Straßburg, Opéra national du Rhin, Die Vögel - lyrische Fantasie von Walter Braunfels, IOCO Kritik, 27.01.2022

Straßburg, Opéra national du Rhin, Die Vögel -  lyrische Fantasie von Walter Braunfels, IOCO Kritik, 27.01.2022
L´Opéra national du Rhin - Strasbourg ©: Wikimedia Commons / Robert Cutts
L´Opéra national du Rhin - Strasbourg ©: Wikimedia Commons / Robert Cutts

L´Opéra national du Rhin

Die Vögel - lyrische Fantasie von Walter Braunfels, nach Aristophanes

VON VÖGELN… GÖTTERN… MENSCHEN…  

von Peter Michael Peters

  • The modern city is ugly, not because it is a city,
  • but because it is not a city enough,
  • because it is a jungle, confused and archaic
  • and bubbling with egoistic and materialistic energies.
  • K. Chesterton (1874-1936)

Zeitgenössisch von Erich Wolfgang Korngolds (1897-1957) Die tote Stadt (1920) sind Die Vögel die Emanation eines Komponisten, der sich wie Paul Hindemith (1895-1963) von den großen modernen Wiener Einflüssen seiner Zeit fernhielt und eine lyrische und klangliche Post-Romantik vorzog. Das hinderte die Nazis nicht daran, Walter Braunfels (1882-1954) aus dem Musikleben herauszuhalten und dann in der Nachkriegszeit mit den neuen Musik-Radikalitäten ihn für seinen Konservativismus zu schmähen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man in seiner Sprache vor allem reiche spirituelle und idealisierte Bestrebungen.

Die Vögel - Einführung von Regisseur Ted Huffman youtube L´Opéra national du Rhin [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Die Vögel in ihrem Jahrhundert

Einige der vielen Gründe sind, in der Komödie des Aristophanes (etwa 445-385 v. J. C.) mit dem Titel Die Vögel (etwa 414 v. J. C.), das zwei alte Athener sich dazu bewegen, ihre Stadt in der das Dasein für sie unerträglich geworden ist, zu verlassen und einen neuen Sinn in ihrem Leben mit der Gesellschaft von Vögeln zu suchen. In der gleichnamigen Oper, die Walter Braunfels diesem Stück entnommen hat, sind die Protagonisten junge Männer und was sie sehen und lernen werden, wird sich stark von den Erfahrungen ihrer athenischen Vorbilder unterscheiden.

Um diese Oper in ihrem Kontext einzuordnen, ist es notwendig einen Überblick über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu skizzieren. Europe erlebte damals eine Explosion der Kreativität in allen Künsten, insbesondere in der Musik und dem Genre Oper. Es war aber auch eine Zeit tiefgreifender politischer und sozialer Umbrüche, stürmischer Übergänge, Revolutionen und Kriege. Kunst und Musik dieser Zeit spiegeln all dies wieder und zeichnen ihre Bewegungen wie auf einem Kardiogramm auf. Aus diesem wachsenden Leiden gingen ungeheure Innovationsimpulse hervor, während des ersten Drittels des Jahrhunderts befeuerten Erneuerungen und Polemik ein dynamisches und offenes künstlerisches Leben.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 erlebte der deutschsprachige Raum den schrecklichsten Bruch in einem mehr als zwei Jahrhunderten alten kulturellen Umfeld. Das Nazi-Regime unterbrach und im schlimmsten Fall zerstörte und entwurzelte eine der höchsten und ältesten Traditionen der westlichen Zivilisation, die der deutschen Musik. Die Pest hat allen Genres befallen, einschließlich der Oper!

Von einem Verbot zum anderen

Wien, die pulsierende Musikhauptstadt Europas, wurde in den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts von Gustav Mahler (1860-1911) dominiert. Die nächste Generation, die von den Nazis unterdrückt wurde, war in der Brahms-Tradition ausgebildet und badete in der Musik von Richard Wagner (1813-1883). Ihre Musiker waren die ersten, die versuchten aus der Polemik ihrer Jugend zwischen Johannes Brahms (1833-1897) und Wagner eine Synthese zu entwickeln. Zusammen mit dem großen Einfluss von Mahler und Richard Strauss (1864-1949) inspirierten diese Elemente wiederum eine neue Generation: Die von Arnold Schönberg (1874-1951), Alexander von Zemlinsky (1871-1942) oder Franz Schreker (1878-1934). Später brachte der riesige Schmelztiegel Mitteleuropas von Berlin bis Prag Alban Berg (1885-1935), Korngold, Ernst Krenek (1900-1991), Victor Ullmann (1898-1944), Anton von Webern (1883-1945) und viele andere hervor.

