Stuttgart, Oper Stuttgart, Medea von Luigi Cherubini, IOCO Kritik, 09.12.2017
Medea von Luigi Cherubini
Vom vergeblichen -?- Kampf der Frauen gegen eine „patriarchalisch verkommene Gesellschaft“
Von Peter Schlang
Da sitzt sie, Medea, eindrucksvoll verkörpert von Cornelia Ptassek, bedächtig und in sich gekehrt, einen Apfel (!) kauend, am Strand von Korinth, begleitet vom Vorspiel zum dritten Akt von Luigi Cherubinis nach ihr benannten Oper. In dieser zweiten Zwischenaktmusik kracht, rumpelt, brodelt und donnert es gewittrig und genauso vehement, wie sich gleich die inneren Kämpfe, ja Konflikte Medeas offenbaren werden. Diese haben sich dem Zuschauer schon im zweiten Akt gezeigt und werden im dramatischen Finale des dritten Aktes ihrer blutigen Lösung zustreben.
Peter Konwitschny inszeniert an der Staatsoper Stuttgart Luigi Cherubinis Oper Medea als aktuelle Anklage gegen männlichen Herrscherwahn und als Warnung vor tödlichem Konsum.
Dies ist nur ein Höhepunkt der an eindrücklichen Bildern und Momenten wirklich nicht armen Neuinszenierung von Luigi Cherubinis am 13. März 1797 in Paris uraufgeführten Oper Medea, die am Abend des 1. Adventssonntags in der Stuttgarter Staatsoper ihre umjubelte Premiere feierte. Für diese zeichnete mit Peter Konwitschny einer der ganz Großen der aktiven Opernregisseure verantwortlich, und der Berichterstatter erlaubt sich bereits an dieser Stelle das Urteil, dass die dadurch geweckten Erwartungen zu keiner Minute dieses fesselnden Opernabends enttäuscht wurden.
Nicht unwesentlich trug dazu die von der Dramaturgin Bettina Bartz und Werner Hintze speziell für diese Stuttgarter Neuproduktion angefertigte deutsche Fassung des ursprünglich von Francois-Benoît Haller stammenden französischen Original-Librettos bei. Auch die Entscheidung Konwitschnys und seiner Dramaturgin, die zwischenzeitlich bei Medea-Aufführungen gebräuchlichen Rezitative wieder durch die von Cherubini ursprünglich vorgesehenen gesprochenen Dialoge, allerdings in einer modernen, vom Regisseur stammenden Einrichtung, zu ersetzen, erwies sich als absolut schlüssig und dramaturgisch wie theatralisch hilfreich.
Euripides gestaltet in seiner 431 v. Chr. uraufgeführten Tragödie Medea eine Episode aus dem Argonauten-Mythos: Medea, Tochter des Königs von Kolchis, hatte sich in den Griechen Iason verliebt. Um ihm zu helfen, das Goldene Vlies zu rauben, hinterging sie ihren Vater und zerstückelte ihren kleinen Bruder. Nach ihrer Flucht zogen Medea und Iason heimatlos mit ihren beiden Kindern durch Griechenland. Zu Beginn der Oper hat Iason Medea verlassen, denn Kreon, König von Korinth, ist bereit, ihm und den Kindern unter der Bedingung Asyl zu gewähren, dass Iason Kreons Tochter Kreusa heiratet und ihm das Goldene Vlies - quasi als Brautpreis - überlässt. Doch die geplante Hochzeitsfeier und die erträumte harmonische Zukunft der neuen Patchwork-Familie wird durch das Auftreten Medeas und ihrer Zofe Neris nachhaltig gestört, denn die verlassene und verratene Ehefrau will ihren untreuen Mann für seinen ungeheuren Verrat auf ebenso ungeheure Weise bestrafen…..
Konwitschny liest Medea als Fabel der weiblichen Befreiung, des Aufbegehrens gegen männliche Bevormundung und Entmündigung, das ihrem betrügerischen Mann Iason genauso gilt wie dessen designiertem Schwiegervater Kreon. Der Regisseur billigt Medea und damit auch anderen Frauen in ihrem Befreiungskampf gegen die sie bevormundenden und entwürdigenden Männer und ihre Machismen das Recht auf jedes Mittel zu, auch das der schlimmsten Gewalt, was in Medeas Fall bedeutet, die eigenen Söhne zu töten.
Als zweite und ebenso aktuelle Ebene zeigt die Stuttgarter Interpretation des antiken, aber noch immer aktuellen Stoffes den Kampf gegen die Verdrängung von Gewalt und Unterdrückung durch Konsum und gegen die Beschränkung auf Privates, Unpolitisches, also den Rückzug aus der gesellschaftlichen Verantwortung.
