Strasbourg, Opéra national du Rhin, WEST SIDE STORY - Leonard Bernstein, IOCO Kritik, 13.06.2022

Strasbourg, Opéra national du Rhin, WEST SIDE STORY - Leonard Bernstein, IOCO Kritik, 13.06.2022
L´Opéra national du Rhin - Strasbourg ©: Wikimedia Commons / Robert Cutts
L´Opéra national du Rhin - Strasbourg ©: Wikimedia Commons / Robert Cutts

L´Opéra national du Rhin

WEST SIDE STORY - Leonard Bernstein (1957)

- DER TEUFEL STECKT IN DER MUSIK! -

von Peter Michael Peters

„In 1750 the big attraction was the Singspiel. This popular amusement was elevated to art by Mozart’s genius. We are in the same situation. We’re just waiting for Mozart.”   Leonard Bernstein, 1946

Während seiner Zeit als Tänzer am New York City Ballet entwickelte Jerome Robbins (1918-1998) mehrere Szenarien für sehr farbenfrohe Aktions-Ballette nach dem Vorbild der russischen Schule. Ihm wurde dann vorgeschlagen, das Experiment mit einer kleinen Formation und einer vereinfachten Szenografie zu versuchen, damit sein Projekt eine Chance auf Erfolg und eine Tournee hatte. So entwarf er Fancy Free (1944), eine Komödie in einem Akt, in der sich Matrosen auf Urlaub in einer New Yorker Bar amüsierten. Unterstützt wurde er bei diesem Projekt von seinem Freund Oliver Smith (1918-1994), Maler, Szenograf und zukünftiger Co-Direktor vom Ballett Theatre. Letzterer machte ihn dann mit einem noch unbekannten jungen Musiker und Komponisten bekannt: Leonard Bernstein, der gerade als Assistent des Dirigenten Artur Rodzinsky (1892-1958) bei dem New Yorker Philharmonic Orchestra eingestellt worden war und gerade seine Symphonie Nr. 1 „Jeremiah“ (1944) fertiggestellt hatte. Zwischen den beiden Schöpfern bestand sofort ein kreativer Kontakt.

Robbins und Bernstein hatten die Jugend gemeinsam, beide waren damals fünfundzwanzig Jahre alt. Unermüdliche und hyperaktive Schöpfer, die gerne Ideen austauschten und sich künstlerischen Herausforderungen stellten. Auf der Suche nach all den neuen Trends wussten sie, wie sie das Beste aus dem machten, was sie entdeckten. Ihre sehr unterschiedlichen Temperamente ergänzten sich wunderbar: Bernstein war der Typ des dionysischen Schöpfers, inspiriert und begeistert; während Robbins in Meisterschaft und Ordnung, eher den apollinischen Typus verkörperte. Die Kreativität dieses neuen Tandems schien grenzenlos!

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Aus der Zusammenarbeit zwischen Robbins, Bernstein und Smith entstand die erste Show, Fancy Free. Das Ballett von Robbins war eine echte Innovation. Entschlossen zeitgenössisch hält es sich an der unmittelbarsten Realität fest. Die Tänzer verkörperten starke Charaktere, die sich vor einem Hintergrund von Intrigen entwickelten, die mit Humor und Rhythmus erzählt wurden. Die Choreographie hingegen verband Elemente des klassischen Balletts mit den Bewegungen moderner Gesellschaftstänze, die perfekt zu den jazzigen Akzenten von Bernsteins symphonischer Musik passten. Über Nacht wurden Lenny und Jerry, wie sie jetzt nannten, zu den aufstrebenden Stars des amerikanischen Tanzes und der Musik. Ende 1944 präsentierten sie ihre erste Show am Broadway, das Musical On the Town, inspiriert nach einem Ballett von Robbins.

