Stuttgart, Staatsoper, IDOMENEO – Wolfgang Amadeus Mozart, IOCO
Vor allem die drei Protagonistinnen dieser Mozart-Oper nutzen diese idealen musikalischen Bedingungen für höchste gesangliche Leistungen.
von Peter Schlang
Scherenschnitte in die Seele – An der Staatsoper Stuttgart feiert Mozarts Idomeneo einen - überwiegend musikalischen - Triumph
Theaterstücke und auch Opern, die sich mit Konflikten und (Fast-)Tragödien zwischen den Generationen beschäftigen, gibt es in großer Zahl, und bis heute finden sich zahlreiche davon auf den Spielplänen unserer Theater und Opernhäuser. Darunter sind auch einige, die sich der dramatischen Version eines Generationenkonflikts widmen, dem gewaltsamen Tod einer der unmittelbar an ihm beteiligten Personen, sei er nur geplant oder tatsächlich eingetreten. Ein berühmtes Werk dieses Genres der Opernliteratur, das wie die noch bekanntere Fassung um Abraham und Isaak die Opferung, sprich Tötung des Sohnes durch seinen Vater vorsieht und thematisiert, ist Wolfgang Amadeus Mozarts frühe, 1781 uraufgeführte Oper Idomeneo. Der ihr zugrunde liegende Stoff stammt aus Homers großer Erzählung vom Trojanischen Krieg, der Ilias. Der griechische Dichter schildert darin, dass sich der kretische König Idomeneo bei der Heimkehr aus Troja nur durch das Versprechen an den Meeresgott Neptun aus Seenot und vor dem drohenden Untergang retten kann, ihm zum Dank dafür den ersten ihm daheim begegnenden Menschen als Opfer darzubringen. Tragischerweise ist dies sein eigener Sohn Idamante, der sich zu aller Verkomplizierung auch noch in die trojanische Kriegsgefangene Ilia verliebt hat.
Dieser wahrhaft opernfähige und hier nicht ganz vollständig zitierte Mythos zieht sich durch alle folgenden Epochen der Kultur- und Theatergeschichte, wo er natürlich jeweils der Zeit und ihrer Moden gemäß weiterentwickelt und verändert wurde. Mozart bzw. sein Librettist Giambattista Varesco bedienten sich für ihre Fassung einer Opera Seria vor allem bei der noch stark von der griechischen Götter-Mythologie geprägten „Tragédie lyrique“ „Idoménée“ des französischen Barock-Komponisten André Campra, für die Antoine Danchet das Libretto geschrieben hat. Allerdings ergänzen bzw. verändern Mozart und sein Textdichter diese französische Vorlage um Erkenntnisse der Aufklärung und vor allem um eigene Erfahrungen Mozarts, also vor dem Hintergrund von Mozarts ambivalentem Verhältnis zum eigenen Vater. So kommt es zu der spannenden und berechtigten Frage, wie ein Generationenwechsel gelingen kann, der von der abtretenden Generation akzeptiert und nicht vorwiegend als Bedrohung wahrgenommen wird. An der Staatsoper Stuttgart nahm sich jetzt - Premiere war am 24. November - der 1980 in Göttingen geborene Regisseur Bastian Kraft in seiner zweiten Regiearbeit für die Oper dieses Werkes an. Vor zwei Jahren war er am gleichen Ort für seine Inszenierung von Dvořáks Rusalka enthusiastisch gefeiert worden. Er wählte den naheliegenden und durchaus spannenden (tiefen-) psychologischen Zugang zur Deutung von Mozarts - nach dessen eigenem Bekunden bester - Oper und möchte so der Frage nachgehen, welche tiefer gelagerten Bedürfnisse, Triebe und Motive die Figuren dieser Oper antreiben. Das klingt nach einer klugen und vielversprechenden Idee, die eng an die emotionsgeladene Barockoper anknüpft und diese weiterentwickelt. Dazu erfindet der Regisseur eine zweite Spielebene, nämlich eine die ganze Bühnenrückwand einnehmende Projektionsfläche (Bühne: Peter Baur), auf welche die davor agierenden Figuren als Scherenschnitte oder Schattenspiel-Figuren nicht nur bei ihrem direkten Bühnenauftritt projiziert, sondern auch in neuen Konstellationen, Rollen, Lebensaltern und alternativen Schattierungen in Beziehung gesetzt und in ein psychoanalytisches Spiel verwickelt werden.
