Stuttgart, Oper Stuttgart, Ariodante von G. F. Händel, IOCO Kritik, 15.03.2017
Ariodante von Georg Friedrich Händel
Ariodante an der Oper Stuttgart; Weitere Vorstellungen am 21. und 25. März sowie am 03., 11., 15., 18. und 21. April 2017
Von Peter Schlang
Tiefe Blicke in seelische Abgründe und hinter die Kulissen des Theaters Jossi Wieler und Sergio Morabito triumphieren mit Händels Ariodante
Im Jahre 1734 – Georg Friedrich Händel spürte scharfen Gegenwind durch andere Londoner Opernunternehmer und verlor künstlerisches Personal wie Publikum an die Konkurrenten – griff der Komponist als dritter Tonsetzer zu Antonio Salvios Libretto Ariodante aus dem Jahr 1708 und schuf dazu in gut zwei Monaten eine seiner letzten und gleichzeitig schönsten Opern. Diese Opernvorlage, die wiederum auf einer Episode aus Ludovico Ariostos 1516 erschienenem Heldenroman Orlando Furioso (Der rasende Roland) basiert, bedient wie das Renaissance-Original die Sehnsüchte des Publikums nach historischen Stoffen und barocker Verwicklungsdramatik. Salvio und sein Bearbeiter Händel ergänzen es aber um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und würzen den Stoff mit der Gegenreformation geschuldeten Moral-Lektionen, in diesem Fall dem sog. Schottischen Gesetz: Dies Gesetz besagt, dass eine beim Geschlechtsverkehr ertappte unverheiratete Frau ohne Rücksicht auf ihre juristische und moralische Schuld zum Tode zu verurteilen sei, vor dem sie nur durch einen männlichen Verteidiger gerettet werden kann, der den Anwalt der Anklage als Gegner im direkten Kampf besiegt.
In der Regie des eingespielten Duos Jossi Wieler und Sergio Morabito und unter der musikalischen Leitung des italienischen Spezialisten für historisch-informierte Aufführungspraxis Giuliano Carella feierte Ariodante am 5. März auf der Bühne des Stuttgarter Opernhauses Premiere und erlebte dort am 12. März seine 2. Aufführung, welche auch die Grundlage für die folgenden Gedanken und Impressionen bildet.
Das erfahrene Regiegespann Wieler/Morabito versucht gar nicht erst, die erwähnten und andere dem Stoff innewohnenden moralisch-historischen Aspekte zu thematisieren und auf ihre mögliche Aktualität hin zu überprüfen. Vielmehr bleiben die beiden ausgefuchsten Theaterleute bei ihrem großen Thema, dem Theater selbst, und loten am Beispiel des Ariodante aus, welche Funktion dem Theater bei der Realisierung von Ideen und Gedanken zukommt, wie es dabei vorgeht und wo und wie sich Bühnen, ihr Personal und ihr Publikum begegnen und unterstützen. Es geht also in erster Linie um die Bedingungen des Theaters und dessen Bezüge zur gesellschaftlichen Realität, was in der Konsequenz bedeutet, dass auf der Stuttgarter Bühne eher menschliche Affekte und Emotionen statt Personen zu besichtigen sind. Für diesen, stringent an frühere Stuttgarter Arbeiten des Stuttgarter Staatsopern-Intendanten und seines Regiepartners anknüpfenden Versuch baute Nina von Mechow, die nach einigen anderen Stuttgarter Entwürfen hier erstmals mit Jossi Wieler und Sergio Morabito zusammenarbeitete, einen an mehreren Stellen zu öffnenden einheitlichen Raum aus schwarzen Kunststoff-Elementen. Diese enden jedoch in Brust- oder Kopfhöhe, wirken somit wie Balustraden in einem Stadion oder in einer Sporthalle und geben den Blick weit auf die Brandmauern des Bühnenhauses und in dessen Höhen frei.
