Stuttgart, Staatsoper, SANCTA -Sister-Act in der Halfpipe, IOCO
SANCTA: Bereits am 30. Mai 2024 erlebte Florentina Holzingers „Opernperformance Sancta“ - eine Gemeinschaftsproduktion verschiedener freier Kulturschaffender, mehrerer Opernhäuser, Theater und der Wiener Festwochen
Sister-Act in der Halfpipe - Florentina Holzinger erweitert an der Staatsoper Stuttgart Hindemiths „Sancta Susanna“ um eine „feministische Messe“ und sorgt damit für eine grell-böse Abrechnung mit der (oft von Gewalt geprägten) Haltung der katholischen Kirche gegenüber Frauen
von Peter Schlang
Bereits am 30. Mai 2024 erlebte Florentina Holzingers „Opernperformance Sancta“ - eine Gemeinschaftsproduktion verschiedener freier Kulturschaffender, mehrerer Opernhäuser, Theater und der Wiener Festwochen - am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin ihre Uraufführung. Im Juni war sie dann bei den Wiener Festwochen zu Gast. An beiden Veranstaltungsorten sorgte der knapp dreistündige Abend für einen ziemlichen Hype und manche künstlerische wie moralische Erregung, die in den einschlägigen Kulturmedien aber offenbar stärkeren Niederschlag gefunden zu haben scheint als beim jeweiligen, vor Ort präsenten Publikum. Jedenfalls blieb der von manchen erwartete oder im Stillen gar erhoffte Skandal sowohl in Schwerin als auch in Wien aus, und selbst die Institutionen der Katholischen Kirche übten sich in relativer Zurückhaltung. Einzig die Bischöfe von Salzburg und Innsbruck sprachen eine wohl eher maßvolle Warnung vor dem Besuch der Aufführung aus.
Am 5. Oktober kam nun das hoch gehandelte, auch medial-didaktisch sorgfältig vorbereitete und mit hohen Erwartungen beladene Objekt körperlicher Lust oder wahlweiser moralischer Entrüstung an die zum Kernteam der Produktion gehörende Staatsoper Stuttgart. Diese hatte den Mut, diese Premiere wie im Haus üblich auch für eine Abonnenten-Gruppe zu öffnen. Dazu gesellte sich im „freien Teil“ des Publikums eine erfreulich und ungewohnt große Schar jüngerer Besucherinnen und Interessenten, darunter vermutlich etliche aus der queeren Bewegung.
Die Beteiligung an diesem Projekt und dessen Übernahme zur Eröffnung der aktuellen Saison ist ein weiterer Beitrag der Staatsoper zu ihrer in der letzten Spielzeit begonnenen Reihe, mit der sie Inhalte, Bedeutung und Wirkung religiöser Rituale untersucht. Nachdem Messiaens Saint François d’Assise und die szenische Interpretation von Bachs Johannespassion kaum inhaltliche, theologische oder politische Angriffsfläche boten, provoziert Holzingers Ansatz unvergleichlich mehr und hätte zumindest in der Erwartung viel mehr Widerspruch, ja Empörung hervorrufen sollen. Dass diese am Premierenabend auch in Stuttgart ausblieben und das Publikum eher wie bei einer Show reagierte, sagt so Manches über den aktuellen Stellenwert von Religion und (katholischer) Kirche sowie das Wissen in der Gesellschaft darüber, aber auch über die stark angestiegene Reizschwelle von Gewalt- und Missbrauchsszenen oder gar deren Exzesse aus.
Den Kern- und Ausgangspunkt von Holzingers erster „Opernregie“ (Es wird noch zu zeigen sein, wie schwierig eine sprachliche und inhaltliche Einordnung dieses Abends in gängige Muster und die üblichen Kategorien ist!) bildet Paul Hindemiths Opern-Einakter „Santa Susanna“. In diesem auf ein Drama des Expressionisten August Stramm komponierten 20-Minuten-Stück geht es um Lust und sexuelles Begehren, die eine junge Nonne ausgerechnet vor dem Kreuz empfindet und auslebt. Die ihr daraufhin zugesprochene Strafe des Einmauerns weist nicht nur auf alte kirchliche Traditionen zurück, sondern bereits auf die noch immer hochaktuelle Tatsache hin, dass Sexualität im kirchlich-religiösen Kontext meist zu Gewalt, Missbrauch und physischer wie psychischer Vernichtung führt.
Das groß besetzte Staatsorchester Stuttgart formt unter der Leitung der schwedischen Dirigentin Marit Strindl und Hindemiths klangsinnliche und orchestral fein gewobene Partitur zu einem überwiegend behutsamen und dennoch spannenden Einstieg in einen Abend, der später weitaus weniger harmonische und beruhigende Züge annehmen sollte. Die beiden Protagonistinnen, Caroline Melzer als sanft-helle und verletzliche Susanna und Andrea Baker als stellenweise etwas flackernd-zickige Aufpasserin Klementia, passen recht gut in diesen Rahmen, dem man allerdings von der Regie mehr szenisch-dramaturgische Stringenz und Fantasie gewünscht hätte. Im Nachhinein bestätigt sich die Vermutung, dass Florentina Holzinger und ihr Kollektiv (u. a. Bühne und Kostüme Nicola Knežević, Lichtdesign Anne Meussen und Max Kraußmüller) bei diesem ziemlichen klassischen Auftakt selbst wie auch bei den anderen Beteiligten und dem Publikum Kräfte sparen und damit vor allem auch den Kontrast zu den dann folgenden gut zwei Stunden ins Maximale steigern wollten.