Zwei junge deutsche Komponisten entwickelten sich außerhalb des Wiener Einflussbereichs: Braunfels, einer großer Verfechter der Neoromantik und Hindemith, der nachdem er in jungen Jahren ein Anhänger der Avantgarde gewesen war, sich dann der utilitaristischen Musik und dem Neoklassizismus verschrieben hatte. Dieser allumfassende Ausdruck des Neoklassizismus ist ebenso schwer zu definieren wie die Begriffe Romantik oder Klassizismus. Man kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass Braunfels von den Werken der Vergangenheit träumte und dass er sich als Verteidiger der großen Werte der literarischen und musikalischen Tradition sah, in die er hineingeboren wurde. Die Tatsache, dass seine künstlerische Entwicklung abseits des kulturellen Drucks von Berlin und Wien stattfand, beeinflusste seine Entscheidungen zum Guten und zum Schlechten. Auch das erklärt die Rezeption – oder besser die fehlende Rezeption – die seiner Musik in der Nachkriegszeit vorbehalten war.

Wenn die Generation von Braunfels die Spätromantik in Idiome des 20. Jahrhunderts verwandelte, ging die nächste Generation, die nach dem Ersten Weltkrieg, von dieser Welt der emotionalen Extravaganz in eine Zeit intensiver Experimente über. Nach 1920 konnte alles als Ausgangspunkt für die Vorstellung einer neuen Kunst dienen: Das Noble und das Triviale, das Schöne und das Hässliche, Dada und Karl Marx (1818-1883), Sigmund Freud (1856-1939) und Pablo Picasso (1881-1973), Jazz und Neoklassizismus, die Neue Sachlichkeit – alles das wurde zusammen im Schmelztiegel der Polemik vermischt.

Braunfels‘ Musik war tonal ohne Komplexe, seine Musiksprache war die des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Aber auch ein konservativer Komponist wie er konnte in der Kulturwelt der Weimarer Republik einen Platz finden. Später dann mit dem Dogmatismus, den Kategorisierungen und das reduzierende Denken des Nachkriegseuropas führten dazu, dass viele Musikwerke die von den Nazis auf die schwarze Liste gesetzt wurden oder die nicht der Geschmack der neuen Orthodoxie-Anhänger waren, einfach nicht rehabilitiert wurden und ein großer Teil auf dem Müllhaufen der Geschichte hinterlassen wurde. Die musikalische Gärung der vergangenen Ära war verloren und vergessen!

Die Errungenschaften der Zwölftonmusik, der elektronischen Musik und der Avantgarde nach dem zweiten Weltkrieg mögen von unschätzbarem Wert sein, aber das gab ihnen keine Legitimität für den  Exklusivitäts-Anspruch des 20. Jahrhundert. Viele Gelehrte, Komponisten und Musikwissenschaftler der Nachkriegszeit haben auf ihre Weise einen Teil des von den Nazis angerichteten Schaden fortgesetzt. Jeder Experte oder Musikliebhaber hat das Recht, seinen eigenen Musikgeschmack zu bevorzugen: Aber einige wenige mit weniger Sinn für Musikgeschichte haben eine übereifrige Ablehnung eines Großteils der Musik der jüngeren Vergangenheit propagiert: Dazu gehörten diejenigen, die wie Braunfels sich in die Filiation der Spätromantik einreihten oder weiter mit Tonalität oder Lyrik arbeiteten. Es wurde verkündet, dass das tonale System tot war! Aus heutiger Sicht ist klar, dass es das nicht war, sondern in die Welt der Populärkultur abgewandert ist, manchmal auf Kosten der höheren Kunst. Man sagt auch oft dass ein Musikwerk dieser Zeit, wenn es seinen Platz im Repertoire nach den Säuberungen der 1930er und 1940er Jahren behalten hatte, wäre ein Beweis für Qualität. Dem stimmen wir zu: Aber nicht umgekehrt, nämlich Werke ohne den oben genannten Status ein Beweis für mangelnde Qualität sein sollen! Dies würde darauf hinauslaufen das offensichtliche zu leugnen: Die Nazi- und Faschistenregime haben ihre Feinde einfach vom Tisch gewischt. Viele Künstler hatten kaum Gelegenheit sich zu entwickeln und bekannt zu werden. Einige der vielen vorgebrachten Argumente gegen diese unterdrückten Komponisten beruhen auf Hörensagen oder sogar einer völligen Unkenntnis ihrer Werke.

