieser Ballett-Zwischen-Musiken wurde jedoch vom musikalischen Leiter dieser Produktion, dem Stuttgarter GMD Cornelius Meister, durch die 2015 entstandene “Pussy-(r)-Polka“ Gerhard E. Winklers ersetzt, die nicht nur das Finale von Verdis Original-Ballettmusik zitiert, sondern, wie es schon im Titel anklingt, Bezug auf einen politisch-kulturellen Skandal in Russland nimmt. Bei diesem demonstrierten bekanntlich weibliche Mitglieder der regierungs- und kirchenkritischen Punkband Pussy Riot öffentlich und wurden dafür von Staat und Kirche abgestraft. Es sei bereits an dieser Stelle erwähnt, dass der Rezensent die Verknüpfung des Verdischen Originals mit der zeitgenössischen Überschreibung sowohl musikalisch als auch inhaltlich als äußerst schlüssig und erhellend empfand. Modernes Opernregietheater darf sich solche Eingriffe durchaus erlauben, erst recht, wenn wie in Stuttgart mit einem solchen gut gemachten Kunstkniff ein interessanter und erhellender Erkenntnisgewinn und eine erweiterte Sicht auf Zusammenhänge verbunden sind.
Diese sind insgesamt an vielen Stellen der Inszenierung sehr hoch, wozu neben der schlüssigen und intensiven Zeichnung der Hauptfiguren auch das recht puristische Bühnenbild beiträgt, das wie ein Brennglas den Blick auf Charakter und Verfassung der Akteure und der von ihnen verkörperten Rollen lenkt.
In der Mitte des meist leeren, schwarzen Bühnenraums sieht man lediglich einzelne Möbelstücke oder Versatzstücke: Ein überdimensioniertes Ehebett (Im ersten Akt räkeln sich darin Don Carlos und seine zu diesem Zeitpunkt vermeintliche Braut Elisabeth; im vierten Akt teilt sich König Philipp dieses Bett mit seiner Mätresse, Prinzessin Eboli) ein Schreibtisch, eine angedeutete Treppe und eine seltsam geformte Wolke – alle in einem für die Macht stehenden gleißenden Weiß gehalten. Um diese sparsamen Requisiten kreist eine dunkle angewinkelte gewaltige Wand, die häufig am vorderen Bühnenrand angehalten wird, dabei das Innen vom Außen trennend, Platz für Umbauten und Auftritte bietend, vor allem aber das Dunkle und Dämonische der verschiedenen Szenen unterstreichend. Allerdings schränkt sie an manchen Stellen auch den Bewegungsspielraum der vor ihr agierenden Sängerinnen und Sänger ein.
Der dahinter liegende Raum bietet darüber hinaus einen idealen Auftrittsrahmen für die großen Chorszenen, bei denen der gerade zum zwölften Mal als Opernchor des Jahres ausgezeichnete Stuttgarter Staatsopernchor auch unter seinem neuen Leiter Manuel Pujol seine ganze sängerische und darstellerische Ausnahmeklasse beweisen kann. Außerdem ist die leere Bühne Projektionsfläche für einige imposante „Tableau vivants“, bei denen die Regisseurin jeweils zur Szene passende Gemälde diverser Epochen der Kunstgeschichte nachstellt und zur Illustration innerer Vorgänge mit prallem Leben erfüllt.
Diese äußeren Elemente setzen zusammen mit der fast ausnahmslos schlüssigen und konsequenten Personenführung die jahrzehntelange Stuttgarter Tradition packenden Regietheaters konsequent fort und lassen trotz der wagnerschen Länge von fast vier Stunden reiner Spielzeit an keiner Stelle Langeweile oder Leere aufkommen. Dazu dürfte auch beigetragen haben, dass das Regieteam - neben den bereits erwähnten Lotte de Beer als Regisseurin und Christoph Hetzer als Ausstatter gehört noch der für eine fantastische , szenengenaue Beleuchtung sorgende Alex Brok dazu - Mittel und Wege verwendet, welche dem Zuschauer bekannt vorkommen, diesen aber dennoch fesseln und neugierig halten. So verortet die Regie die Handlung, wie dem aufwändig und hervorragend gemachten Programmheft zu entnehmen ist, in einem zwanzig bis dreißig Jahre vor uns liegenden „visionären Spanien“, in dem psychische Kälte, physische Gewalt und staatlicher Terror zu absolut(istisch) bestimmenden Größen geworden sind. Deren Umsetzung und Wirkung kommt uns, nicht zuletzt durch die getragene Kleidung und die eingesetzten physischen Mittel der Gewaltausübung, recht bekannt vor und erinnert uns an die zahlreichen aktuellen, von Gewalt beherrschten Assoziationsfelder rund um den Globus.
So wird In Stuttgart aus dem „anti-autoritären Polit-Thriller“ ein deprimierendes Kaleidoskop aus gegenseitigen Verletzungen, Verrat, Lüge, blindem Egoismus, skrupelloser Machtausübung und Unterdrückung, ja Vernichtung, des Individuums.
Und wie die katholische Kirche in Person des aalglatten und schmierigen, von Falk Struckmann bis in die Bewegung seiner Fingerspitzen als fies, zynisch, ja dämonisch charakterisierten Großinquisitors dabei die Fäden in der Hand hält, lässt einem angesichts der vor nicht allzu langer Zeit aufgedeckten Verfehlungen zahlreicher realer kirchlicher Würdenträger die Haare zu Berge stehen.
