Stuttgart, Oper Stuttgart, Die Puritaner von Vincenzo Bellini, IOCO Kritik, 27.05.2017
Stuttgarter Ballett | Oper Stuttgart
Stuttgart Opernhaus © A.T. Schaefer
"Angst vor der Freiheit und dem Einsatz des eigenen Verstandes"
Die Puritaner von Vincenco Bellini
An der Staatsoper sind wieder Jossi Wielers und Sergio Morabitos phänomenale Puritaner zu erleben
Von Peter Schlang
Nach fast einjähriger Pause kehrten am 21. Mai Vincenzo Bellinis Puritaner in der hoch gepriesenen Inszenierung des Hausherrn, Jossi Wieler, und seines Regiepartners, dem Chefdramaturgen der Stuttgarter Oper, Sergio Morabito, wieder auf die Bühne des Stuttgarter Opernhauses zurück. Von dort waren sie zum Ende der letzten Spielzeit nach nur sechs Aufführungen verschwunden, was nichts über die Qualität dieser Produktion, aber viel über den abwechslungsreichen und voll gepackten Spielplan der Staatsoper Stuttgart aussagt, auf deren Bühne in der laufenden Saison sage und schreibe 21 verschiedene Opern zu sehen sind bzw. waren.
So musste sich das Stuttgarter Publikum bis zu diesem zweitletzten Maisonntag gedulden, bis es Bellinis letzte Oper wieder zu sehen und zu hören bekam, die am 25. Januar 1835 am Théâtre Italien in Paris ihre umjubelte Uraufführung erlebt hatte.
Das bewährte Leitungs-Trio – zu den bereits genannten Herren gesellte sich erneut die geniale Ausstatterin Anna Viebrock – arbeitet auch in seiner dritten Stuttgarter Bellini-Oper die psychologisch und soziologischen Verwerfungen und Tiefen mit scharfen Kontrasten, beeindruckenden, vielschichtigen Bildern und einer faszinierenden Personenzeichnung und –führung heraus. Wieler-Morabito, die gerade ihre „Silberhochzeit“ als Regiegespann begingen, sind begnadete Geschichtenerzähler, wobei sie wiederum deutlich auch Aspekte des Theaters und dessen Realitätsbrechung betonen. Ihre Opernfiguren sind nicht bloß Träger ihrer Stimme und deren Ausdruckskraft, sondern schillernde Lebewesen mit tiefen Gefühlen und bedrückender, charaktervoller Ausdruckskraft. Unterstützt und betont wird dieses Seelenvolle der Figuren durch gekonnt eingesetzte Ausstattungsstücke wie eine Marionette, marod-verklebte Stühle oder das Spiel mit Totenschädeln.
Mit ihrem eigentlichen Bühnenbild, einem aus hohen Mauern bestehenden Raum mit Nischen, Fenstern und Balkonen, der gleichzeitig Burg, Kirche und Stadt darstellen kann, schafft Anna Viebrock einen kongenial-düsteren äußeren Rahmen, der mit dazu beiträgt, die Seelen- und Gefühlswelt der Figuren spürbar und verstehbar zu machen. Dazu tragen auch die abgehängten, an die Wand gelehnten historischen Gemälde, die enthaupteten Heiligen- und Königsfiguren und eine rostende Eisenbrücke bei, welche die linken und die rechten Gebäudeteile, die sich im Übrigen häufig verschieben, wie eine brüchige Korsettstange verbindet. Diese Installation setzt genauso pausenlos Assoziationen frei, wie sie auch die Beziehungen und - vor allem - die Kontraste von Musik und Handlung schonungslos offenlegt.
Gegenüber der Aufführungsserie nach der Premiere gab es einen Wechsel in der musikalischen Leitung, die nun dem italienischen Dirigenten Manlio Benzi übertragen worden war. Er steuerte das Staatsorchester Stuttgart, das hier bei Bellini erstmals in einer italienischen Oper wie in deren französischem Pendant ganz im Vordergrund steht, weitgehend souverän, mit feiner Agogik, gutem Gespür für Spannung und Gehalt der Partitur und durchweg brillanter musikalischer Italianità durch den Abend. Allerdings schien im stellenweise doch sein Temperament durchzugehen, so dass ihm der Orchesterklang vor der Pause an einigen Stellen zu massig geriet. Dies führte dazu, dass die, wie gleich zu beschreiben sein wird, tadellosen Sänger-Darsteller punktuell eher klanglich zugedeckt als begleitet wurden.
