Straßburg, Théâtre Maillon, Festival Musica 2022 - Kaija Saariaho - Teil 2, IOCO, 24.09.2022
ONLY THE SOUND REMAINS - Oper von Kaija Saariaho
Libretto nach Ezra Pound (1885-1972) und Ernest Fenollosa (1853-1908).
Hommage à Kaija Saariaho - Teil 2
von Peter Michael Peters
Mehr als eine Oper ist Only the sound remains eine Begegnung zwischen der Welt des japanischen Noh-Theaters und der zeitgenössischen Szene. In Form eines Diptychons, basierend auf zwei traditionellen Stücken: Tsunemasa und Hagoroma, orchestriert Kaija Saariaho (*1952) eine Übersetzung und einen Dialog zwischen den Kulturen.
- I… I look into the flat heaven, peering,
- the cloud-road is all hidden and
- uncertain,
- we are lost
- in the rising mist.
- I have lost the knowledge of the road.
- Strange, a strange sorrow!
- (FEATHER MANTLE – Hagoromo / Auszug)
SPEKTREN AUS SCHALL UND RAUSCH…
Die Oper wird längst von zahllosen Gespenstern heimgesucht: Das Repertoire ist voll davon, ebenso wie die Flure ihrer altehrwürdigen Häuser. Aber anders als der Komtur, der in der Oper Don Giovanni (1789) von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) zurückkehrt um den Bösewicht zu bestrafen oder auch der Geist, der die Gärten von Schloss Lammermoor heimsucht. Das Gespenst des Kriegers Tsunemasa ist nicht auf Rache aus! Er will nicht einmal gesehen werden! Er sucht gehört zu werden oder vielmehr erhört zu werden: Er hat kaum Form, niemand schafft es sein Gesicht zu unterscheiden. Wenn ein Laut schwach zu hören ist, dieser scheint nicht einmal von einer Stimme getragen zu sein und noch weniger von einer menschlichen Stimme: Es ist nur ein Klang, nichts weniger als ein winziger Klang, ein „fast Nichts“ am Rande der immateriellen Realität, das Ungreifbarste. Keine ausgestreckte Hand, kein erschreckendes Zeichen, dieser Phantom ist keine Vision, sondern es ist eine reine Resonanz! Als der Priest, ergriffen von dieser diffusen Präsenz, die er nur mit Mühe identifizieren kann, ausruft: „Ich nehme keine Form wahr, nur eine Stimme“, antwortet ihm Tsunemasa ruhig: „Ein Ton… Es ist ein schwacher Ton, der allein bleibt!“ Welche Bedeutung sollte dieser Berichtigung beigemessen werden? Was unterscheidet eine Stimme von einem Ton, der hier kaum hörbar ist? In dieser Nachbildung von Tsunemasas Gespenst müssen wir verstehen, was die klassische und romantische Oper von Saariaos Vorschlag unterscheidet und vielleicht noch mehr eine Art Illustration der Forschung, die vor fast vierzig Jahren von den Gründern der Bewegung namens Spektral-Musik unternommen wurde.
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Der reine Klang einer lyrischen Stimme repräsentiert nicht das gesamte Klangspektrum sondern bestimmte Klänge sind nur hörbar, wenn sie zerlegt und die Dynamik analysiert wird, was elektroakustische Verfahren ermöglicht haben. Es wird dann möglich für das „nackte Ohr“ die sogenannten Transienten hervorzuheben, diese Zwischenzustände, wo der Ton beginnt oder endet. Diese kontinuierlichen Passagen, die die musikalische Form schaffen anstatt ihnen vorauszugehen und sie zu bedingen. Die menschliche Stimme, der Klang eines Instruments wird dann zu einem Teil, der mit organischer Unendlichkeit anderen Klängen verbunden ist. Das Atmen des Sängers oder des Flötisten, der Klang des Bogens, der auf die Saiten gelegt wird, bereichern die Elemente von Kompositionen, die zu einem musikalischen Kontinuum verschmolzen sind und das das traditionelle Hören destabilisiert, was sie ständig dazu bringt sich neu anzupassen um die Spontaneität der musikalischen Bewegung anzunehmen. Inspiration und Ausatmen, Flüstern wurden dann zu einem festen Bestandteil der Vokal- und Opernsprache und definierten die Grenzen von Stimme und Klang neu. Schon das Werk für Flöte von Saariaho Loconisme de l’aile (1982) zeichnete eine Kontinuität zwischen rezitierender Stimme, Flüstern und körnigen Klängen der Flöte, die sich plötzlich in ein polyphones Instrument verwandelte.