In dieser Videowelt, für die Sophie Lux verantwortlich zeichnet, soll Mozarts Opernpersonal - zumindest nach Auskunft des vorzüglich gemachten Programmhefts - von seinen verborgenen Wünschen, Nöten, Bedrängnissen, seinen geheimen Sehnsüchten und den imaginären Ansätzen zu deren Befriedigung bzw. Problemlösung erzählen. Da die Regie diese Aspekte mit Bezügen zu aktuellen Generationenkonflikten wie dem Klima-Aktivismus und dessen Bekämpfung anzureichern verspricht, hätte dies ein spannender und erkenntnisreicher Opernabend werden können. Hätte, denn dem Regisseur scheinen nach relativ kurzer Zeit die Ideen und die Vorstellungskraft auszugehen, sodass sich die schlüssigen und erzählkräftigen Momente bald erschöpfen oder bestenfalls wiederholen. (Da war Barrie Kosky in seiner legendären, auch in Stuttgart zu sehenden Zauberflöten-Inszenierung deutlich mehr für die Illustration des Inneren seiner Protagonisten eingefallen und auch gelungen!) Hier aber macht sich auf der Videoleinwand alsbald eine ziemliche Statik und Lethargie breit, die zu Langeweile und einer gewissen Ratlosigkeit führt, die leider auch vor der Spielfläche davor nicht haltmachen. Denn der Regisseur überlässt, vielleicht weil er zu sehr auf die bildliche Spiegelung der Seelenzustände der dargestellten Menschenschicksale vertraut, die Sängerinnen und Sängerinnen weitgehend sich selbst und zwingt sie so zu der einer anderen Opernwelt und Zeit angehörenden „Rampensteherei“. Von Personenführung und modernem Regietheater ist somit so gut wie nichts zu sehen und zu spüren. Dazu gehört auch, dass die Regie außer einigen relativ platten Darstellungen wie einem über der Szene schwebenden Fallbeil oder einem über den Bühnensee schlingernden Papierschiffchen kaum Illustrationen der Handlung und Metaphern für deren innere Deutung parat hat. Und das schon wieder bei einer Stuttgarter Opern-Inszenierung zitierte Kupferdach, das vor drei Jahren bei einem Sturm vom Dach des Opernhauses geflogen war, sorgt inzwischen nicht mal mehr für Gelächter beim Publikum.
Musikalisch bleibt dies alles glücklicherweise ohne Folgen, denn die schwache Umsetzung einer an sich guten Regie-Idee entpuppt sich beim Zuhören als Glücksfall, und führt fast schon zu einer musikalischen Sternstunde. Denn so kann man sich ganz der Musik Mozarts hingeben und in deren tiefgründigen, höchst farbigen, erzähl-freudigen Schichten schwelgen, die der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister und das von ihm geleitete Staatsorchester in jedem Moment hörbar werden lassen. Ja, Meister führt das Staatsorchester zu einer geradezu phänomenalen Leistung, zeigt sich als begnadeter Musikgestalter und lotet mit seinen Musikerinnen und Musikern alle Gefühlshöhen und -tiefen sowie Klangsphären dieser hoch psychologischen Partitur spannungsvoll und fesselnd aus. Egal, ob es um das Auskosten innigster Zärtlichkeit oder um klangmächtige, ins Fortissimo gesteigerte Furcht- und Jubelszenen geht - das Instrumentalkollektiv im etwas angehobenen Graben der Stuttgarter Oper spielt an diesem letzten Novembersonntag auf höchstem Niveau und erzählt die Geschichte dieses Homer-Konstrukts viel besser, als es den Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne zu spielen erlaubt ist. Dies zeigt sich auch in der jederzeit zu hörenden Transparenz und Leichtigkeit des Klangs, sodass sich die Sängerinnen und Sänger als gleichwertige Partner des Orchesters und mit diesem auf gleicher „Ohrenhöhe“ präsentieren dürfen. Vor allem die drei Protagonistinnen dieser Mozart-Oper nutzen diese idealen musikalischen Bedingungen für höchste gesangliche Leistungen: Anett Fritsch als zum Opfer vorgesehener Idamante betört mit ihrem fein geführten, in allen Registern unangestrengt und höchst sauber klingenden, dazu psychologisch genau abgefederten Sopran und empfiehlt sich so für weitere große Rollen, nicht nur im „Hosenfach“. Überzeugend auch ihre Sopran-Kollegin Lavinia Bini, welche den Gefühlswallungen der trojanischen Kriegsgefangenen Ilia lebhaft und äußerst nachvollziehbar Ausdruck verleiht, auch wenn sie anfangs bei den hohen Passagen etwas schrill klingt. Diese Attitüde ist bei Diana Haller als zickig-eifersüchtiger und zu heftigsten Gefühlsausbrüchen fähiger Elettra kein Mangel, sondern Teil ihres - auch stimmlich - fesselnden Charakters. Dies und alle anderen zu ihrem Wesen gehörenden Stimm- und Klangnuancen zelebriert sie in einer Wucht, Kraft und Brillanz, dass einem fast schwindlig wird und man froh ist, diesem Gefühlsvulkan (nur) als zuhörender Betrachter gegenüberzusitzen. Wunderbar bis betörend geraten auch die Szenen, in denen dieses Damentrio gemeinsam zu erleben ist.
Bei den beiden größeren Männerrollen vermag der Tenor von Charles Sy als Idomeneos einflüsterndem Günstling Arbace trotz kleinerer Mängel in der stimmlichen Ausstrahlung und Sicherheit noch eher zufriedenzustellen als Jeremy Ovenden als Titelheld. Seinem Tenor fehlt es an nicht wenigen Stellen an Glanz und Farbigkeit, und er scheint der Rolle nicht wirklich gewachsen zu sein oder zumindest bei der Premiere nicht seinen besten Tag erwischt zu haben. Diese entschuldigende Wendung muss man beim letzten noch zu nennenden Mitwirkenden dieses höchst musikalischen Mozart-Gefühlsdramas nicht bemühen, dem von Manuel Pujol bestens einstudierten und erneut eine höchst mitreißende Kollektivleistung zeigenden Staatsopernchor. Ihm gilt, genauso wie dem übrigen, ausführlich beschriebenen anderen musikalischen Personal der zweiten Stuttgarter Neu-Inszenierung dieser noch jungen Spielzeit, der begeisterte und kaum enden wollende Beifall des Premierenpublikums.
Weitere Aufführungen am 02., 05., 16., 20. und 27. Dezember
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