Das Romeo-Projekt

Der Schauspieler Montgomery Clift (1920-1966) lernte Robbins im Actors Studio kennen, wo er Schauspielunterricht nahm. Trotz seiner Erfahrungen in Hollywood fragte er sich, wie er die Rolle des Romeo in dem berühmten Theaterstück von William Shakespeare (1564-1616) interpretieren sollte. Er war verzweifelt, weil er diese Figur nicht verstand, die er als „an embarrassing passivity“ betrachtete. Er ließ sich von Robbins beraten, der das berühmte Drama Romeo and Juliet (1597) lass. Der junge Choreograf war äußerst beeindruckt von der Intensität, mit der die Halbwüchsigen ihre Wünsche äußerten. Ihm kam dann die geniale Idee, diese starken Emotionen in eine zeitgenössische Situation zu übertragen. Er plante, die Handlung in einem Stadtteil der Lower East Side von New York anzusiedeln, wo zwei rivalisierende Jugendbanden aus unterschiedlichen Kulturen aufeinandertrafen. Wie es Clift schließlich gelang, den Charakter von Romeo zu definieren, sagt die Geschichte nicht. Aber Robbins beschäftigte nun das Projekt einer modernen Adaption des Klassikers von Shakespeare, dem Konzept Romeo, wie er es auf einen Anhieb nannte. Robbins entwickelt einen ersten Entwurf und versuchte andere Künstler und Produzenten für sein Projekt zu interessieren.

Opéra national du Rhin / WEST SIDE STORY © Klara Beck
Opéra national du Rhin / WEST SIDE STORY © Klara Beck

Jüdische Wurzeln und antike Tragödie

Vier Jahre nach der Geburt des Romeo-Konzepts lernte Bernstein bei Robbins den Dramatiker Arthur Laurents (1917-2011) kennen. Dieser hatte gerade mit dem Theaterstück Home of the Brave (1945), einer heftigen violenten Gesellschaftssatire, großen Erfolg am Theater. Er schien der perfekte Partner zu sein. Von der ersten Brainstorming-Session an ist der Austausch zwischen den drei Künstlern sehr angeregt. Tatsächlich aber gefällt Bernstein überhaupt nicht die Idee, den Familienstreit in der Tragödie von Shakespeare durch einen religiösen Konflikt zwischen zwei Gruppen: Jüdischen und Katholischen Glaubens zu ersetzen! Laurents seinerseits macht deutlich, dass er nicht die Absicht hat, der unterwürfige Librettist einer „verdammten Oper“ von Bernstein zu werden. Trotz dieser grundlegenden Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Künstlern macht sich jeder an die Arbeit.

Laurents beginnt die ersten Szenen zu schreiben. Aber Bernsteins Begeisterung für den Beginn der Arbeit weichte einer Missbilligung im Rest der Handlung, die er für zu aggressiv und vulgär hielt. Und auch wenn sich Bernstein und Laurents darin einig waren, dass kommunale Auseinandersetzungen zwischen Juden und Katholiken nun der Vergangenheit angehören, so scheiterten die Verhandlungen jedoch an diesem Punkt. Erst sechs Jahre später, am 25. August 1955, setzten sie sich um den Swimmingpool eines Hotels in Berverly Hills herum und führten die Diskussionen fort, wo Laurents und Bernstein sich zufällig begegnet waren.

Bernstein schreibt in ein Notizbuch: Jerry does not give up. A six-year break does not bother him at all”. Am Ende blieb das Romeo-Konzept noch immer aktuell. Zwei Monate später besprachen Bernstein und Laurents einen Artikel, der die Titelseite der Tageszeitung Los Angeles Times einnahm. Sein Titel war: „War between gangs of young people in the Mexican quarter oft he city“ enthüllt die Realität der Ghettos mexikanischer Einwanderer, die an die der Puerto-Ricaner in den USA erinnert an der Upper West Side von New York. Das von Robbins entwickelte Konzept findet eine neue Berechtigung! Es stellt sich jetzt als offensichtlich heraus: In dieser Nachbarschaft musste die Handlung stattfinden. Robbins nahm den Vorschlag von Laurents und Bernstein begeistert auf und sie verpflichteten sich am 6. September desselben Jahres feierlich, das Projekt so schnell wie möglich zu beginnen.

