Stuttgart, Staatsoper, ELEKTRA - Wiederaufnahme, IOCO

ELEKTRA Stuttgart: Nicht immer und unbedingt ist es eine Notiz wert, wenn ein Opernhaus eine ältere Inszenierung wieder in den Spielplan nimmt. Für diese Wiederaufnahme von Peter Konwitschnys Elektra von Richard Strauß aus dem Jahr 2005 am 27. März gilt diese Einschränkung auf keinen Fall ....

Stuttgart, Staatsoper, ELEKTRA - Wiederaufnahme, IOCO
Staatsoper Stuttgart @ Matthias Baus

Die Katastrophen-Uhr tickt unaufhaltsam - An der Staatsoper Stuttgart erlebte Peter Konwitschnys ikonische Elektra aus dem Jahr 2005 ihre Wiederaufnahme

von Peter Schlang

Nicht immer und unbedingt ist es eine Notiz wert, wenn ein Opernhaus eine ältere Inszenierung wieder in den Spielplan nimmt. Für die Wiederaufnahme von Peter Konwitschnys Elektra von Richard Strauß aus dem Jahr 2005 am 27. März an der Staatsoper Stuttgart gilt diese Einschränkung auf keinen Fall. Immerhin erlebte diese spektakuläre Regie-Arbeit ihre Premiere bereits am 27. November 2005 und ist somit bald zwanzig Jahre alt. Wer diesen Opernabend damals - bei der Premiere oder in einer der dann folgenden 26 Aufführungen - erlebt hat oder am Dienstag der Karwoche bei dieser „Zweit-Premiere“ dabei war, weiß, warum sich die Stuttgarter Opernintendanz nicht für eine mögliche Neu-Inszenierung entschieden, sondern dieses Bestandswerk, eine Ko-Produktion mit der Königlichen Oper Kopenhagen, wieder auf den Spielplan gesetzt hat. Diese spannende und das Publikum von der ersten Minute bis zum erschütternden Ende fesselnde Inszenierung des Regie-Altmeisters hat nichts von ihrer Aktualität und Stringenz verloren. Im Gegenteil: Durch die inzwischen eingetretenen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und weltweit neu entstandenen Krisenherde haben sich Aktualität, Aussage und Wirkung von Peter Konwitschnys Interpretation, auch unter der szenischen Leitung von Rebecca Bienek, in geradezu beklemmender Weise intensiviert und verdichtet.

ELEKTRA - Staatsoper Stuttgart youtube Staatsoper Stuttgart

Daran haben nicht nur die inhaltlichen Erweiterungen und dramaturgischen Ergänzungen ihren Anteil, etwa dass der noch kindliche Atriden-Nachwuchs die Ermordung seines Vaters Agamemnon in der Badewanne mit ansehen muss und der Ermordete in Person des Schauspielers Peer Oscar Musinowski dort blutüberströmt und in einem Netz gefangen, die ganze, gut 90-minütige Aufführung über präsent bleibt und einmal sogar in die Handlung eingreift. Für Spannung und großen inneren dramatischen Zusammenhang sorgen u. a. auch die Einblendung von Heiner MüllersElektra-Text“ oder die auf der verspiegelten Wand angebrachte riesige, unaufhaltsam rückwärts tickende digitale Uhr. (Bühne und Kostüme Hans-Joachim Schlieker) Vor allem aber rührt die ungeheure Dramatik und Intensität dieser Produktion aus der fast schon gnadenlosen Psychologisierung der Rollen der Protagonistinnen und Protagonisten, vor allem jener der drei Frauen, also der Mutter und Gatten-Mörderin Klytämnestra und deren Töchter Chrysothemis und Elektra. Und da wiederum ist es Elektra, die vom Regisseur nach allen Erkenntnissen bzw. Anleihen aus der Tiefenpsychologie Siegmund Freuds und C. G. Jungs äußerst treffend typisiert und unnachahmlich charakterisiert wird. Die weltweit gefeierte schwedische Sopranistin Iréne Theorin setzt die von kindlicher Vaterliebe und abgrundtiefen Hass- und Rachegefühlen gegenüber der Mutter regelrecht besessene Tochter darstellerisch elektrisierend und stimmlich hochdramatisch wie strahlkräftig in Szene und verausgabt sich stimmlich und spielerisch bis in die letzte Erschöpfung. Zusammen mit - dramaturgisch gesehen eher gegen - Mutter und Schwester wird sie so zum Zentrum und Motor dieser nach wie vor atemberaubenden Werk-Deutung. Dabei vermag die litauische Mezzo-Sopranistin Violeta Urmana mit ihrem ausdrucksvollen Mezzosopran der geifernd-abgründigen Mutter Klytämnestra gleichzeitig Dämonie und Größe zu geben, während Simone Schneider auf fast anrührende Weise den Charakter der schwankend-zerrissenen, aber auch fraulich-einfühlsamen Chrysothemis herausarbeitet. Zusammen machen diese drei herausragenden Sänger-Darstellerinnen dieses Trio zu einem stimmlichen und szenischen Ereignis allerersten Ranges.