L´Opéra national du Rhin / Die Vögel - Les Oiseaux von Walter Braunfels © Klara Beck
L´Opéra national du Rhin / Die Vögel - Les Oiseaux von Walter Braunfels © Klara Beck

Ein ästhetisches Credo

Betrachtet man all das, was um ihn herum geschah, muss man feststellen, dass Braunfels‘ Musik geografisch und ästhetisch eine ganz andere Welt bewohnt als das multikulturelle Wiener Milieu. Der Komponist machte aus seiner Bewunderung für die Vergangenheit keinen Hehl und meinte, er baue seine Musik nach diesen Prinzipien auf. Wie Schreker, Krenek und Hindemith folgte er Wagners Vorbild beim Verfassen seiner eigenen Librettos. Dem Eklektizismus von Schreker fast diametral entgegengesetzt, sehr koloristisch und polytonal, ist seine Musik tonal, polyphon, lyrisch und formal. Ebenfalls im Widerspruch zu Zemlinsky und Krenek zeigt seine Themenwahl einen Hang zur klassischen Antike und später zur christlichen Mystik. In Die Vögel, eine seiner bekanntesten Oper, ist seine Bewunderung für Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), Felix Mendelssohn (1809-1847), Wagner, Strauss und sogar Anton Bruckner (1824-1873) unüberhörbar. Einige zeitgenössische Kritiker sahen sein Werk als Absage an Wagner unter dem Banner „Vive Mozart!“ Dies scheint uns zumindest teilweise irrig, denn diese Oper verdankt sowohl Die Meistersinger von Nürnberg (1836) als auch Parsifal (1882) einiges. Manche Leute haben sich gefragt, ob die Musik hier nicht aus ihrer Rolle als Dienerin des Dramas herausgetreten ist. Aber für Braunfels war die Musik die Geschichte!

Der Komponist sagte selbst, er habe Text und Musik seiner Werke gleichzeitig geschrieben. Bezeichnenderweise hat er sich dafür entschieden, Aristophanes nicht nachzuerzählen, sondern ihn nach seinen eigenen Absichten neu zu gestalten und uns dabei zu offenbaren, wo seine Seele und seine Sensibilität liegen. Das Thema der Oper ist die Sehnsucht, ein wesentlicher und allgegenwärtiger Motor der deutschen Musik des 19. Jahrhunderts, ein Begriff der sich einer adäquaten Übersetzung in jeder Sprache entzieht. Die Vögel sind nicht nur eine Sozialkomödie inklusive politischer Satire: Es ist ein in Fantasie gehülltes spirituelles Testament. Nicht nur tragisch, melodramatisch oder komisch, Braunfels erkennt alles an was er Mozart und insbesondere Die Zauberflöte (1791) zu verdanken hat.

Von einer Einweihung zur Nächsten…

Folgt der erste Akt weitgehend Aristophanes, nimmt der Zweite einen originellen Verlauf und erzählt im Grunde eine ganz andere Geschichte. Die Rache der Götter und der vehemente Auftritt von Prometheus erschüttert die himmlische Ruhe, die idyllische Komödie in der Stadt der Vögel und bringt sie zurück in die Welt des kriegstraumatisierten Europas. Braunfels distanziert sich radikal von seinem Vorbild Aristophanes. Die beiden Protagonisten Hoffegut und Ratefreund, die sich auf ein Abenteuer begeben um die Enttäuschungen zu vergessen, die durch den prozeduralen Geist Athens verursacht wurden. Sie repräsentieren metaphorisch die europäische Jugend, die desillusioniert ist von den Verwüstungen, die der Krieg der Kultur zugefügt hat in der sie geboren wurden. Hoffegut klagt: „Die Mädchen haben mich grausam verachtet und ich bin vor ihrer kalten und feindseligen Gesellschaft geflohen“. Und Ratefreund formuliert eine Kritik über das athenische Leben: „Ich konnte es nicht mehr ertragen, dass die Kunst, die edle Kunst auf dieser Erde so entartet zu sehen!“ Mit welcher ironischer Voraussicht verwendet Braunfels das Wort „entartet“, das etwas mehr als zehn Jahre später zum Sinnbild der nationalsozialistischen Unterdrückung werden sollte… Unsere beiden jungen Abenteurer spiegeln das gegensätzliche Paar von Tamino und Papageno wider. Alles trennt sie – ihre Persönlichkeit, ihre spirituellen Ambitionen und ihre Erfahrungen. Sie beschlossen ein neues Leben unter den Vögeln zu beginnen. Hoffegut wird wie Tamino reifen und lernen und am Ende wird er unrühmlich nach Athen zurückkehren, trauriger aber weiser: Er wird durch ein erotisch-mystisches Erlebnis verwandelt und geistig bereichert sein. Auch Ratefreund wird sich abgeklärt und resigniert wiederfinden, aber nicht viel klüger. Der Vogelfänger Papageno-Ratefreund wird metaphorisch umgedeutet und findet sich mit seinem Gefährten von den Vögeln mitgenommen. Die Zauberflöte von Mozart ist magisch, sie bezaubert Menschen wie Tiere. Bei Braunfels liegt der Zauber in der weiblichen Figur der Nachtigall mit ihrem klagenden und zutiefst berührenden Gesang. Sie ist die Sprecherin der eigentlichen Protagonistin von Braunfelds Werk – die Sehnsucht. Die Verzauberungs-Szene im zweiten Akt, die nach den Worten des österreichischen Komponisten Egon Wellesz (1885-1974 / dessen Werke auch 1933 verboten wurden), ist der Höhepunkt der Oper und bildet einen symbolischen Übergangsritus. Denn die Initiation von Hoffegut ist nicht diese Reihe von Prüfungen, die Tamino und Pamina überwinden müssen (Feuer, Wasser und Stille), um das Licht zu erreichen: Sie führt ihn in das mystische Reich des kosmischen Strebens und der Transzendenz. Sein Erwachen wird durch seine erotische Begegnung mit der Nachtigall geschehen, ebenso wie Parsifals Auseinandersetzung mit Kundry, die ihn schließlich zum Karfreitagszauber und dann zum Gral führen wird. Hoffegut erlernt viel tiefer die Sprache der Nachtigall verstehen, als Siegfried den Rat des Waldvogels versteht, dank der vorübergehenden Macht, die ihm das Blut von Fafner verleiht. Hoffeguts spirituelle Transformation greift mit Raffinesse das Modell von Mozart auf. Ratefreund seinerseits, von den jungen Athenerinnen abgelehnt, sucht seine Papagena und treibt die Aktion mit seinem komischen Geschwätz voran. Eher eine Analogie zu den Dialogen eines Singspiels oder den Rezitativen einer opera buffa. Hoffegut träumt und sinniert in einer Art Träumerei von Robert Schumann (1810-1856) – Ratefreund plaudert unablässig! Beide unterhalten sich im Stil des arioso, ergänzt durch ein Orchester, einem echten Gesprächspartner: Der an Der Rosenkavalier (1911) und an Die Meistersinger von Nürnberg erinnert.