Dafür finden Konwitschny und der ihm seit vielen Jahren verbundene Bühnen- und Kostümbildner Johannes Leiacker, der erstmals in Stuttgart tätig war, äußerst aktuelle und aus unserem Alltag vertraute Bilder, sei es, dass die Hochzeitsfeier Iasons und Kreusas und die dazu erklingende Musik durch die Zustellung zahlreicher Hochzeitsgeschenke mehrfach unterbrochen wird, ehe dann beim fünften Läuten der Hausglocke die auf Rache bedachte Medea vor der Tür steht und damit die Hochzeitsvorbereitungen endgültig (zer-)stört. Auch die mit allerhand Wohlstandsmüll umgebene, völlig heruntergekommene Wohnküche im Palast (?) Kreons, welche in allen drei Akten eine recht beengte, aber dramaturgisch äußerst sinnvolle und handlungsdienliche Einheitsspielfläche abgibt, spielt auf die gesellschaftlichen und politischen Entgleisungen in diesem Staatswesen an. Dadurch drängt sich der Vergleich mit der aktuellen Situation in einigen Staaten geradezu auf. Dies gilt auch für die zu erlebenden Figuren, seien es die in bunter, billig in Fernost gefertigter Massenkonfektion steckenden Untertanen oder deren Führungspersonal, das sich wie die zur Hochzeit Geladenen in Konsum- wie in Gewaltexzessen ergeht. Letztere richten sich ausnahmelos gegen die als Eindringlinge und Störenfriede betrachteten fremden Frauen, also Medea und Neris, die von Kreon zum Oralsex gezwungen bzw. vom auf die Ausführung der Trauzeremonie wartenden katholischen Priester hinter der Bühne vergewaltigt werden. Hier und in vielen anderen Szenen und bedrückenden Bildern der gut zwei Stunden dauernden, durch keine Pause unterbrochenen Handlung zeigt der Regisseur nicht nur seinen klaren Blick auf menschliche Egoismen und gesellschaftliche Verwerfungen, die er, zusammen mit seinem kongenialen Ausstatter Johannes Leiacker, durch klare Anspielungen auf das gegenwärtige Flüchtlingselend und aktuelle Zeitgeschehen nochmals mitten in unserer Zeit verortet. Er lässt den aufmerksamen Betrachter aber auch an seiner immer wieder durchscheinenden und in vielen Arbeiten und Gesprächen bekräftigten Hoffnung teilhaben, dass man durch Kunst und entsprechende Darstellungen die Welt tatsächlich verändern, mindestens aber die Menschen zum Nachdenken bringen könne und diese als Folge ihrer Reflexion vielleicht zu“ klügeren, sensibleren, vor allem aber menschlicheren Wesen“ werden mögen.
Inwieweit Konwitschny dies mit seiner ausdrucksstarken, aufrüttelnden Stuttgarter Medea gelungen ist, kann man natürlich nur schwer nachprüfen oder gar beweisen. Dass er die Stuttgarter Premierengäste aber angesprochen, gefesselt und begeistert hat, war am Sonntagabend während der gesamten Aufführung und nicht nur beim begeisterten Schlussapplaus mit Händen zu greifen.
Dieser galt natürlich zunächst den Darstellern der fünf Hauptpersonen des Dramas. Hier ist nicht nur wegen des Bezugs zum Operntitel und des Umfangs und Gewichts ihrer Rolle an erster Stelle die fabelhafte Sopranistin Cornelia Ptassek zu nennen, die ihrer Medea über zwei Stunden hinweg eine atemberaubende, unter die Haut gehende darstellerische und sängerische Präsenz verlieh, die von großer Wandlungsfähigkeit, höchster stimmlicher Flexibilität und Präzision und überragenden schauspielerischen Fähigkeiten gespeist wird. Sie wurde somit dieser anspruchsvollen und an vielen Stellen an die Grenzen des stimmlich und darstellerisch Möglichen gehenden Rolle zu jeder Zeit gerecht und begeisterte nach ihren Rollenportraits der Ariadne in Richard Strauss‘ Ariadne auf Naxos und der Sängerin in Philippe Boesmans‘ Reigen erneut das Stuttgarter Publikum.
