Stuttgart, Staatsoper, DORA - Bernhard Lang, IOCO

DORA: Die versuchte Vertreibung der Langeweile mittels teuflischer Mittel -oder ein Libretto (extra) für Stuttgart: An der Staatsoper Stuttgart wurde am 3. März 2024 Bernhard Langs Oper DORA uraufgeführt

Stuttgart, Staatsoper, DORA - Bernhard Lang, IOCO
Oper Stuttgart © Matthias Baus

Die versuchte Vertreibung der Langeweile mittels teuflischer Mittel -oder ein Libretto (extra) für Stuttgart: An der Staatsoper Stuttgart wurde am 3. März 2024 Bernhard Langs Oper DORA uraufgeführt

von Peter Schlang

Trotz allgemeinen Sparzwangs und einer hartnäckig behaupteten Kultur-dämmerung wartet der Kulturbetrieb immer wieder mit großen Überraschungen und mit von vielen nicht mehr für möglich gehaltenen kulturellen Großtaten auf. Dazu gehört in diesen Zeiten ganz bestimmt auch die leibhaftige Uraufführung einer Oper, erst recht, wenn diese von einem staatlich und kommunal geförderten Opernhaus in Auftrag gegeben wurde.

So geschah es in Stuttgart, wo am ersten Märzsonntag die von der Stuttgarter Staatsoper bei dem Librettisten Frank Witzel und dem österreichischen Komponisten Bernhard Lang „bestellte Oper“ Dora in der Regie Elisabeth Stöpplers und unter der musikalischen Leitung von Elena Schwarz vor ausverkauftem Haus erstmals der Öffentlichkeit gezeigt und zu Gehör gebracht wurde. Dass die Wahl der Stuttgarter Operndirektion und -dramaturgie gerade auf diese beiden Künstler fiel, ist sicherlich kein Zufall, gehören doch beide in ihrer Zunft zu den führenden und produktivsten Köpfen.

DORA - Staatsoper Stuttgart youtube Staatsoper Stuttgart

So ist der 1955 geborene Schriftsteller und Musiker Frank Witzel spätestens seit Erscheinen seines Romans "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ im Jahr 2015 und dessen Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis einer der gefragtesten und häufig gelesenen deutschsprachigen Autoren. Der 1957 in Linz zur Welt gekommene Bernhard Lang hat mit seinen bisher 19 Opern und seinem darin bis zur Meisterschaft umgesetzten Kunstmittel der Loops, also der musikalischen Wiederholung, eindrucksvoll bewiesen, dass er Musik nicht nur für eine (Ur-) Aufführung zu schreiben weiß, sondern mit seiner Musikdramaturgie Zuhörende des 20. und 21. Jahrhunderts aller Altersstufen zu fesseln vermag.

„Wer aber ist Dora?“, wie eine Werbekampagne der Stuttgarter Oper wochenlang im Stadtgebiet fragte. Nun, die von Frank Witzel geschaffene Dora ist eine junge Frau Mitte Zwanzig, nach heutiger Lesart also eine Angehörige der Generation Z oder jener der Millennials. Oberflächlich betrachtet, scheint sie auf der Suche nach der viel beschworenen Work-Life-Balance zu sein, in Wirklichkeit sucht sie aber nach viel mehr, etwa nach sich selbst oder nach dem Sinn ihres Lebens, dessen sie gleichzeitig ziemlich überdrüssig scheint. Dies und die damit einhergehende Passivität und Antriebslosigkeit bringt ihr den Ärger ihrer selbst in die Arbeitslosigkeit gerutschten Eltern und ihres um seinen eigenen Vorteil bangenden Bruders ein.