Ein neues Kapitel in der Geschichte der Musical Comedy

Opéra national du Rhin / WEST SIDE STORY © Klara Beck
Opéra national du Rhin / WEST SIDE STORY © Klara Beck

Ursprünglich war die Anwesenheit eines vierten Mannes in der Gruppe nicht geplant. Bernstein erkennt jedoch schnell, dass es für ihn unmöglich war, die Texte der Songs alleine zu schreiben, da er bereits für die musikalische Komposition verantwortlich war. Die Idee der Schöpfer war, dass die Choreographie ebenso wie die Musik ein integraler Bestandteil der Erzählung wurde und nicht nur ein einfaches Zwischenspiel, das den Lauf der Geschichte unterbrach. Dieses Projekt erforderte daher mehr symphonische Musik und mehr Arrangements. Aber wer konnte die Songtexte schreiben? Um sie herum hatten alle, die ihnen das nötige Talent zu haben schienen, bereits anderweitige Verpflichtungen. Laurents hörte dann bei einer Audition einen jungen talentierten Musiker und Songschreiber, der ihn tief beeindruckt hatte: Stephen Sondheim (1930-2021)! Dieser junge Mann um die 25 wurde sofort zu einem Treffen eingeladen. Bernstein war begeistert. Er war sich sicher, den idealen Kandidaten gefunden zu haben. Sondheim seinerseits war zutiefst enttäuscht, nur mit der Ausarbeitung der Songtexte betraut zu werden, aber nicht mit der Musik. Er strebte den Rückzug aus dieser Zusammenarbeit an und versuchte, seine Agentin Flora Roberts (1921-1998) zu überzeugen, dieses Angebot mit den extravagantesten Argumenten abzulehnen: „It’s impossible for me do this show, because I don’t really know what it means to be really poor and besides, I don’t know any Ricans…“. Es bedurfte schliesslich der Intervention seines Meisters und Mentors, des berühmten Oscar Hammerstein II (1895-1960), um ihn davon zu überzeugen, sich diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen zu lassen: Die Zusammenarbeit mit einem Team erstklassiger Profis. Das war nun abgeschlossen. Das Trio wurde jetzt ein Quartett!

Die Sprache der Straße und der Körper

Es ist schliesslich der Jüngste des Teams, Sondheim, der das Projekt endgültig rettet. Tatsächlich kontaktierte er seinen alten Freund Harold Prince (1928-2019), den er bittet, sich nicht mit einer schnellen Lektüre des Librettos von Laurents zufrieden zu geben, sondern zu kommen und sich die außergewöhnliche Musik von Bernstein anzuhören. Prince war mit seinem Partner Robert E. Griffith (1907-1961) in Boston und leitete die Audition für eine neue Show, die für den Broadway geplant war. Einige Jahre zuvor hatte er, ohne jedoch jemals das Libretto gelesen zu haben, durchblicken lassen, dass ihn die Geschichte von Romeo nicht interessierte. An diesem Abend versprach er Sondheim jedoch, am darauffolgenden Sonntag in Begleitung von Griffith an einer der Proben des Musicals teilzunehmen. Die Proben-Aufführung transformiert die beiden Produkteure! Prince und Griffith, zwei große Theaterbegeisterte, waren total überzeugt. Sie beschlossen sich an der Finanzierung zu beteiligen. Gleich am Tag nach der Premiere ihres Musicals New Girl in Town (1957), machten sie sich mit solcher Begeisterung an die Arbeit, dass sie es schafften, innerhalb einer Woche die nötigen Geldmittel aufzubringen (350 000 $). Das Winter Garden Theatre am Broadway wurde gemietet. Als Datum für die Uraufführung wurde der 26. September 1957 festgelegt. Die Proben konnten endlich voll beginnen.