Das Gewicht des Krieges über Europa

Das ist eindeutig reine Romantik und nicht die Musik, die wir mit der Weimarer Republik assoziieren. Die Vögel sind kein Werk der zwanziger Jahre, sondern der zehner Jahre, ganz in der Nähe der Musik von Strauss, die dieser in diesen Jahren schrieb: Der Rosenkavalier und Ariadne auf Naxos (1912, 1916). Das Beispiel des letzteren war für Braunfels ein Modell, um das 19. Jahrhundert in seine Oper zu integrieren, die im antiken Griechenland geboren und angesiedelt war. Die absichtliche Verwendung nichtwörtlicher musikalischer Anachronismen, um die Vergangenheit zu beschwören ist einer der wesentlichen Ausgangspunkte von Strauss in dieser Zeit: Die Musik des Rosenkavalier erschafft nicht die der 1740er Jahre, sie verwendet sie als eine neuere Vergangenheit um ein Gefühl der Nostalgie zu erwecken – ein Ansatz zu dem der Komponist gegen Ende seines Lebens mit Capriccio (1942), Metamorphosen (1946) und Vier letzte Lieder, op. 150 (1949) zurückkehrte. Das Nebeneinander klassischer und romantischer Aspekte des antiken Griechenlands und der Commedia dell‘arte in Ariadne auf Naxos sind unmittelbare Vorbilder für Braunfels, wie der an Zerbinetta erinnernde Prolog der Nachtigall verdeutlicht. Braunfels hatte offensichtlich nicht die Absicht einen vergeblichen Versuch zu wagen, die Musik des antiken Griechenlands wiederzubeleben. Aber er schaffte es im Geiste des 19. Jahrhunderts (Mendelssohn, Wagner und Bruckner) und des 18. Jahrhunderts mit einem Schattenwurf von Mozart und Johann Sebastian Bach (1685-1750), ein Gefühl der Nostalgie für eine nicht existierende und unmögliche Traumwelt zu schaffen, die von Vögeln bewohnt und beherrscht wird.