Die einzige beim siebenköpfigen Solistenensemble geplante Besetzungsänderung konnte nur schauspielerisch realisiert werden, denn die für die Rolle der Elvira vorgesehene Mirella Bunoaica hatte am Tag vor der Aufführung ein ärztliches Singe-Verbot erhalten. So spielte sie ihre Elvira stumm bzw. nur die Lippen bewegend, dafür mit ungebremster darstellerischer Überzeugungskraft und erschütternder Intensität. Als an der Seite am Notenpult stehende Sängerin lieh die bereits bei der Premiere begeistert gefeierte und nun spontan aus dem Ausland nach Stuttgart beorderte Ana Durlovski der Rolle der Elvira und damit auch ihrer erkrankten Kollegin ihre Stimme. Wegen der langen Pause zwischen dem Premierenzyklus und der Wiederaufnahme hatte die umsichtig und verantwortungsvoll agierende Opernleitung davon abgesehen, Ana Durlovski auch schauspielerisch in die für eine Belcanto-Oper sehr anspruchsvolle Regie einzubinden. Beide Akteurinnen bewältigten ihre für sie neuen Aufgaben bravourös und ohne jeden Makel und erhielten dafür vom begeisterten Publikum sowohl Szenen- als auch stürmischen Schluss-Applaus. Dieser wurde auch den schon in der letzten Spielzeit bewährten und gelobten Stuttgarter Ensemblemitgliedern völlig zurecht zu Teil: Die nur im ersten Akt auftretende, wie immer ohne jeden Tadel agierende Diana Haller als Enrichetta von Frankreich, Roland Bracht, ältestes aktives Stuttgarter Ensemblemitglied, in der Rolle Lord Valtons, Elviras Vater; der albanische Bariton Gezim Myshketa als Riccardo; der polnische Bassist Adam Palka als etwas zu juvenil wirkender, omnipräsenter Strippenzieher Giorgio, Elviras Onkel und Vertrauter und eigentlicher Erzieher, sowie Heinz Görig in der Rolle des Puritaner-Offiziers Bruno. Einziger Gast inmitten des Stuttgarter Ensembles ist wieder der uruguayische Tenor Edgardo Rocha, der erneut als Arturo brillierte, und alle stimmlichen Herausforderungen bis hin zum zweigestrichenen D im Duett mit Elvira im dritten Akt unerschrocken und ungetrübt meisterte
Bleibt zum Schluss noch, das auch in dieser Aufführung phänomenale, jederzeit stimmlich wie darstellerisch ohne jeden Makel präsente zweite Kollektiv des Abends zu würdigen, den Staatsopernchor Stuttgart, der von Johannes Knecht in genial-perfekter Weise auf seine Auftritte eingestellt worden war. Ihm werden von Bellini unzählige Chöre und turbae-förmige Einwürfe übertragen, so dass er zu den in dieser Oper meistbeschäftigten Akteuren gehört. Dabei wurden die knapp sechzig Sängerinnen und Sänger nicht nur gesangstechnisch, sondern erst recht darstellerisch bis aufs Äußerste gefordert, etwa wenn sie durch pantomimisch-artistische Verdrehungen und konvulsivische Zuckungen den Zustand der Erstarrung und Seelen-Kälte der puritanischen Gesellschaft unterstreichen oder deren Uniformität durch balletthafte Bewegungen verdeutlichen. Sie meisterten diese und andere Aufgaben aber mit einer Überzeugungskraft und Realitätstreue, dass dem Berichterstatter angesichts dieser puritanischen Freudlosigkeit, Borniertheit und des dahinter zum Ausdruck gekommenen Fundamentalismus das Blut in den Adern gefror.
Im Jahr 1834 forderte Vincenzo Bellini in einem Brief an seinen Librettisten Carlo Pepoli, dass „Eine Oper ...uns durch Gesang zum Weinen, Schaudern und zum Sterben bringen“ müsse. Bis auf das letzte Element setzen die „Stuttgarter Puritaner“ diese Ansprüche ohne Wenn und Aber um, und es wird im Nachhinein völlig klar, warum diese Produktion entscheidend mit dazu beigetragen hat, dass die Staatsoper Stuttgart im vergangenen Jahr zum wiederholten Male zum Opernhaus des Jahres gekürt wurde.
Die Puritaner an der Oper Stuttgart: weitere Vorstellungen 27. und 29. Mai, am 2., 6., 16., 23. und 26. Juni sowie 12., 15., 17. und 24. Juli2017