Stuttgart, Staatsoper Stuttgart, Die Verurteilung des Lukullus - Paul Dessau, Bert Brecht, IOCO Kritik, 12.11.2021
Die Verurteilung des Lukullus - Paul Dessau, Bert Brecht
Mit Glanz und Pomp in die Hölle – aber: Hilft viel auch immer viel? Berliner Regie-Kollektiv "Hauen und Stechen" wuchtet an der Staatsoper Stuttgart Die Verurteilung des Lukullus auf die Bühne
von Peter SchlangSchon der barocke Opernpionier Claudio Monteverdi nahm das Publikum in seiner Oper L‘Orfeo mit auf einen kurzen Besuch ins Reich der Toten, genauer in die Welt der Seligen, und erlaubte ihm so einen Blick auf „die andere Seite“. Musikalisch, inhaltlich und dramaturgisch viel drastischer und illusionsloser fällt der Blick ins Jenseits in Paul Dessaus 1951 uraufgeführter Oper Die Verurteilung des Lukullus aus, deren zwölf Szenen umfassendes Libretto von Bertolt Brecht geschrieben wurde. Dieser überarbeitete dazu sein Hörspiel Das Verhör des Lukullus, das er 1939 im schwedischen Exil als Reaktion auf Hitlers Überfall auf Polen und den Beginn des 2. Weltkriegs verfasst hatte. Schon in dieser Vorlage eine Verurteilung militärischer Macht und kriegerischer Zerstörung, wird Dessaus Oper zum Gericht der Ohnmächtigen, Unterdrückten und aller Opfer staatlicher Willkür und Gewalt über ihre Peiniger, diejenigen, die an den Hebeln der Macht sitzen und diese für ihre Zwecke missbrauchen. Die beiden Autoren in der noch jungen DDR zielten damit gewiss nicht nur auf die nicht einmal ein Dezennium zurückliegende Katastrophe des Nationalsozialismus und des durch diesen verursachten Zweiten Weltkriegs….
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Im Mittelpunkt von Dessaus Oper steht der gerade verstorbene römische Feldherr Lukullus, der sich, auf seine militärischen (und kulinarischen) Verdienste vertrauend, sicher ist, im Jenseits einen prominenten Platz und so auch im Schattenreich die ihm seiner Ansicht nach gebührende Würdigung zu erfahren. Diese Hoffnung wird aber schon an dessen Eingang getrübt, als Lukullus wider seine irdischen Erfahrungen zum Warten gezwungen wird. Auch die Ankündigung eines Verhörs durch das Totengericht passt dem Ehre und Macht Gewohnten nicht und erst recht nicht dessen Zusammensetzung aus fünf einfachen, in ihrem irdischen Leben der Klasse der Unterdrückten und Benachteiligten zugerechneten Menschen. Eine weitere Enttäuschung für Lukullus ist seine Erkenntnis, dass sich Alexander der Große, den sich Lukullus als seinen Rechtsbeistand und Fürsprecher gewünscht hat, nicht im „Gefilde der Seligen“ befindet. Dies ist einer der bissig-ironischen Kommentare Bert Brechts und ein deutlicher Hinweis auf seine negative Beurteilung kriegerischer Handlungen und scheinbarer militärischer Erfolge. Auch der letzte Rettungsversuch des von sich überzeugten Kriegsherrn entpuppt sich als Fehlschlag: Zwar entspricht der Totenrichter Lukullus‘ Antrag, als Ersatz für seinen verhinderten prominenten Anwalt den ihm zur irdischen Ehrung errichteten Heldenfries zu interpretieren und daraus seine Eintrittsberechtigung in das ersehnte Reich der Seligen abzuleiten. Gleichzeitig ordnet der Richter aber auch an, zur objektiveren Beurteilung der Leistungen des toten Feldherrn die Schatten jener Figuren zu befragen, die auf dem Fries dargestellt sind. Aus deren Plädoyers und den Kommentaren und Ergänzungen der fünf Laienrichter entwickelt sich eine spannende Debatte über Verdienste, Ehre, Schuld und Register der Taten des Verstorbenen und deren unterschiedliche Bewertung und Einordnung, an deren Ende die einstimmige Verurteilung des Lukullus zur ewigen Verdammnis steht.