Braunfels‘ Oper war zu zwei Dritteln vor 1914 konzipiert und geschrieben worden, bevor sie während des Krieges Unfertig verblieb, um dann verändert durch die Kriegserfahrung ihre endgültige Form fand. Bei Braunfels wird das idyllische Dasein der Vögel durch korrumpierte und kompromittierte irreführender politischer Ideen, insbesondere von humanen Institutionen (Stadtmauern und Verteidigungs-Maßnahmen) gestört und vernichtet. Ermutigt, den Göttern zu trotzen und die Warnungen von Prometheus zu ignorieren, ziehen die Vögel den Zorn von Zeus auf sich, der ihr soziales Experiment leicht beendete. In dieser Lesart war die Gruppe der europäischen politischen Führer mit ihren verworrenen Netzwerken von Allianzen wie die Götter der griechischen Mythologie und des Theaters, so oft im Konflikt miteinander und manchmal mit sehr kindlichem Verhalten. Hatte das Patriarchat der europäischen Herrscher seine Kinder nicht verraten? Hatten nicht die naiven und idealistischen Vorschläge von Ratefreund und Hoffegut den Wiedhopf, König der Vögel (nachdem er selbst ein Mensch war), zu einer gigantischen Fehleinschätzung angestiftet? Man kann sich fragen, ob das Umschreiben von Aristophanes Text bei Braunfels keine politische Vision verbirgt, deren Subtilität und Moral die Klarheit und den instinktiven Mut erahnen lässt, die der Komponist wenige Jahre später in München gegen die beginnende Nazibewegung bewies und damit sein eigenes Schicksal besiegeln sollte.

Waren Die Vögel nicht nur eine politische Synthese des Ersten Weltkriegs, sondern auch ein vorausschauernder Blick in die Zukunft Deutschlands und des Zweiten Weltkriegs? Braunfels‘ politische Metapher ist dennoch von kaum wahrnehmbarer Finesse und keineswegs belehrend. Einer der großen Reize der Vögel ist ihre anachronistische neoromantische Atmosphäre. Die Oper beschwört perfekt eine imaginäre Welt herauf, einen in luftiger Höhe angelegten Vogelgarten von Eden, der nur jenseits der Grenzen des städtischen Lebens und der zeitgenössischen Realität lokalisiert werden kann. Braunfels‘ Wahl einer Handlung, die in der klassischen Antike verortet ist, führt von selbst zu einer Art nicht-sektiererischer Spiritualität! Nach seiner Bekehrung 1917 wird Braunfels auch in den römischen Katholizismus eintauchen, was in einigen seiner Hauptwerke zum Ausdruck kommen wird und die wichtigsten in dieser Hinsicht sind: Te Deum (1922), Verkündigung (1935) und Die Heilige Johanna (1943).

Vom Erfolg zum Vergessen

L´Opéra national du Rhin / Die Vögel - Les Oiseaux hier Marie-Eve Manger als Nachtigall, Ton Lobach als Tänzer © Klara Beck
L´Opéra national du Rhin / Die Vögel - Les Oiseaux hier Marie-Eve Manger als Nachtigall, Ton Lobach als Tänzer © Klara Beck

Die Uraufführung der Vögel in München unter der Leitung von Bruno Walter (1876-1962) war ein Riesenerfolg bei Publikum und Kritik. Der Dirigent sprach noch nach seiner Ankunft in Berlin 1925 davon als eine der interessantesten neueren Werke aus seinen Münchner Jahren und lobte die Oper noch 1950 weiter. Die Mitwirkung von der großen Maria Ivogün (1891-1987/selbst eine berühmte Zerbinetta) in der Rolle der Nachtigall war einer der Schlüssel zu diesem Erfolg. Für Wellesz war Ivogün eine Sängerin „…wie man sie sich perfekter nicht vorstellen könnte“. Und Alfred Einstein (1880-1952) schrieb: „...mit einem Wort: So etwas Einzigartiges, dass nur entsteht, wenn die Natur als höchste Kunst auf diese besondere Aufgabe in so wunderbarer Weise abgedeckt wurde“. Dann über den Dirigenten: „Es war vielleicht die feinfühligste und vollkommenste Aufführung, die Walter je dirigiert hat. Es war von unbeschreiblicher Zartheit und Farbenpracht und mit einer unendlichen Wärme und Reinheit des Ausdrucks“. Genau diese Wärme und diese Menschlichkeit machen für uns den Charme und außergewöhnlichen Charakter der Oper Die Vögel aus. In den folgenden Jahren sollte das Werk eine erstaunliche Anzahl von Produktionen erfahren. Und doch sollte Braunfels in der Nachkriegszeit, obwohl rehabilitiert, seine frühere Popularität und seinen Status nie wiedererlangen.