Die Ergänzung bzw. Fortführung von Hindemiths und Stramms Appetizer gerät dann tatsächlich von der ersten Sekunde an zu einem akustischen wie optischen Parforceritt, der Ohren wie Augen und die von ihnen versorgten Gehirnareale auf eine harte Probe stellt. Musikalisch sorgen Holzinger und ihre im Programmheft detailliert aufgelisteten musikalischen Zuarbeitenden und Ergänzungskräfte für einen oft ohrenbetäubenden Mix aus Heavy Metall, Techno, Rock, Pop, Jazz und anderen Sound- und Musikformen, der streckenweise eher an eine Disco oder einen Rockschuppen als an ein Opernhaus denken lässt. Dies ist punktuell umso gewöhnungsbedürftiger, als Holzinger das einleitende Kyrie ihrer Messe aus Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe entlehnt (Der reine Frauenchor lässt trotz der soliden Leistung der Stuttgarter Chorfrauen schmerzlich den männlichen Teil, vor allem im Bass-Fundament, vermissen!) und die nachfolgenden Messteile zu großen Teilen mit Musik Sergej Rachmaninows, Charles Gounods und William Byrds verquickt und so recht erholsam gestaltet. Diese Erholung ist angesichts der wummernden Bässe, knallenden Akkorde, jaulenden Gitarrenriffs und häufig bis an die Schmerzgrenze gehenden Verstärker zumindest für den älteren Teil des Publikums nicht nur willkommen, sondern auch dringend nötig.
Optisch dagegen gibt es diese Erholung bei Holzinger, Foto oben, und ihrer gut dreißigköpfigen Frauentruppe - bis auf Dramaturgie, Technik, Chorleiter und bei der Orchesterbesetzung kennen Programmheft und Besetzungszettel keine eindeutig männlichen Namen, und Holzinger ist ja traditionell nur mit (nackten) Frauen auf der Bühne zu erleben - höchstens, wenn man hin und wieder die Augen schließt. Die Performance bietet so ziemlich alles, was heute an Theatergags, Technik und sonst Bühnenwirksamem möglich ist und nutzt auch die ganze Bühne einschließlich Seitenlogen und Vorbühne sowie stellenweise auch den Zuschauerraum für Auf- und Abtritte. Ja, manchmal wird einem vom Tempo und Drive des Bühnengeschehens fast schwindlig. Ein zumindest anfangs hoher Unterhaltungswert des Abends ist also unbestreitbar, und auch die Ausstattung des Stücks, angefangen von einem an wichtigen Stellen zum Einsatz kommenden Industrie-Roboter und einer ständig von nackten Frauen bestiegenen und zu eindeutigen sexuellen Handlungen benutzten Kletterwand über eine ebenfalls stark in Anspruch genommenen Halfpipe bis zu einer echten bronzenen Glocke bietet viel Theaterwirksames und - zunächst - Bestaunenswertes. Ja, mit ihrer Mischung aus Show, Musical, Revue, Orgie, Slapstick, Kabarett, Trash, Ballett, Zirkus, Passionsspiel, Schwarzem Theater und Anspielungen auf weitere Kunst- und Aufführungsformen sowie Anleihen aus mehreren Epochen und deren Kultur und Bräuche brennt diese Produktion ein wahres Feuerwerk an Ideen, Einfällen und Zitaten ab, welches die Bezeichnung Opernperformance als ebenso vernünftig wie zutreffend erscheinen lässt. Allerdings ergeben sich mit zunehmender Dauer der Aufführung auch diverse Längen, und so stellen sich beim Betrachter aufgrund der zahlreichen Wiederholungen, Ähnlichkeiten und auch der Drastik mancher Bilder spätestens im letzten Drittel des Abends gewisse Ermüdungserscheinungen und ein emotionales Sättigungsgefühl ein.
Insgesamt ist der Gewinn an neuen Erkenntnissen und einer erweiterten Sicht auf die verhandelte Thematik am Ende eher bescheiden. So geraten die berechtigte Forderung nach größerer Beteiligung der Frau am kirchlichen wie insgesamt gesellschaftlichen Leben und Geschehen sowie der nicht zu übersehende Hinweis auf die anhaltende strukturelle Gewalt gegen Frauen in hierarchisch geprägten Systemen unter dem zeitweiligen Übermaß an Bluff, Klamauk und auch Übertreibung stellenweise zur Nebensache oder gar aus dem Blick.
Das Premierenpublikum in Stuttgart scheint sich daran nicht groß gestört zu haben, denn fast schon willfährig stimmt es am Ende zu großen Teilen in den schmalzig-flachen Song „Don’t dream it, be it“, einem Zitat aus der Rocky Horror Picture Show aus dem Jahr 1975, ein.
Diesen Traum in der Stuttgarter Oper wollen offenbar viele Menschen erleben, denn nach Auskunft der Oper sind die noch folgenden fünf Aufführungen am 26. und 27. Oktober sowie vom 1. bis 3. November 2024 restlos ausverkauft.