Der Klang wird hier Gegenstand zwischen zwei Welten…
Wenn die Stimme ein sprechendes Wesen, ein „Ich“ identifiziertes: Ihm einen Diskurs zuschreibt und somit das Auftauchen des beugenden entpersonalisierten Klanges hervorzuheben. Was somit die Stimme an Klang hat, um das Lösen der Hörempfindung ihres menschlichen Ursprungs zu erweitern: Dieses „Ich“! Als physisches Phänomen kann die Stimme nur die eines Lebewesens sein, das alle Zwänge des biologischen und physischen Lebens auf sich lasten fühlt. Die Auswirkungen und kleinsten Schwächen verraten, das sie grundlegend verkörpert wird. Abgeschnitten von dem Körper der es trägt, der schwache Ton, der von Tsunemasas Gespenst ausgeht, verwandelt sich in eine andere Dimension: Himmlisch, rein natürlich und verständlich. Diese Stimme, die nicht mehr als ein Ton, nicht mehr als ein Hauch ist, ist die immateriellste Emanation dieses Gefangenen-Seins in der Schwebe: Dieses luftige Werden von Atem und Stimme, das Gaston Bachelard (1884-1962) in L’Air et les songes (1943) so gut beschreibt. Ein Hauch, d.h. eine Seele, aber eine Seele die unglücklich irrend umherwandert und deren Klage uns in Form lang gehaltener gesponnener Klänge und dazu auch der zarte Ton der Laute erreicht: Der durch die finnische Kantele auf der Bühne leise und timide erklingt. Fast unsichtbar bleibend existiert Tsunemasa nur durch die Klänge, die er ausstrahlt, die er hervorruft und durch das Werk führt. Zeami Motokiyo (1363-1443), Schauspieler und Theoretiker des Noh-Theaters, Autor im 15. Jahrhundert von Tsunemasa (Always Strong) und Hagoroma (Feather Mantle) entwickelte hier ein von den Elektroakustikern wohlbekanntes Dispositiv, das auf der Unsichtbarkeit der Quelle und dem Ursprung basierenden ausgestrahlten Ton: Das akusmatische Gerät, dessen Interesse darin besteht, die Hörsituation in Richtung größerer Konzentration, größerer Intensität zu verändern, wobei die Aufmerksamkeit nicht länger durch das Sehen parasitiert oder konditioniert wird. Tsunemasas Form oder Figur nicht zu sehen, veranlasst den Priest, ihr mehr zuzuhören und verleiht somit dieser Stimme Transzendenz und Immaterialität: Kein Körper scheint diesen leisen Ton auszusenden, der die Luft erfüllt und doch hören wir ihn in uns selbst. Er klingt wie eine innere Stimme in dieser Welt des Inneren, die das Hören neu erschafft, wenn es sich vom Bild löst. Der Zuhörer wird dann zu einem Resonanzboden, einem offenen Raum, der von Klangschwingungen geformt wird. Diese Situation, die den Klang entindividualisiert, indem sie ihn von der Stimme seines Autors abschneidet, verweist auch auf die Ästhetik des Noh-Theaters und seine Rolle nach Dekoration in der Leistung des Schauspielers, in der musikalischen und poetischen Reinheit, in der die Modulationen des Gesangs liegen. Die Musik und die subtilen Bewegungen der Darsteller rufen beim Zuschauer-Zuhörer einen hypnotischen Zustand hervor, eine Art schwebende Aufmerksamkeit, die mehr auf die Atmosphäre als auf die dramatische Handlung und die insgesamt recht typischen und vorhersehbaren Charaktere eingeht. Tsunemasa, der unsichtbare Klangkörper behält eine diffuse Präsenz an den Orten, die er bewohnt. Die Saiten der Lauten, der Flöten und des Schlagzeugs werden dann zu seinem Blick auf die Welt, die er verlassen hat. Durch den Zauber dieses seltsamen Konzerts beginnt die Natur von allen Seiten gleichzeitig mit den erbärmlichsten und wunderbarsten Klängen zu rauschen. Der Klang wird hier zum Bindeglied, zum Mittler zwischen den Welten, er ist dieses Klangspektrum, diffuser Ton, schwaches Echo einer verschwundenen Welt.