Es ist nicht schwer zu erraten, warum der Komponist nach dem Zweiten Weltkrieg an den Rand gedrängt wurde. In Sachen Ästhetik blieb er zeitlebens ein Konservativer, eine Kategorie die in den Kulturkreisen der Nachkriegszeit mit größter Geringschätzung angesehen wurde und in manchen Kreisen auch noch heute. Diejenigen, die sich den fortschrittlichen und avantgardistischen Strömungen der Zwischenkriegszeit widersetzt hatten, wurden par définition als Reaktionäre angesehen. Sie wurden einfach eingeladen, sich ihren Kollegen in den Mülleimern der Musikgeschichte anzuschließen. Die Vorstellung, dass in jeder Epoche nur die bahnbrechenden innovativen und ikonoklastischen Komponisten einen musikalischen Wert haben, war eine weit verbreitete Überzeugung und ist es auch noch heute. Dass die großen Komponisten auch die großen Progressiven waren, ist nicht destotrotz eher eine logische als eine kausale Beziehung. Die musikalischen Werke der Vergangenheit nach ihrer Verortung zwischen den Polen progressiv und konservativ ihrer Zeit zu untersuchen, läuft darauf hinaus die Kategorisierung dem unmittelbaren und vorurteilslosen Hören vorzuziehen.

Die Welt hat heute viele der Fragen vergessen, die die ästhetischen Positionen der Vergangenheit spalteten. Die Wichtigkeit zu wissen, wer Teil der Avantgarde war und wer nicht, schwindet mit der Zeit. Unserer Meinung nach zählt nur die Essenz der Musik, nicht ihre historische oder musikwissenschaftliche Verortung. Wenn Die Vögel 1875 komponiert worden wären, würden wir die Oper heute anders hören? Würden wir es als ein fortschrittliches Werk betrachten? Und würde uns diese Frage wirklich interessieren? Sollen wir eine solche Oper weiterhin ignorieren, weil wir sie für altmodisch halten? In gewisser Weise wurden auch Bach und Brahms von einigen ihrer Zeitgenossen schlecht beurteilt und es wäre kolossaler Unsinn, ihre Werke aus diesem Grund zu ignorieren. Nach dem Kriege wurden Die Vögel erst wieder 1971 in Karlsruhe gespielt, dann 1991 in Bremen und 1994 in Berlin. Die großartige Aufnahme, die 1996 von Decca produziert wurde, hauchte dem Werk ein neues Leben ein! Wenn irgendein berühmter Plattenproduzent in den fünfziger oder sechziger Jahren an dieses Werk geglaubt hätte, bekäme es seine frühere Popularität in kürzester Zeit wieder.

Eine paradoxale Ablehnung

In Braunfels‘ Umgang mit den Nazis steckt eine frappierende Ironie. Er verkörperte das Beste aus dem Erbe der deutschen Romantik. Hätten die Nazis ein Modell für alle ihre Vorstellungen von Deutschland und der Kunst finden wollen, hätte Braunfels der ideale Kandidat sein können. Als künstlerischer Nachkomme von Louis Spohr (1784-1859) liebte er Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Friedrich von Schiller (1759-1805) und Heinrich Heine (1797-1856) ebenso wie die Antike, Bach, Ludwig van Beethoven (1770-1827) und Brahms. Er hatte sich eindeutig von Wagners Parsifal inspirieren lassen (die mystische Verzauberung der Nachtigall von Hoffegut zu Beginn des zweiten Aktes). Wie in den Meistersinger von Nürnberg endet der erste Akt von den Vögel mit einem Finale in F-Dur, laut und fröhlich (ausgelöst durch den Ruf von Ratefreund „ans Werk“, der an den von Hans Sachs im dritten Akt von den Meistersinger von Nürnberg erinnert „am Fleck“).

Braunfels teilte bestimmte Ideen mit Hans Pfitzner (1869-1949 / dessen zweideutige verworrene und verstörende Affinitäten viele Zweifel an seinem Charakter aufkommen ließen, obwohl er das Objekt der Verachtung der Nazis war). Braunfels widersetzte sich den meisten künstlerischen Richtungen und Bewegungen, die die Nazis ausdrücklich verachteten. Ihr Hass auf ihn liegt nicht so sehr daran, dass er „Halbjude“ war wie sie es nannten, sondern weil er sich seit den 1920er Jahren offen gegen sie gestellt und sie kritisiert hatte, auch weigerte er sich eine Hymne für ihre Bewegung zu komponieren (so wie Pfitzner sich weigerte, ihnen einen neuen Sommernachtstraum zu schreiben). Wie die überwiegende Mehrheit der assimilierten deutsch-jüdischen Künstler und Schriftsteller dieser Zeit sah sich Braunfels in erster Linie als Deutscher, in zweiter Linie möglicherweise als Jude (er war 1917 zum Katholizismus konvertiert). Seine sofortige Verbannung durch die Nazis im Jahre 1933 und sein anschließendes Verschwinden aus dem öffentlichen Leben offenbaren sowohl die extreme Ignoranz der Nazis gegenüber dieser „reinen“ deutschen Kunst an die sie glaubten, als auch ihren Rachegeist der sie dazu trieb ein offensichtliches „Kulturmodell“ zu verdrängen. Niemand war mehr zutiefst „deutsch“ als Braunfels, der das Beste des deutschen künstlerischen Erbes verkörperte und ehrte (im besten Sinne des Wortes) seine große Kultur…

Braunfels glaubte an diese „Stadt“, aufgebaut auf die klassische Antike und die Größe der deutschen Kultur! Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache dass diejenigen, die in den 1930er Jahren von einem Tausendjährigen Reich träumten ähnlich wie das antike Griechenland. Sie behaupteten die deutsche Kultur zu kennen, aber sie hatten ein absolutes blindes Missverständnis von diesem Erbe, das sie völlig missbrauchten und besudelten!