ELEKTRA - Staatsoper Suttgart - Szenefoto @ Martin Sigmund

Großen Anteil am beeindruckenden Erfolg dieser wieder erweckten Stuttgarter Produktion hat Cornelius Meister am Pult des Staatsorchesters. Er lässt der Partitur ihren Erzählfluss und die Musik entsprechend ungehemmt fließen, gestaltet aber auch die dramatisch-psychologisierenden Entwicklungen klug und äußerst packend und verstärkt so kongenial die emotionalen Ausbrüche und seelischen Verwerfungen des singenden Personals. Dirigent und Orchester schaffen stupende Wechsel von einem warmen, klaren zu einem dann wieder abgrundtief-bedrohlichen Klang. Dabei verlieren der Stuttgarter Generalmusikdirektor und seine in (fast) voller Originalbesetzung angetretenen Musikerinnen und Musiker nie die Balance zwischen Graben und Bühne „aus den Ohren“ und sorgen trotz größter musikalischer Eruptionen fast durchgehend für Transparenz, stimmliche Präsenz und musikalische Gleichberechtigung.

ELEKTRA - Staatsoper Suttgart - Szenefoto @ Martin Sigmund

Für eine kaum noch zu überbietende Beklemmung sorgt Peter Konwitschny zum Schluss dieses musikalischen Reißers: Der scheinbare Retter und Rächer Orest, von Paweł Konik anfangs leicht nervös-unsicher gegeben, wird, unterstützt und angetrieben durchs seinen Diener und „Pfleger“ (Sebastian Bollacher), zum neuen Gewaltherrscher und blutrünstigen Despoten. Als solcher ermordet er nicht nur seine Mutter und deren Liebhaber Aegisth, der von Matthias Klink darstellerisch selbst kühl-berechnend und stimmlich äußerst überzeugend verkörpert wird, sondern meuchelt auch seine Schwestern und richtet zusammen mit seinem Adlaten auch noch unter der herbeieilenden Bevölkerung in Figur von Opernchor und reichlich Statisterie ein Blutbad an. Wie das dazu aus Lautsprechern ertönende Maschinengewehr-Geknatter mit der Musik von Richard Strauss amalgamiert, geht unter die Haut, ja lässt einen angesichts der aktuellen Zustände auf der Welt geradezu erschaudern.

Das Publikum im vollbesetzten Stuttgarter Opernhaus goutiert das Gesehene und Gehörte mit lang anhaltendem Applaus, ja riesigem und ungetrübten Jubel.

Weitere Aufführungen am 8., 11. und 15. April sowie als konzertante Gastspiele am 29. April im Théatre des Champs-Elysées in Paris sowie am 21. Mai in der Kölner Philharmonie

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