Stuttgart, Staatsoper, LA SONNAMBULA - Vincenco Bellini, IOCO
LA SONNAMBULA - Stuttgart: 35-mal war die Inszenierung von Vincenzo Bellinis Oper La Sonnambula (Die Nachtwandlerin) des legendären Regieduos Jossi Wieler und Sergio Morabito seit ihrer Premiere im Januar 2012 auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper zu erleben. Am 7. Juli 2024 ....
Das Geheimnis der Schränke – An der Staatsoper Stuttgart erlebt Bellinis „La Sonnambala“ in der legendären Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito ihre umjubelte Wiederaufnahme
Von Peter Schlang
Bereits 35-mal war die Inszenierung von Vincenzo Bellinis Semi-Seria-Oper La Sonnambula (Die Nachtwandlerin) des legendären Regieduos Jossi Wieler und Sergio Morabito seit ihrer Premiere im Januar 2012 auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper zu erleben. Am Sonntag, 7. Juli 2024 wurde diese ikonische Produktion, die im Jahr ihrer Entstehung konsequenterweise zur Inszenierung des Jahres gewählt worden war, zum zweiten Mal nach 2018 wieder in den Spielplan aufgenommen.
Bei ihrer Reaktivierung im vollbesetzten Haus wirkt die Inszenierung so frisch, unverbraucht und aktuell wie eh und je. Ja, man darf Philine Tiezel, welcher die szenische Leitung der Wiederaufnahme oblag, bescheinigen, dass es ihr vorzüglich gelungen ist, die Ensembles aus Solisten und Chor bis auf den kleinsten Moment und die scheinbar noch so nebensächlichste Bewegung und mimischen Feinheiten vorzubereiten und so alle auf der Bühne Agierenden bis ins Kleinste mit den oft hintergründigen Zusammenhängen und äußerst komplexen Überlegungen der Regie vertraut zu machen. So entsteht über fast drei Stunden hinweg ein fesselndes, packendes und mit allen psychologischen Verwirrungen und sozialen Verwicklungen durchsetztes Kammerspiel, das sich in den großen Chorszenen zusätzlich zu einem umwerfenden Gruppen-Psychogramm und einer äußerst detailtreuen und -genauen Milieustudie steigert. Dabei gelingt es dem Chor der Staatsoper unter der bewährten Leitung Bernhard Moncados mit stimmlicher Präsenz und enormer darstellerischer Raffinesse, die Verlogenheit und Borniertheit einer spießigen, auf hohle Traditionen und falsche Mythen gebauten ländlichen Gesellschaft zu entlarven und bietet dabei teils phänomenale Charakterstudien.
Großen Anteil am souveränen Gelingen dieses ambitionierten Experiments haben die bestens gepflegten bzw. hervorragend aufgefrischten, äußerst individuellen und somit vielseitigen Kostüme Anna Viebrocks, deren legendäres Bühnen-Gasthaus zudem nach wie vor einen idealen, hinreißenden und sich selbsterklärenden Rahmen für die Handlung, die diese umsetzenden Mitwirkenden, aber auch für die Musik bietet. Ungläubiges Staunen, ja größte Bewunderung rufen noch immer die zahlreichen, nicht nur als Möbelstücke fungierenden riesigen Schränke und die massiven, sehr real an ein Schweizer Dorfgasthaus erinnernden Biertische und
Bierbänke hervor, deren Aufbau und Zusammenklappen der Chor mitunter zu einem rhythmisch-perkussiven Spektakel werden lässt.
Bei den Sängerinnen und Sängern überzeugt nicht nur deren je einzelne Leistung, ja Klasse, sondern auch, wie sich die vier neu ins SolistInnen-Ensemble gekommenen Claudia Muschio als Amina, Carles Sy als deren fast verhinderter zukünftiger Gemahl, Adam Palka als Graf Rodolfo und Andrew Bogard als Bauer Alessio mit den bereits in ihren Rollen erfahrenen Sängerinnen Catriona Smith als in Elvino verknallte Wirtin Lisa und Helene Schneiderman als zupackend-resolute bis liebevoll-besorgte Müllerin und Pflegemutter Teresa zu einem darstellerisch kongenialen wie stimmlich ziemlich homogenen Ensemble verbinden.