Körperlose Stimmen und Wesen aus dem Himmel…
Hagoromo inszeniert einen anderen Geist, eine andere gespenstische Präsenz, die auf der Erde verloren gegangen ist und schafft einen Übergangsraum, ein ungewisses Dazwischen, das diesmal durch den Wechsel der Jahreszeiten repräsentiert wird. Der Frühling kommt und man hört es: Der Wind ist still, nur das Rauschen der Wellen und die Stimmen der Fischer sind zu hören. An einem Ast hängend, fällt einem von ihnen ein seltsames Objekt ins Auge, alle sind gemeinsam voller Freude über diesen wundersamen Fund. Dann erhebt sich eine andere Stimme, die klagende Stimme eines Himmlischen, eines Tennin, einer Art Nymphe oder eines Engels. Der auf der Erde zurückgehalten wird, weil er seinen Federumhang verloren hat, der ihm das Fliegen ermöglicht. Dieses Attribut wird dann zum Gegenstand eines Handels: Der Fisherman beabsichtigt diesen Schatz unbedingt in Besitz zu bekommen, um dann nur durch die Bewegung die Passage zwischen Erde und Himmel zu finden. Zwei Stimmen an den Grenzen des männlichen Vokalumfangs kommen hier wieder, um zwei Polaritäten zu repräsentieren: „Materie und Geist, Schwerkraft und Anmut“. Eine wohlbekannte philosophische Erläuterung von Simone Weil (1909-1943), sie ist auch eine wichtige Quelle der Inspiration für die Komponistin. Die schwerelose Anmut oder diese absteigende Bewegung, die an der Schwerkraft keinen Anteil hat, ist sicherlich ein Fall, aber kein Absinken in die unendlichen Tiefen. Genau wie Tsunemasa brauchte dieser Tennin eine übernatürliche Stimme, nicht von dieser Welt aber mit der Leichtigkeit einer Feder. Eine himmlische Stimme, engelhaft und mehr als menschlich! Eine androgyne Stimme, die sich selbst zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen bewegt, die von der elektroakustischen Unterstützung mit einer Art Heiligenschein überzogen wird. Der Fisherman verkörpert die Kraft, um diese Wesen am Boden zu halten und an seinem Körper zu fesseln, um sie so zu besitzen und zu überwältigen. Wie ein Vogel ohne Flügel erfährt der dieser Welt und ihren Werten fremde Tennin plötzlich die Knechtschaft des irdischen Lebens: Keine Pfade mehr, keine Wege mehr zu entziffern in diesem unwegsamen und flachen Himmel. Die Transparenz und der Einfallsreichtum der so enteigneten Nymphe kollidieren mit der Macht in ihrer Trivialität und ihrer Niedrigkeit: Der Fisherman, der das Geschöpf auf der Erde festhält, von dem er eine unwahrscheinliche Täuschung erwartet?
Es handelt sich also um Durchgang und Fürbitte in Only the sound remains, wo der Klang diese Begegnungen zwischen den Wesen und Welten, denen sie angehören, ermöglicht. Das ist es, der Tsunemasa immer noch mit der Welt der Lebenden verbindet: Seine Stimme sicherlich! Aber das was in seiner Stimme hörbar ist, ist die körperliche Stimme eines Wesens, das überall und nirgends präsent ist. Genau wie diese Nymphe, deren Form sich in ihren Tanz aufteilt, während sie aufsteigt zu diesem „anderen Ufer“, wo die Schreie der Vögel selten sind. Was bleibt dann von diesen seltsamen Stimmen, wenn sie verschwunden sind? Ein Geräusch, nur ein Geräusch, das unsere Erinnerung verfolgt!