Nicht nur inhaltlich-dramaturgisch zur Seite stand ihr die famose Helene Schneiderman als Neris, die genau wie die anderen - noch zu lobenden - Darsteller nicht nur dem Stuttgarter Ensemble angehört, sondern an diesem Abend auch ihr Rollendebüt gab. Sie, seit 1984 in Stuttgart wirkend und somit eines der Urgesteine der hiesigen Sänger/innen-Garde, überzeugte einmal mehr stimmlich wie darstellerisch und bewies, welch großartige Künstlerpersönlichkeit sie noch immer ist und wie eine solche auch eine Nebenrolle zum Bühnenereignis machen kann.
In der Rolle von Iasons verhinderter, unglücklicher wie missbrauchter zweiter Ehefrau Kreusa demonstrierte die junge, aber schon immens ausdrucksstarke Josefin Feiler ihre enormen stimmlichen Qualitäten, von denen hier explizit die große Beweglichkeit und der jederzeit hörbare Schmelz hervorgehoben seien.
In dieses famoses Frauentrio reihten sich die beiden männlichen Darsteller ohne Abstriche eindrucksvoll ein: Sebastian Kohlhepp ist ein in allen Lagen äußerst sicherer, den Facettenreichtum seiner schönen Stimme gekonnt wie passend einsetzender Iason, der auch gestalterisch jederzeit präsent ist und dem man seine Verletzbarkeit und Zerrissenheit ebenso abnimmt wie seine immer wieder aufblitzende Kaltschnäuzigkeit.
Als Iasons „Fast-Schwiegervater“ Kreon lässt einen der japanische Bariton Shigeo Ishino immer wieder frösteln. Dies rührt weniger von seiner schön geführten, deutlich artikulierenden Stimme her als vielmehr von der Unverfrorenheit und kalten Herrschsucht, mit der er beim Beobachter immer wieder Assoziationen an leibhaftige Figuren der aktuellen Weltpolitik heraufbeschwört.
Von den Gesangssolisten sind abschließend neben den zum Stuttgarter Opernstudio gehörenden beiden Sängerinnen Aoife Gibney und Fiorella Hincapié als hippe wie schrille Brautjungfern unbedingt die beiden Chorknaben Johannes Rempp und Justus Laukemann vom Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart zu erwähnen. Sie heben die beiden Söhne Medeas und Iasons weit über den Status von Randfiguren hinaus und machen sie vor allem darstellerisch und dramaturgisch zu treibenden Kräften der Handlung, nicht zuletzt weil sie als Angehörige der jungen Generation zu mehrfachen Opfern der egoistischen verwerflichen Handlungsweise ihrer Eltern(-generation) werden.
Zu guter Letzt fehlt noch eine Würdigung der beiden unverzichtbaren wie meist unangreifbaren Kollektive der Stuttgarter Oper, die auch an diesem Abend einen hohen Anteil am Gelingen dieser absolut sehens- und hörenswerten Neuproduktion haben. Obgleich vom Komponisten mit vergleichsweise leicht zu meisternden und eher schlichten, das einfache Volk präsentierenden Chorsätzen betraut, ist der von Christoph Heil mustergültig vorbereitete Staatsopernchor Stuttgart wieder ein Garant für musikalische Güte wie für darstellerische Vielseitigkeit und Begeisterung. Egal ob als saufende und dumpf feiernde Hochzeitsgesellschaft oder als gewalttätiger, blind dreinschlagender und mordender Mob: Dieses Ensemble begeistert und überzeugt so sehr, dass man gleichzeitig zutiefst wünscht, solchen Typen nicht in der Realität begegnen zu müssen.
Das vom argentinischen Dirigenten Alejo Pérez mit großer Umsicht und dennoch packender Musikalität geleitete Staatsorchester ist nicht nur dem Chor und den Solistinnen sowie Solisten ein zuverlässiger, sehr sängerfreundlicher Begleiter und Fundamentgeber, es überzeugt auch bei den instrumentalen Vor- und Zwischenspielen durch eine beachtliche Dynamik. So erlebt man eine luzide Transparenz, die etwa den Holzbläsern und Solostreichern enormen Raum lässt, wie dramatische Wucht und mitreißende Klangfluten, wie etwa in der bereits erwähnten Gewitterszene.
Insgesamt wird der Abend um die fremde, überall unerwünschte, ja verstoßene Medea zu einem in jeder Hinsicht nachhaltigen, aufrüttelnden und erschütternden Erlebnis, das jede und jeden im Publikum zu einem veränderten Verhältnis zu Verursachern wie Opfern männlicher Gewalt führen sollte, egal ob es sich um Flüchtlinge an südlichen europäischen Küsten oder um in Frauenhäusern Zuflucht suchende Frauen handelt.
Medea von Luigi Cherubini: Weitere Vorstellungen am 08. und 27. Dezember 2017, am 08., 15. und 31. Januar sowie 03. Februar 2018