Ohne damit die Leistung ihrer Kolleginnen und Kollegen zu entwerten, gebührt die Krone bzw. die Auszeichnung für die beste sängerische wie darstellerische Leistung dieses Opern-Ereignisses Claudia Muschio. Sie gibt die Amina als mädchenhafte, sich und ihren Platz noch suchende, schüchterne, wenig selbstbewusste und fast krankhaft auf die Reaktionen Ihrer Umwelt achtende junge Frau. Für die stimmliche Umsetzung und Darstellung dieser Charaktereigenschaften verfügt Claudia Muschio über beneidenswerte Fähigkeiten und Voraussetzungen und meistert alle Anforderungen dieses hohen Soprans in allen dynamischen Entwicklungen und Registern und mit fast spielerischer Leichtigkeit, dazu bis zum Ende ohne Ermüdung und ohne jegliche Schärfe oder Unsauberkeit. Völlig zurecht erhielt sie nicht nur mehrfachen Szenenapplaus, sondern wurde ihr am Ende geradezu frenetischer, langanhaltender Jubel zuteil.
Noch nicht ganz in diese höchste Kategorie kann man Charles Sy einordnen, obgleich man auch ihm ein recht gelungenes Rollendebüt als Elvino bescheinigen kann. Der Tenor verfügt über ein feines, dennoch kräftiges und sicher geführtes Organ, dem es in manchen Momenten noch an der letzten Prise Schmelz und Glanz mangelt. Darstellerisch, vor allem mimisch, zeigt er die verschiedenen Seelenzustände und -empfindungen recht subtil, in manchen Szenen und Bewegungen wirkt er jedoch etwas schwerfällig und lässt die dieser Rolle innewohnende Leichtigkeit, ja Unverfrorenheit vermissen.
Adam Palka gibt den Grafen sehr überzeugend mit einem dunklen, sehr profunden und dennoch recht samtigen Bass, der ihn für weitere Rollen, auch in anderen Operngattungen und -epochen, vorstellbar macht.
Beim Blick auf die sängerischen Leistungen dieser Produktion als Ganzes darf erneut mit einem gewissen Stolz auf die Tatsache hingewiesen werden, dass alle in dieser Sonnambula auftretenden Sängerinnen und Sänger zum Haus-Ensemble gehören, die Stuttgarter Staatsoper also über den Luxus einer wohlformierten, ja hochklassigen eigenen Belcanto-Truppe verfügt.
Das sichtlich verjüngte Staatsorchester im hoch gefahrenen Graben zeigt sich unter der jederzeit sicheren und äußerst umsichtigen Leitung des ukrainischen Dirigenten Andriy Yurkevych, der den Puls von Bellinis Musik Ernst und hörbar aufnimmt, als sehr sängerfreundliches Begleit-Kollektiv, das in den rein orchestralen Passagen und entsprechenden dramatisch-eruptiven Stellen auch über die nötige Beweglichkeit, Dynamik und Agogik verfügt, um die Handlung packend und mitreißend musikalisch erfahrbar zu machen. Sehr gut gelingen an diesem sonnigen Sommernachmittag auch die diversen Orchestersoli, allen voran der Flöte und des Horns.
So ruft dieser Julisonntag eindrucksvoll in Erinnerung, dass die Stuttgarter Staatsoper mit den Puritanern, Norma und eben La Sonnambula - alle drei in Szene gesetzt vom legendären Produktionstrio Wieler-Morabito-Viebrock - über ein äußerst bemerkenswertes, packendes und attraktives Repertoire dieses Belcanto-Meisters verfügt. Man wünscht sich als Zuschauer und Rezensent, dass dieses nicht in den Depots verstaubt, sondern, wie jetzt, immer wieder einem staunenden, offenen und dankbaren Publikum zugänglich gemacht wird.