Die Stuttgarter Staatsoper brachte dieses für das Theater wie für die Musik relevante und inhaltsschwere Oper am katholischen Feiertag Allerheiligen (!) nicht nur als ihre erste vollständige und nicht durch Coronaregeln eingeschränkte Neu-Inszenierung in der Pandemie, sondern tatsächlich auch als Stuttgarter Erstaufführung heraus. Dazu hatte man sich mit dem Berliner Theater-Kollektiv Hauen und Stechen für ein mutiges wie äußerst produktives und kreatives Regie- und Ausstattungsteam entschieden, das dem Publikum noch vor Beginn der Oper andeutet, wie realistisch, opulent, vielgestaltig und multimedial es diesen Opernabend gestalten würde: Zum Klang der Beerdigungsmusiken berühmter Toter der jüngeren Geschichte setzt sich im Foyer des Parketts der Trauerzug für und mit Lukullus in Bewegung, der im Livestream auf Bühnen-Leinwände übertragen wird und über verschiedene Wege auf die dadurch -nicht nur mit Menschen - prallvolle Bühne führt. Diese entpuppt sich vielmehr auch als willkommene und viel-dimensional benutzte Spielwiese für die in ihren Einfällen kaum zu bremsenden Ausstatterinnen von Hauen und Stechen, der für die Bühnenbilder zuständigen Christina Schmitt und der für die phantasievollen Kostüme sorgenden Yassu Yabara. Vor allem die Bühne und deren Möblierung sorgten in der neunzigminütigen, pausenlosen Aufführung für Staunen und - zumindest anfängliche - Begeisterung. Da gibt es wahre Salven von Zitaten aus der bzw. Anspielungen auf die jüngere deutsche, aber auch die Weltgeschichte, sei es in Objekten, Formen, Zeichen oder Accessoires. Dadurch aber macht sich bald schon eine gewisse Ermüdung und Sättigung bemerkbar, denn der Einfallsreichtum der Bühnenbildnerin und ihrer sie offenbar mit Ideen und Zurufen geradezu überschüttenden Teamkolleginnen führt zu einem zunehmenden, kaum zu verarbeitenden „visuellen Overkill“. Dieser wird dadurch verstärkt, dass sich die Handlung gleichzeitig an mehreren Stellen der üppig ausgestatteten Bühne und selbst davor abspielt.
Zur großen, kaum noch zu bewältigenden Herausforderung für die Opernbesucher wird die Inszenierung aber durch die offenbar für manche Regieteams unverzichtbar erscheinende Unsitte, die Bühnenhandlung nicht nur durch eingespielte Videosequenzen aus allen möglichen Epochen und Weltgegenden zu kommentieren, sondern das Geschehen auf (und hinter der Bühne) auch noch zu filmen und auf mehreren Leinwänden omnipräsent werden zu lassen (Video und Live-Kamera Martin Mallon). Das führt nicht nur zu der bereits erwähnten Ermüdung und visuellen Überforderung („Wo soll man denn noch überall hinschauen?“), sondern stellt gleichzeitig oft auch eine intellektuelle Unterschätzung und Unterforderung des Betrachters dar, der sicherlich (um nur ein Beispiel zu nennen) auf die Leuchtschrift „Hell“ für die dem Lukullus drohende und schließlich verordnete Verdammnis hätte verzichten können.
In diesem unbestritten prachtvollen Ausstattungs- und überbordenden Thesentheater, das über weite Strecken an eine Revue erinnert und dessen Bilder und Einfälle für mehrere Opernabende reichen würden, tun sich offenbar selbst die beiden für die Regie verantwortlichen Hauen-und-Stechen-Frauen Franziska Kronfoth und Julia Lwowski schwer. Die von ihnen in Szene gesetzten Figuren wirken häufig im Gewimmel und Wirrwarr der Bühne allein gelassen, ja scheinen sich dort gar zu verirren oder verstecken zu wollen. So sehnt man sich als aufmerksamer, erfahrener und nicht nur optischen Reizen zugetaner Opernbesucher über weite Strecken nach einer schlüssigen, die Handlung logisch umsetzenden und das innere Fühlen der Personen erkennbar machenden Personenführung und Ensembleregie. Kurz gesagt: Man wünscht sich, dass die für die Inszenierung verantwortlichen Damen etwas mehr auf Psychologie und innere Zustände als auf Optik und Opulenz der Ausstattung gesetzt hätten.
Der IOCO - Berichterstatter geht sicherlich nicht falsch in der Annahme, dass es Theater und selbst reine Opernhäuser geben mag, in denen der musikalische Teil einer Aufführung einer solch szenisch-optischen Übermacht nicht gewachsen ist und quasi zur Nebensache verkommt. Dass dies in Stuttgart nicht der Fall ist, verdankt sich etlichen glücklichen Umständen, die hier schon oft gerühmt wurden. Da ist zum einen die ausnahmslos herausragende Solistenriege, die nicht weniger als 40 Rollen zum Leben erweckt und deren Mitglieder ohne Ausnahme an diesem Abend ihr Rollendebüt geben. Dass bis auf wenige Ausnahmen alle Protagonisten dem Stuttgarter Haus als Ensemblemitglieder eng verbunden sind, spricht zudem für das bekannte, aber nicht selbstverständliche hohe Niveau, auf dem sich die Stuttgarter Oper bewegt.