L´Opéra national du Rhin / Die Vögel - Les Oiseaux von Walter Braunfels © Klara Beck
L´Opéra national du Rhin / Die Vögel - Les Oiseaux von Walter Braunfels © Klara Beck

19. Januar 2022 -  Premiere Die Vögel - Opéra National du Rhin

Die Inszenierung des amerikanischen Regisseurs Ted Huffman versetzte die „Stadt der Vögel“ in ein kaltes graues und nüchternes Großraumbüro mit viel Stahl und Glas, dazu mit einer äußerst hektischen und stressigen modernen Atmosphäre (U-Bahn – Arbeit – Schlafen). Es ist eine undatierte Zeit, ein unbekannter Ort: Vielleicht die der zwanziger Jahre mit seiner aufkommenden Inflation? Oder die beginnende Gefahr des Faschismus? Könnte es auf einem anderen Planeten sein? Oder an einem Ort zwischen zwei Welten? Wir müssen es nicht wissen! Wir folgen unseren Fantasien und unseren Träumen ohne die Gefahren der realistischen Welt zu vergessen. Die Szenographie des Amerikaners Andrew Lieberman ging genau in den Schritten seines Landsmannes, besonders im zweiten Akt wird das Szenenbild sehr aufregend und sehr eindrucksvoll. Indem der Papierreißer Unmengen von Akten und Papieren in ungewöhnlicher hektischer Weise zerreißt: Somit wird der gesamte Raum mit weißen Papier-Girlanden hoch bis zur Decke wie in einem traumatisierten und angsterfüllten Bild verwandelt. Dieses Motiv des Erschreckens kann alles oder nichts bedeuten: Explosion… Krieg… Inflation… Streik… Verfolgung… Vernichtung… Tod! Die Kostüme der Schweizerin Doey Lüthi sind wohl den 20er und 30er Jahren angepasst, vielleicht ein wenig zu hässlich besonders für die Damen der Besetzung, aber für uns relativ unwichtig. Die Lichtmalerei des Deutschen Bernd Purkrabek hätte nach unserer Weise etwas dramatischer ausfallen können. Sehr erstaunliche und schöne Momente zauberte uns der holländische Choreograph Pim Veulings mit einigen Tänzern der Straßburger Oper (Vladimir Hugot, Caroline Roques, Jocelyn Tardieu, Gautier Trischler) und das insbesondere mit dem holländischen Solisten Toon Lobach in der Rolle von Narziss, der mit einem hochdramatischen packenden und gleichzeitigen grazilen geflügelten Tanz das Publikum erfreute. Am Anfang wohl etwas schwach in der Konzeption hatte uns das Inszenierungsteam im zweiten Akt doch noch sehr überzeugende und einfühlsame Momente gebracht. Ein Teil des Publikum war wahrscheinlich etwas enttäuscht, denn man sah keinerlei märchenhaftes buntes gefedertes Vogelvolk auf der Bühne. Nicht eine einzige Feder war zusehen, außer in der erotischen Szene zwischen der Nachtigall und Hoffegut: Und das war ein aus weißem Papier geformter verlängerter Flügelarm der Nachtigall und das sollte wohl die erotischen Reize demonstrieren und verlängern. Der Traum der Menschheit immer größere und höhere Städte zu bauen ist so alt wie Babylon und desgleichen auch die große Sehnsucht nach dem Fliegen, auch wenn man sich die Flügel dabei verbrennt. Das Team hat sich für eine resolute sozialkritische Inszenierung mit Bauhauscharakter und Ideen der Neuen Sachlichkeit entschieden und nicht für einen kunterbunten Vogelmarkt…

Wegen Erkrankung des musikalischen Direktors Aziz Shokhakimov sprang seine Assistentin, die koreanische Dirigentin Sora Elisabeth Lee ein. Am Anfang natürlicher Weise sehr nervös und gestresst, zeigte sie uns im zweiten Akt ihr ganzes Können und zusammen mit dem Orchester der Straßburger Oper musizierte sie mit viel Relief und Inspiration diese traumhafte und wunderschöne Musik eines „entarteten“ Komponisten. Desgleichen der Chor unter der Leitung von Alessandro Zuppardo hatte die Musik von Braunfels perfekt unter der Haut!

