Stuttgart, Staatsoper, DIE WINTERREISE – F. Schubert/H. Zender, IOCO
Dissonanzen-Tanz zum Totensonntag – An der Staatsoper Stuttgarter erlebt „Schuberts Winterreise“ des 2019 verstorbenen Hans Zender ihre fulminante Wiederaufnahme.
von Peter Schlang
Im März 2020, also im ersten Coronajahr und damit unter großen Einschränkungen, wurde an der Stuttgarter Staatsoper Hans Zenders „Überschreibung“ von Franz Schuberts berühmtem Liederzyklus Die Winterreise in der szenischen Interpretation des niederländischen Filmkünstlers Aernout Mik (ur-)aufgeführt.
Am 23. November 2024 kam diese szenische Produktion von Zenders „komponierter Interpretation“ der Winterreise wieder in den Stuttgarter Spielplan, was nichts weniger bedeutet, als dass sie erstmals unter „normalen Bedingungen“ und im nahezu voll besetzten Stuttgarter Opernhaus zu erleben war.
Hans Zender, Dirigent, Musikpädagoge und Komponist, zu dessen Spezialitäten und Vorlieben in seiner letztgenannten Rolle es gehörte, Werke anderer Komponisten zu bearbeiten, sie mit eigenen Ergänzungen und Stilmitteln zu überschreiben und damit auf die Veränderungen von Hörgewohnheiten zu reagieren, schuf diese Fassung für ein 25-köpfiges Orchester im Jahr 1993. Damit gelang ihm eine sehr präzise „akustische Illustration“ der einzelnen Lieder Schuberts sowie deren psychologisch und musikdramatisch zupackende und äußerst aussagestarke instrumentale Erweiterung. Ohne Schuberts originalen (Hammer-)Klavierpart zu entwerten, dient dies der Betonung des inneren Geflechts der 24 Lieder der Winterreise und der Ausgestaltung und Vertiefung deren szenischer Atmosphäre. Wie dieser „zweite Premierenabend“ bewies, berührt diese Fassung auch noch heute, über dreißig Jahre nach ihrer Uraufführung und vier Jahre nach ihrer szenischen Premiere an der Staatsoper Stuttgart, zutiefst. Ja, sie macht die Zuhörenden und Betrachtenden zu Begleitenden, Mitleidenden und zumindest zeitweiligen Seelenverwandten von Schuberts und Zenders Wanderer.
Überragenden Anteil daran hat natürlich der Solist dieser Produktion, der wie schon bei den Aufführungen vor vier Jahren phänomenale, alle Grenzen der Darstellungs- und Gesangskunst auslotende und diese nicht selten überschreitende Tenor Matthias Klink. Er verleiht der inneren Zerrissenheit und den seelischen Verletzungen von Schuberts Protagonisten eine Intensität und einen realistischen Ausdruck, der niemanden kaltlassen dürfte, sondern zutiefst bewegt und spielend und singend Assoziationen zum eigenen Leben wie zu fremden Schicksalen hervorruft. Das gilt schon unmittelbar für den Auftakt des Liederreigens, die (gar nicht so) „Gute Nacht“, bei der Klink der geschilderten Fremdheit genauso Raum und Gestalt gibt wie den (seltenen) schönen Erinnerungen und liebevollen Gefühlen. In der darauffolgenden Wetterfahne überträgt dieser Ausnahmesänger das Jaulen der Windmaschine auf seinen eigenen inneren Zustand, dessen dunkle und verzweifelte Stimmung er wie eine Sturmböe nach draußen schreit. Wer jetzt glauben sollte, dass diese Bodenlosigkeit nicht mehr steigerbar ist, darf in den „Gefrornen Tränen“ und in der „Erstarrung“, also im 3. und 4. Lied, weitere Wunder lied-dramatischer Gestaltungskunst bestaunen. Das setzt sich so über die gesamten 90 Minuten dieses dichten, sprichwörtlich unter die Haut gehenden Opernabends fort. Matthias Klink nutzt mit sicherem Gespür für die jeweilige Situation und fast schon schlafwandlerischer Sicherheit seine Fähigkeiten, Erfahrung und Gewandtheit sowie den ihm von der Regie geschenkten künstlerischen Freiraum, um den von Zender nahezu unverändert belassenen Vokalpart analog zur Partitur, aber auch in Ergänzung und Erweiterung des Orchesters, zu einer atemberaubenden Demonstration von allerhöchster Vokalkultur und Darstellungskunst werden zu lassen.