Beim ersten Stuttgarter Lukullus ist naturgemäß - ohne dies als qualitative Wertung verstehen zu wollen - der Darsteller der titelgebenden Figur zu nennen: Gerhard Siegel verleiht dem moralisch gescheiterten Feldherrn und Feinschmecker jene Mischung aus Arroganz, Stolz, Selbsttäuschung, Verletzlichkeit und Verständnislosigkeit, aus denen solche Charaktere meist gestrickt sind und bringt diese Gefühle auch jederzeit stimmlich zum Ausdruck. Dies ist beim Umfang der Rolle und ihrer nahezu ununterbrochenen Einbindung in die Handlung nicht nur eine stimmlich kaum zu überbietende Leistung. Sehr ergreifend, einfühlsam und stellenweise regelrecht unter die Haut gehend gestalten auch Friedemann Röhlig als König, Alina Adamski als seine Frau und erste Aufruferin sowie Maria Theresa Ullrich als
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Fischweib ihre jeweiligen Rollen. Aber auch Cheryl Studer als Tertullia, Deborah Saffery als Kurtisane, Elliott Carlton Hines als Kirschbaumträger und Simon Bailey als Totenrichter tragen genauso wie die zahlreichen anderen, hier aus Zeit- und Platzgründen nicht namentlich genannten, anderen Solistinnen und Solisten dazu bei, dass die Vokalpartien in Paul Dessaus so besonderer, äußerst eindrücklicher Partitur glaubhaft, passend und eindrucksvoll zum Leben erweckt werden.
Zum musikalisch tadellosen Ergebnis und damit auch zu einem wohl letztendlich vom überwiegenden Teil des Publikums auch in Gänze als erfolgreich und großes Erlebnis wahrgenommenen Opernabend tragen wie für Stuttgart fast schon sprichwörtlich auch die drei Kollektive des Hauses bei. Das ist an erster Stelle wiederum der von Manuel Pujol bestens vorbereitete und sängerisch wie darstellerisch erneut alle Register ziehende Opernchor. Diesem steht erfreulicherweise der von Bernhard Moncado geleitete Kinderchor in nichts nach, und beide Vokalensembles führen sinnfällig vor Ohren und Augen, zu welch hohem Niveau die konsequent gute Auswahl und gründliche Ausbildung von Sängerinnen und Sängern führen kann.
Dieses gilt aber auch für Staatsorchester, also das „instrumentale Kollektiv“ der Stuttgarter Oper. Dieses tritt bei dieser Produktion zwar nur in kleiner Besetzung mit 32 Musikerinnen und Musikern an, was nicht auf eine im Moment gar nicht greifende Corona-Beschränkung, sondern auf die Original-Instrumentierung des Komponisten zurückzuführen ist. Im Vordergrund stehen dabei die Blechbläser, ein vielfach besetztes, sehr klangmächtiges Schlagzeug und drei Flöten, während von den Streichern nur deren tiefe Instrumente, also Celli und Kontrabässe, zum Einsatz kommen. Zum besonderen Lukullus-Klang-Erlebnis tragen zudem nicht nur zwei präparierte Klaviere und ein Konzertflügel bei, sondern auch ein auf der Bühne platziertes Akkordeon, virtuos gespielt von Ulrich Schlummberger, und das an deren Rand stehende Trautonium, eine Art erster Synthesizer, das von Peter Pichler mit großer Leidenschaft bedient wird. Diese eher ungewöhnliche Orchesterbesetzung kommt indessen eher selten im Tutti zum Einsatz, sondern ist meist kammermusikalisch aufgesplittert zu hören. Das schmälert jedoch keineswegs die Verdienste des musikalischen Leiters der Aufführung, Bernhard Kontarsky, der in Stuttgart seit fast fünfzig Jahren zu den Wegbereitern und Vermittlern neuer Musik gehört. Er fügt die vokalen und instrumentalen Einzelteile zu einem eindrucksvollen und markanten Ganzen zusammen, das dem Impetus der Dessau’schen Musik voll gerecht wird. Kontarsky sorgt so auch dafür, dass die zeitweise visuelle Übermacht nicht die endgültige Oberhand über die Musik gewinnt, sondern sich diese, wenn schon nicht durchgängig, so doch in manch eindrucksvollen Szenen und Momenten als gleichwertig und prägend behaupten kann.
Die Verurteilung des Lukullus an der Staatsoper Stuttgart; die weiteren Termine 13.11.; 15.11.; 20.11.2021
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