DORA hier Szenefoto @ Martin Sigmund

Um dieser Mesalliance zu entkommen und wenigstens irgendeine Aktivität an den Tag zu legen, sucht sie - mit der logistischen Unterstützung ihrer ihr als einzigem Familienmitglied gewogenen jüngeren Schwester - nach uraltem und archetypischen Muster Kontakt zum Teufel. Dora macht sich also nicht in die reale Welt auf, sondern sucht ihr Heil im Überwirklichen, Jenseitigen, Außerirdischen. Dieser erwartete Heilsbringer kommt ihr jedoch in der alltäglichen Person eines Beamten oder Vertreters so banal entgegen, dass sie ihn um keinen Preis erkennt und sein metaphorisches Geraune in keiner Weise auf sich beziehen kann. Das ändert sich auch nicht wirklich, als der vom Teufel in das Leben Doras bugsierte Berthold, Sekretär des örtlichen Landrats, aus enttäuschter Liebe und beruflichem Misserfolg versucht, sich mit Hilfe von Schlittschuhen in dem zu einen Umweltskandal gewordenen „Gründgens-See“ zu ertränken. Dieser Suizidversuch misslingt, weshalb Berthold, in der Folge an den Rollstuhl gefesselt und sprachgestört, ständig auf fremde Hilfe angewiesen ist. Dora scheint gewillt, ihm diese Unterstützung zu gewähren, was sich auch in einer ausgedehnten sprachlichen und musikalischen Betrachtung der adversativen, also einen Gegensatz einleitenden Konjunktion „sondern“ ausdrückt.

Der Librettist Frank Witzel verpackt diese Handlung in einen modernen, sprachlich verknappten und stilistisch dem Rap und dem Kabarett und den zumindest früher dafür typischen Couplets ähnelnden Text, dem eine höchst musikalische Wirkung innewohnt und der einen ungeheuren Drive entfaltet. Beim genauen Hören erkennt man, welch dichter Wirkungs-Zusammenhang zwischen Witzels Text und Langs Musik besteht und wie eng sich deren zwei Schöpfer während des Entstehungsprozesses dieses grandiosen neuen Musik-Theater-Werks begleiteten und austauschten. So erlebt man ein wahres Feuerwerk der Dialoge, vor allem bei jenen zwischen Dora und ihrem teuflischen Widerpart, welche die sparsame Handlung unterstreichen und beleben und ein zu starkes Übergewicht des philosophischen Gehalts verhindern. Allerdings führt dieses hohe Tempo gelegentlich dazu, dass manche Pointe an Wirkung verliert oder untergeht.

DORA hier Szenefoto @ Martin Sigmund

Das jedoch wird durch die musikalische Qualität, Raffinesse, Fantasie, ja Zauberkraft der Partitur mehr als ausgeglichen. Langs Musik fesselt von den ersten, einschneidenden Tönen der in den beiden Proszeniumslogen und in der Königsloge positionierten drei Schlagzeuger bis zu deren Epilog nach gut eineinhalb pausenlosen Stunden. Dazwischen demonstriert der Komponist nicht nur seine Kunst der genialen Loops, mit denen er musikalische Motive in Wiederholungsschleifen zieht und damit Doras Gefühl spiegelt, im Immergleichen gefangen zu sein. Er zeigt mit ihnen auch, dass sogar in der Wiederholung eine gewisse Veränderung und Entwicklung und damit ein neuer Reiz steckt.  Dabei nimmt Lang sein Publikum auf eine magische Reise durch die Musikgeschichte und deren Stilvielfalt mit, bei der man kunstvoll eingebauten Zitaten aus Werken von Verdi, Richard Strauß, Wagner, Gounod, den „Brecht-KomponistenWeill und Dessau, Schubert aber auch aus der Pop-Musik, wie etwa Pink Floyd, und gar aus Volksliedern begegnet.