Aus diesen schwebt ein eindrucksvolles Beleuchtungsgeviert herab, in dessen Mitte ein Video-Würfel an entscheidenden Stellen der Handlung Regieanweisungen, Stückinformationen, Uhrzeiten oder Video-Sequenzen einblendet. Als Gegengewicht dieses von oben kommenden, bewusst betonten Theaterelements fährt wiederum bei dramaturgischem Bedarf ein Bühnen-Quadrat passgenau nach oben und dient so als Bühne auf der Bühne. Beide, sich kontrastierende wie ergänzende, Elemente der Theatertechnik nutzt das Regieteam für schlüssige wie waghalsige Bilder und Demonstrationen der Möglichkeiten des Theaters, die jedoch gleichzeitig durch ironische Brechungen als Illusion und Theater-Zauber entlarvt werden. Dieser Verfremdung dienen auch die jeweils am Schluss der drei Akte zu hörenden Rezitationen aus Rousseaus 1758 erschienenem, gegen das Theater und seine amoralische Wirkung ätzendem Pamphlet, dem Brief an d’Alembert, welche der französische Darsteller des Polinesso, Christophe Dumaux, mit geschliffener Aussprache, höchst theaterwirksam und mit feiner Ironie in Szene setzt. Auch darüber hinaus setzen Wieler/Morabito gekonnt und mit leichter Hand weitere Mittel der Desillusionierung und Grenzverwischung ein, zu denen u. a. gemeinsame Umbauten auf offener Bühne durch Darsteller und Bühnenarbeiter, die Präsentation der Darsteller und ihrer Rollen wie vor einem Boxkampf und eine variable, sich von Szene zu Szene ändernde Grundfläche in Form von Teppichen oder Matten gehören, die von den jeweiligen Protagonisten selbst ausgelegt und am Ende der Szene wieder eingerollt werden. Es würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen, weitere der unzähligen Einfälle der Regie und ihre kongeniale Umsetzung durch die überragenden Sänger-Darsteller zu beschreiben. Hier kann man nur begeistert dazu auffordern, sich schleunigst Karten zu besorgen und sich dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen.
Dies lohnt sich nicht zuletzt - damit unmittelbar und untrennbar zum Genre Oper gehörend - auch im Hinblick auf die musikalischen Qualitäten dieser Neuproduktion, der man in allen Bereichen höchstes Lob zollen kann.
So erweisen sich die drei Sängerinnen und vier Sänger nicht nur als kongeniale, bis zum Letzten spielfreudige Partner der Regie, die deren Ideen mit großer Spielfreude und enormem Komödiantentum umsetzen (Was gleichzeitig wieder theatralisches Element wie Mittel der Entzauberung ist.), sondern auch in gesanglicher Hinsicht als erstklassig und ohne jede Einschränkung überzeugend. Dieses Qualitätsurteil wird durch die Tatsache verstärkt, dass von den Protagonisten dieser Aufführung nur zwei als Gäste beteiligt sind, was bei dieser durchgehend barocken musikalischen Konzeption als weiterer eindrucksvoller Beleg für das hohe musikalische Niveau der Stuttgarter Oper und ihres Ensembles angesehen werden darf.