Dabei schreitet und füllt er geschickt die ihm von der Regie zugewiesenen Flächen (Neben dem Podium am vorderen rechten Bühnenrand mit einer Bank als einzigem Ausstattungsgegenstand sind dies diverse Standorte im Orchester, aber auch die Wege dazwischen.), um seiner inneren Unruhe und Verstörtheit auch körperlich Ausdruck zu verleihen. Dieser Wanderer ist, wie es sein Name nahelegt, nicht nur äußerlich, sondern auch im tiefsten Inneren rast- und ruhelos und folgerichtig fast ununterbrochen in Bewegung. Dies veranschaulicht sein Darsteller auch mit seiner ungemein intensiven Mimik und einer vielen Regungen und Gedanken glaubhaft und nachvollziehbar machenden Körpersprache.
So besteht zu keinem Moment dieser packenden Aufführung die Gefahr, dass diese zu einem Podiumskonzert und damit zu einem klassischen Liederabend „verkommen“ könnte. Vielmehr formen Regisseur und Sänger aus den Vorlagen Schuberts, Zenders und vor allem des Textdichters Wilhelm Müller ein Lebensdrama, das Erlösungshoffnung, Ausweglosigkeit und Todessehnsucht genauso fesselnd auf die Opernbühne bringt, wie es das menschliche Zeitempfinden verfremdet und seine Gegensätzlichkeit unterstreicht.
Ja, wenn diese Winterreise ein allgemeines und übergeordnetes und gar zeitloses Thema behandelt oder Ziel verfolgt, ist dies - neben anderem - die Schärfung von Gegensätzen, Konturen und Schattierungen an Empfindungen und Wahrnehmungen, welche das einzelne Leben wie die gesellschaftliche Wirklichkeit so interessant wie kompliziert machen.
Die Zuschauenden und Zuhörenden überwinden so die durchaus mögliche Distanz zum Sänger-Darsteller und der von ihm verkörperten Figur und erhalten spielerisch die Möglichkeit, in deren seelischen Zustand, ihr Suchen, (Ver-)Zweifeln und ihre Todessehnsucht einzutauchen.
Die locker eingestreuten vorgefertigten Videosequenzen mit Darstellungen tagesaktueller Szenen sowie die live aufgenommenen und übertragenen Aufnahmen von Matthias Klinks Körper bzw. bestimmte Körperteile mögen an der einen oder anderen Stelle etwas zu viel des Guten sein. Sie fügen aber Handlung und Deutung von Zenders Schubert eine weitere Ebene hinzu, die einen anderen, hilfreichen Blick auf die uns heute oft bedrohlich und feindlich entgegenkommende Realität ermöglicht und zu entsprechendem Nach- und Weiterdenken über die aktuellen gesellschaftlichen und technischen Herausforderungen ermutigt.
Auch die Musikerinnen und Musiker des Staatsorchesters, darunter neben den einfach besetzten fünf Streicherstimmen, fast komplettem Bläserchor, mehrfachem Schlagwerk, Harfe, Gitarre und Akkordeon auch zwei, eigens für diese Zender‘sche Fassung gefertigte, Windmaschinen, leisten unter der ungemein präzisen und jederzeit packenden Leitung Stefan Schreibers ihren bewundernswerten Beitrag zu einem äußerst dichten und ungeheuer faszinierenden Musiktheater-Abend.
Es scheint durchaus vorstellbar, dass das Publikum zu Schuberts Zeit eine ähnlich unter die Haut gehende Wirkung verspürt hat wie die Menschen in der Stuttgarter Oper knapp zweihundert Jahre später. Das wäre ein weiterer schöner Nebeneffekt von Hans Zenders „Schuberts Winterreise“!
Weitere Vorstellungen am 8. Dezember 2024 und am 4. Januar 2025
Informationen und Tickets: Link hier