ONLY THE SOUND REMAINS - Aufführung am 18. September 2022 - Théâtre Maillon
Fast pervers uninteressant…! Trotz der sehr hervorragenden Darbietungen der Hauptdarsteller ist die Inszenierung von dem französischen Regisseur Aleksi Barrière leider träge und undramatisch, ja man kann ohne Hemmungen sagen: äußerst ermüdend! Das festival musica strasbourg 2022 wollte ein großes Zeichen für sein 40jähriges Jubiläum setzen, indem es eine Neuinszenierung der vorletzten Oper von Kaija Saariaho Only the sound remains herausbrachte. Im Rahmen eines großen Weekend: Hommage à Kaija Saariaho… unweigerlich eine der größten lebenden Komponistinnen, vielleicht die Größte, sollte es wohl der Höhepunkt der diesjährigen Festspiele sein. Die musikalische Sprache der finnischen Komponistin besteht aus himmlischen Tonsphären, wunderbar für die menschliche Stimme geschrieben und elektroakustisch traumhaft und überirdisch erweitert. Aber leider fehlt jegliche musikalische Dramaturgie – das Werk befindet sich zwischen einem Oratorium und Kammermusik. Umso mehr sollte ein Regisseur dort dringend eingreifen, um doch noch etwas zu „retten“! Im Vorwort des Programmes erläutert man uns, es sei eine typische Darbietungsart des japanischen Noh-Theaters. Was soll das! Wir kennen das Noh-Theater äusserst gut, obwohl es seine bestimmten Kode beansprucht, ist es jedoch gleichzeitig ein sehr kraftvolles lebendiges Vollblut-Theater. Warum also fadenscheinige Ausreden und Entschuldigungen?
Schon bei der Welturaufführung des Werkes in Amsterdam (2016) und Paris (2018) schlichen sich viel Fehler in die Regiekonzeption ein! Warum hat man also daraus nicht gelernt? Damals war es der gefeierte amerikanische Regisseur Peter Sellars, der an der Größe des Werkes einfach vorbei ging, oder es nicht verstand! Aber diesmal ist es eine kleinkarierte „déjà mille fois vue“-Karikatur eines sogenannten orientalischen Märchens ohne Worte! Auch für die Szenografie ist der Regisseur verantwortlich: Hohe verschiebbare Kulissenwände im sogenannten „Nippon-Stil“, man denkt unweigerlich an die ersten filmischen Meisterwerke aus der japanischen Nachkriegszeit. Aber hier wirkt es fast lächerlich und unangenehm!
Es ist eine Adaption zweier Noh-Stücke, die zwei Solosänger, ein Tänzer und ein digital verbessertes Ensemble aus sieben Instrumentalisten und vier weiteren Sängern erfordert. Always Strong and Feather Mantle, wie sie in den englischen Versionen von Pound heißen und die Saariaho verwendet, teilen das Thema des Verschwindens und der Unsichtbarkeit. In dem ersten Stück beschwören die Gebete eines Priesters den Geist eines gefallenen Kriegers herauf, nur damit letzterer offenbart, dass ihn die Erinnerung an die Schlacht in der er starb, noch immer verfolgen und er bittet darum, wieder in den Schatten verschwinden zu dürfen. In Feather Mantle findet ein Fischer ein Federkleid, das einem Engel gehört und er willigt nur ein, es ihm zurückzugeben, wenn er einen himmlischen Tanz für ihn aufführt. Keine der Geschichten ist auch nur annähernd dramatisch und Saariahos Behandlung von ihnen fügt auch keine dramatischen Dimensionen hinzu. Always Strong ist besonders hart zu vernehmen, sie entfaltet sich fast eine Stunde lang in demselben unveränderten langsamen Tempo mit neutralen, mehr oder weniger deklamatorischen Gesangslinien. Nur die zerbrechlichen flüchtigen Texturen, die Saariaho aus einem Ensemble heraufbeschwört, das die finnische Kantele – eine Kreuzung zwischen einer Zither und einem Hackbrett – einschließt, wecken wirklich Interesse. Während zusätzlich die Computerverbesserung sphärische Verschwörungen durch den Zuschauerraum wirbeln lässt!
Feather Mantle ist etwas abwechslungsreicher und die Anwesenheit des japanischen Tänzers und Choreografen Kaiji Moriyama gibt dem Regisseur eine weitere Ebene in einer ansonsten trägen und flachen Inszenierung. Aber emotional und dramatisch bleiben doch beide Hälften der Oper trotz der Exzellenz der beiden Solisten, der polnische Countertenor Michal Slawecki und der amerikanische Bariton Bryan Murray, fast pervers unaufdringlich unter der musikalischen Leitung des spanischen Dirigenten Ernest Martinez Izquierdo.
Anmerkung: Beachte auch das hier bei IOCO besprochene Konzert vom 17. September 2022 - Kajia dans le miroir – Hommage à Kajia Saariaho, link HIER!
PMP/20.09.2022
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