Dem fairen Beobachter dürfte es äußerst schwerfallen, über dieses Team aus Vollblut-Sängern abstufend bzw. klassifizierend zu urteilen und eine entsprechende Rangfolge aufzustellen, was wieder einmal für den außergewöhnlichen Ensemblegeist am Stuttgarter Opernhaus spricht. Dennoch seien - allein schon wegen des Umfangs ihre Rollen und deren dramaturgischer wie musikalischer Funktion - die kroatische Mezzosopranistin Diana Haller als Ariodante und die aus Mazedonien stammende Sopranistin Ana Durlovski als Ginevra hier an erster Stelle genannt. Beide sind schon seit etlichen Jahren Ensemblemitglieder der Stuttgarter Oper, von wo aus sie längst eine internationale Karriere gestartet haben. Während Diana Haller durch eine unglaubliche Zartheit im Ausdruck besticht, mit der sie auch die schwierigsten Stellen und Sprünge ohne Bruch und jegliche Härte zum reinsten Hörgenuss werden lässt (Zum Weinen schön geraten ihr die verschiedenen Lamento-Arien Ariodantes, die sie, wunderbar getragen vom bestens disponierten Staatsorchester, zu einem Paradebeispiel höchster Gesangskunst werden lässt.), überzeugt Ana Durlovski durch die Geradlinigkeit und Makellosigkeit ihrer Stimmführung, die auch in den anspruchsvollsten, mit subtiler Ökonomie gestalteten Koloraturen nie an Überzeugungskunst und –kraft verliert oder Gefahr läuft, in die Nähe routinierter Mechanik zu geraten. Josefin Feiler als Dalinda, erst seit 2015/2016 fest im „großen Ensemble“ und vorher zwei Jahre Mitglied im Opernstudio, begeistert durch ihren barocken Gestus und ihre klangsinnliche wie nuancierte Phrasierung, weshalb man wohl auch ihr - und das nicht nur im Bereich der Barockoper - eine steile Karriere voraussagen darf. Auch die vier männlichen Darsteller erfüllen ihre Aufgaben mit Bravour, auch wenn der französische Countertenor Christophe Dumaux in der Rolle des Polinesso zu Beginn nicht ganz zu überzeugen vermag und sich erst langsam in den Raum und seine Rolle hineinfinden muss. Aber schon während des ersten Akts und erst recht im weiteren Verlauf des fast vierstündigen Abends gewinnt auch seine Stimme, der jede Spitze und störende Schärfe fehlt, an Format und nimmt durch einen samtigen Glanz für sich ein. Recht überzeugend agiert und singt Sebastian Kohlhepp als Ariodantes Bruder Lurcanio. Der junge Sänger, ebenfalls seit der Spielzeit 2015/2016 Ensemblemitglied, verleiht den Gefühlen der von ihm verkörperten Rolle glaubhaft, sinnlich und mit sensibler Stimmführung Ausdruck. Als väterlicher König und brüderlicher Freund nimmt der international gefragte Bariton und Händelspezialist Matthew Brook für sich ein. Ihm gelingt es äußerst schlüssig, die Zerrissenheit dieser Rolle nicht nur darstellerisch, sondern auch stimmlich zu verdeutlichen. Schließlich überzeugt auch der junge, aus dem Ensemble der Jungen Oper Stuttgart hervorgegangene Tenor Philipp Nicklaus als Odoardo, Günstling des Königs.
Großen Anteil am durchgehend hohen Niveau und überragenden Erfolg dieses Abends hat das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung des umsichtigen mit feinem aber klarem Gestus agierenden Dirigenten Giuliano Carella. Im zur Hälfte hochgefahrenen Graben sitzend und damit (fast) sichtbarer und erfreulich klar hörbarer Teil des musikalischen Geschehens, ist es ein behutsamer wie sicherer Begleiter des Bühnengeschehens und besticht durch eine wundervolle Phrasierung und durchgehende Transparenz in allen Stimmen. Carella und sein in barocker Minimalbesetzung spielendes Orchester, dazu gehört auch die vorzüglich disponierte Continuo-Gruppe, sind auch in den instrumentalen Passagen der Partitur ein großartiger Sachwalter von Händels affektgeladener Musik, die ja häufig das zu erwartende Geschehen schon vor dem erst später zu hörenden Text erzählt.
Am Ende gab es, wie schon vom Premierenabend berichtet, auch beim zweiten Durchlauf dieser beeindruckenden und fesselnden Stuttgarter Neuproduktion begeisterten Beifall für alle Mitwirkenden, und man müsste sich als Besucher dieser Aufführung schon sehr täuschen, sollte dieser Stuttgarter Ariodante nicht in Kürze Kultstatus erlangen und zum Publikumsmagneten werden.
Ariodante an der Oper Stuttgart; Weitere Vorstellungen am 21. und 25. März sowie am 03., 11., 15., 18. und 21. April 2017.