Wie Struckmann geben auch die Darsteller der anderen sechs Hauptrollen wie der vier eher kleineren Nebenrollen an diesem Abend nicht nur alle ihr Rollendebüt, sondern sicht- und hörbar auch ihr Bestes.
Don Carlos - die Darsteller beschreiben die Musik der Oper youtube Trailer Staatsoper Stuttgart [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Dass dieses, wie im Falle des Don-Carlos-Darstellers, nicht immer zur vollen Zufriedenheit des Premierenpublikums möglich war, mag neben einer gewissen Nervosität und Unerfahrenheit auch dem Regiekonzept geschuldet sein. Dieses entwirft für Don Carlos das pathologische Grundprofil eines spät-pubertierendem, unreifen, ohne Mutterliebe und vom Vater kaum als Individuum wahrgenommenen jungen Mannes, der zudem stark autistische Züge aufweist und sichtbar kaum kommunikations- und bindungsfähig ist. Zudem wird er von manchen Obsessionen beherrscht, was ihm seinen Kampf um Freiheit und Selbstverwirklichung nicht gerade erleichtert. Dem stimmlich erst im Verlauf des zweiten Aktes zu sich findenden Massimo Giordano als Don Carlos fällt die schauspielerische Umsetzung dieser Charakteranforderungen an manchen Stellen etwas schwer, was selbst noch beim Applaus an etwas unbeholfenen, eher kindischen Gesten zu bemerken ist. Dabei ist dem Sänger sicherlich zu Gute zu halten, dass er zumindest darstellerisch die mit Abstand anspruchsvollste Rolle der ganzen Oper auszufüllen hat.
Etwas leichter haben es da die anderen Darstellerinnen und Darsteller, und sie machen es erfreulicherweise auch deutlich besser. Dies gilt zunächst für Goran Juric, der seinem Philipp II mit schön gefärbtem Bass viel Abgründig-Dämonisches, aber auch etwas opferhaft-Verletztes verleiht, genauso aber für den famosen Bariton Björn Bürger als Marquis von Posa, der dessen mehrfache Verwandlungsakte äußerst glaubhaft und souverän auf die Bühne bringt und mit seinem jugendlichen Timbre in allen Registern zu überzeugen vermag. Der famose, alle Fäden des teuflischen sicher webende Großinquisitor Frank Struckmanns wurde ja an anderer Stelle schon ausführlich gewürdigt, und es würde zu weit führen, alle seine bis ins Detail sicher beherrschten darstellerischen Kabinettstückchen einzeln zu beschreiben.
Die Prinzessin Eboli der Ksenia Dudnikova besticht durch einen dramatisch-energischen Mezzo-Sopran, der sowohl in der Tiefe wie in den Höhen samtig, aber kraftvoll und äußerst biegsam klingt und dem Charakter dieser ja ebenfalls sehr gespaltenen Figur jederzeit beredt Ausdruck verleiht.
Die absolute Spitzenleistung in diesem ja ausnahmslos aus hauseigenen Kräften zusammengestellten Solistenensemble vollbringt an diesem Abend die junge, aus Moldavien stammende und seit der letzten Spielzeit zum Stuttgarter Ensemble gehörende Sopranistin Olga Busuioc. Mit großer Zartheit, Verletzlichkeit und einer gewissen Unschuld verleiht sie ihrer Elisabeth das von Libretto und Geschichtsschreibung vermutete jugendliche Alter, dabei mit klarem, fein geführten, streckenweise geradezu schwerelos wirkendem Sopran jederzeit überzeugend – eine wahre (Welt-) Klasseleistung!.
Den ganzen langen Abend über sicherer Garant bzw. Ermöglicher dieser und anderer Stimmfreuden ist das Staatsorchester Stuttgart, das unter der Hand seines Chefdirigenten Cornelius Meister hörbar an Strahlkraft und Klang-Opulenz gewonnen hat. Dass die Musikerinnen und Musiker - in geänderter Aufstellung im proppenvollen Orchestergraben sitzend - ihren singenden Kolleginnen und Kollegen auf der Bühne bis auf ganz wenige etwas zu laut geratene Stellen ein verlässlicher, einfühlsamer Begleiter sind, mag auch an der erhöhten Position Maestro Meisters liegen, der so jederzeit den vollen Überblick behält. Wer ihn besser kennt, kann sich gut vorstellen, wie er dabei das ihm anvertraute musikalische Personal auch mit seinem freundlichen Lächeln und anderer feiner Mimik durch den Abend führt.
Allerdings soll diese Würdigung nicht darüber hinwegtäuschen, dass der neue Stuttgarter Don Carlos ein Unterfangen ist, das sowohl den Mitwirkenden als auch den Zuschauenden einiges abverlangt und thematisch inhaltlich kein Wohlfühlabend ist.
Dafür gibt einem das Gesehene und Gehörte manche Denkaufgabe und erfüllt so eine wichtige Aufgabe zeitgemäßer Opernregie. Manche Besucher fühlten sich dadurch vielleicht überfordert oder auch enttäuscht, was die doch recht kräftigen Buhrufe für das Regieteam erklären könnte, die sich hörbar unter den freilich deutlich stärkeren Premierenjubel mischten.
Don Carlos an der Staatsoper Stuttgart; weitere Vorstellungen am 1. 3., 8. und 10. November 2019 und - in einer zweiten Aufführungsserie - am 15., 21., 26. März sowie am 18. April 2020
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