Zielgenau abgestimmt auf den jeweils deklamierten Text, erhalten diese Rückgriffe auf die Musikgeschichte einen witzig-doppelten Boden und erhöhen so, zumindest bei erfahrenen, kundigen Hörenden, den Kunstgenuss und Erkenntnisgewinn. Dieser wird durch den in jeder Hinsicht genialen Schachzug des Komponisten-Autorenduos ermöglicht, den aus der antiken Tragödie, aber auch manch zeitgenössischen Theaterstücken bekannten Chor mit den Aufgaben des Kommentierens, in Frage Stellens, Weiterbringens der Handlung und „Dora auf die Sprünge Helfens“ zu betrauen. Die auf Uraufführungen neuer Musikwerke spezialisierten, um ein paar Gäste erweiterten neuen Vocalsolisten treten hier an die Stelle des Chors der Staatsoper und erfüllen diese anspruchsvolle Aufgabe mit höchster gesanglicher wie darstellerischer Präzision, ja geradezu stimmlicher Akrobatik.  Sie sorgen so für einen ungeheuer hohen akustischen und dank ihrer ganz unterschiedlichen, häufig wechselnden Kostüme auch optischen Unterhaltungswert.

Diese Zuschreibungen und Lobes-Bezeugungen gelten uneingeschränkt auch für die Gesangssolistinnen und -solisten, als da sind Shannon Keegan als epigonenhaft-solidarische Schwester und Dominic Große als aufsässig-egoistischer Bruder Doras. Maria Theresa Ullrich und Stephan Bootz als Doras Eltern zeigen sängerisch und schauspielerisch perfekt, welche Dynamik „kindliches“ Verhalten auf die einstmals Erziehenden auszuüben im Stande ist, vor allem aber, was plötzlicher Wohlstand an Verhaltensänderungen bewirken kann.

Die unbestrittenen Stars dieses grandiosen Opernspektakels aber sind Josefin Feiler als mal manisch, mal depressiv wirkende oder ahnungslos dahintappende, aber auch zielgerichtet-entschlossene Dora, die ihre lange, alle Stimmlagen und Ausdrucksformen ausreizende Rolle ohne jeden Makel, absolut betörend, ja  mitreißend meistert, und die ihr körperlich-persönlich am nächsten kommenden  zwei Sängerkollegen, Elliot Carlton Hines als körperlich wie seelisch verletzter Berthold und Marcel Beekmann als genial quengelnde, stark aufdrehende und oft  hektische Mephisto-/Teufels-Nervensäge. Was diese drei famosen Sänger-Darsteller in ihren Monologen oder in wechselnden Duett-Szenen an stimmlich-expressiver Verwandlungskunst bieten, macht allein schon den Abend zu einer Sensation.

Dass diese Charakterisierung aber auch für die gesamte musikalische Leistung gilt, ist sicherlich auch ein Verdienst der jungen schweizer-australischen Dirigentin Elena Schwarz, die alle Klänge und Anklänge und die diese erzeugenden Musikerinnen und Musiker im Graben und anderswo sowie die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne mit höchstem musikalischem und musikdramatischem Gespür, genialer Übersicht und großem Einfühlungsvermögen führt, inspiriert und koordiniert.

Fehlt zum Schluss ein Blick auf das Team um die eingangs erwähnte Regisseurin Elisabeth Stöppler: Zusammen mit dem für die Bühne und die Kostüme verantwortlich zeichnenden Valentin Köhler, der für die richtige Beleuchtung sorgenden Elana Siberski und den die Videosequenzen beisteuernden Vincent Stefan schafft Stöppler es im Quartett, die herausfordernden Vorgaben und Vorlagen von Partitur und Libretto sinnstiftend, theaterwirksam und insgesamt sinnlich erhellend umzusetzen und zu ergänzen. Dass die vier dabei stellenweise etwas zu viel des Guten auf die Zuschauerinnen und Zuschauer loslassen und jenen so manchmal das Denken glauben abnehmen zu müssen, schadet dieser famosen Blitzreise durch die Musik- und Mythengeschichte nicht entscheidend. Und den Unterhaltungswert dieses phänomenalen Opernstreichs kann es auch nicht schmälern.

So erlebt das begeisterte, in fast frenetischen Jubel fallende Publikum an diesem denkwürdigen Märzsonntag mit DORA einen wirklich teuflisch guten Opernabend, dem auch bei den folgenden Aufführungen eine enthusiastische und fasziniert mitgehende Zuhörerschaft sicher sein dürfte.

 

 

 

Weitere Aufführungen am 8., 15. und 22. März sowie am 1. und 4. April

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