Um es gleich im Voraus zu sagen, war die Sängerbesetzung durchgehend ausgezeichnet und exzeptionell. Die wohl wichtigste Rolle des Werkes ist unserer Meinung die Nachtigall, die mit ihrem klagenden Gesang die ideale Inkarnation der Weiblichkeit und der Sehnsucht darstellte. Wunderbar interpretiert von der kanadischen Koloratursopranistin Marie-Eve Munger, die gleich im Vorspiel mit süßen und akrobatischen zerbinettenhaften Koloraturen singt: „Liebwerte Freunde, gegrüßt, heut weilt ihr in unserem Reiche…“ Es ist eine zarte und jubilierende Interpretation, die die Sängerin mit musikalischen Finessen und technischer Vollkommenheit vorträgt. Diese Qualität beweist sie bis zum Ende der Oper, besonders im zweiten Akt in der Verzauberungsszene mit Hoffegut: „Lobst du mein zierliches Lied?“

Der junge finnische Tenor Tuomas Katajala in der Rolle des Hoffegut bringt unserer Meinung alle Voraussetzungen für diese schwierige Rolle mit und das sowohl als lyrischer und auch als Charaktertenor. Denn berechtigter Weise erinnert er mitunter an Tamino, jedoch auch an Mime! Das war eine außerordentliche Leistung indem er zwei verschiedene Stimmpaletten benutzte. Das zeigt sich besonders hervorragend im ersten Akt in seinem Duett mit Ratefreund: „Geprellt hat uns der Schuft vom Vogelmarkt!“

Ratefreund wurde von dem amerikanischen Bariton-Bass Cody Quattlebaum in überquasselnder Weise eines Papageno genial interpretiert. Dazu sang er mit seinem Spielbass in allen Höhen bequem und sicher mit Humor und Leichtigkeit, so auch im ersten Akt: „Bist du bei Trost, den Wiedhopf rufts du Bursch!“ Ein idealer Papageno-Ratefreund in all seiner naiven Pracht und Munterkeit!

Der deutsche Bariton Christoph Pohl in der Rolle des Wiedhopf, einstiger Mensch und jetzt König der Vögel, zeigte gesanglich und schauspielerisch in imposanter Weise mit seiner tiefen schwarzen Stimme vollkommen die prachtvolle diktatorische Herrscherallüre und nach seiner großen Arie im zweiten Akt haben wir keine Zweifel mehr an seinen Regierungstalenten: „Hop, hop, hop, tio! tio! ohe! Heran meine Mitgefiederten, herbei; die ihr auf weiten Feldern haust…“

Der Zaunschlüpfer, Bote des Königs Wiedehopf, wird von der zierlichen Sopranistin Julie Goussot einprägsam und mit einer leichten hellen Stimme geträllert. Eine wahre Botschafterin der Sehnsucht und des Frieden! Das zeigt sich besonders in ihrer Arie des ersten Akt: „O weh, o weh, zwei Vogelfänger…“

Der österreichische Bass-Bariton Josef Wagner sang und spielte mit viel Überzeugung die Rolle des Prometheus, indem er mit viel Nachdruck vor der Rache der Götter warnte: „Bin euer Freund, als Warner kam ich her…“ und das mit einer typischen durchdringenden Wagner-Stimme.

Der koreanische Bass Young-Min Suk sang mit kraftvoller Stimme den allgewaltigen Gottvater Zeus, indem er mit seinem tiefschwarzen Timbre die ganze Wut und Entschlossenheit hervorbrachte. Die restliche Vögel wurden u.a. von Antoin Herrera-López Kessel, Bass (Adler); Daniel Dropulja, Bass (Rabe); Namdeuk Lee, Tenor (Flamingo); Simonetta Cavalli, Sopran (1. Drossel); Nathalie Gaudefroy, Mezzosopran (2. Drossel); Dilan Ayata, Sopran (1. Schwalbe); Tatiana Zolotikova, Sopran (2. Schwalbe) und Aline Gozlan, Sopran (3. Schwalbe) haben mit bewunderungswerten Trillern gezwitschert und jubiliert. Auch die Aussprache aller Sänger war ausgezeichnet!

Obwohl Die Vögel eine interessante und sehenswerte Aufführung ist, hätten wir uns doch ein wenig mehr Romantik und Schönheit gewünscht und weniger hässliche Sachlichkeit.     PMP/27.01.2022

Die Vögel an der L´Opéra national du Rhin; die weiteren Termine Straßburg  30.1.; Mulhouse 20.2.; 22.2.2022

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