Jeder soll seine Stimme erheben

Die vier Gefährten arbeiteten hart. Ihnen fehlten die Worte, um zu definieren, was sie wirklich erreichen wollten. Doch jeder wusste genau, wo er hin wollte. Vor allem definierten sie die Arbeit danach, was sie nicht sein sollte! Der kreative Prozess war daher eine Quelle von Freude und Schmerz zugleich. Zu gleichen Teilen Partner und Co-Inspiratoren des Projekts, waren sie gezwungen sich unermüdlich neu zu investieren und das bereits Erreichte ständig neu zu hinterfragen, auch wenn dies bedeutete einen Teil davon aufzugeben.

Seit mehr als sechs Monaten verfeinern sie die Besetzung. Da es sich bei den Bühnenfiguren um Teenager handelte, musste das Ensemble aus jungen Menschen zusammengesetzt werden und gleichzeitig den künstlerischen Anforderungen des Librettos, der Partitur und der Choreografie genügen. Zunächst stellten sie sich die Frage, ob sie Sänger, Schauspieler oder professionelle Tänzer einsetzen sollten. Die Kandidaten sollten möglichst vielseitig sein, eine starke intakte Energie und Frische aufweisen und auch viel Persönlichkeit zeigen. Einmal war es nicht wie üblich, sie entschieden sich für einen experimentalen Ansatz und beschlossen, junge Talente aller sozialen und kulturellen Herkünfte einzuladen: Theater, TV oder Cinema, ob sie Kurse besucht haben oder auch nur von der Straße kamen. Die Auditionen waren gnadenlos streng und dieselben Künstler wurden immer wieder zu einer zusätzlichen Prüfung gerufen. Selbst eine so erfahrene Künstlerin wie die Puertoricanerin Chita Rivera (*1933) musste fünfmal die Jury passieren, bevor ihr die Rolle der Anita anvertraut wurde.

Nichts wurde dem Zufall überlassen. Die Kulissen wurden dem Szenografen Smith anvertraut. Neben mehreren Balletts-Szenografien hatte er bereits an zahlreichen Broadway-Musicals wie My Fair Lady (1956) von Alan Jay Lerner (1918-1986) und Frederick Loewe (1901-1988) mitgewirkt. Von Anfang an mit dem Konzept vertraut, wurde Smith die fünfte Schlüsselfigur in der Entwicklung des Projekts. Mit Materialien wie Backstein, Beton und Stahl gelang es ihm, einen urbanen Dschungel auf der Bühne nachzubilden.

Die Kostümdesignerin Irene Sharaff (1910-1993) war eine äußerst begabte und talentierte Modeschöpferin. Diese Künstlerin, die an große Broadway-Shows gewöhnt war und einen sehr glamourösen Stil hatte, scheute sich nicht, in der 110th. Street herum zu streunen um zu studieren, wie sich junge Leute in diesem populären Viertel kleideten. Sogar die Jeans wurden personalisiert! Sie zeigten unterschiedliche Farben und jedes Mitglied einer Bande trug trotz eines einheitlichen Aussehens ein eigenes Kostüm, das seinen Charakter unterstreicht.

Vervollständigt wurde das Team durch die zarte schmächtige Jean Rosenthal (1912-1969), die für die Kreation der Beleuchtung verantwortlich sein wird. Sie machte die Theaterbeleuchtung, eine bisher wenig beachtete Tätigkeit, zu einer eigenen Kunst. Sie war bereits eine der erfahrensten Licht-Designerinnen im amerikanischen Theater.

Radioaktiver Niederschlag über dem Broadway

Die Kritiker, die die Broadway-Premiere begrüßten, waren erwartungsgemäß ziemlich gemischt. Aber ob enthusiastisch oder gemäßigt, in einem Punkt waren sie sich alle einig: Das es eines der originellsten dramatischen Werke war, das je am Broadway geschaffen wurde.

Obwohl die Show für ihre künstlerischen Qualitäten gelobt wurde, provozierte der Zusammenstoß zwischen rivalisierenden Banden, an denen Puertoricaner beteiligt waren, eine starke Reaktion der betroffenen Gemeinschaft. Die Songtexte von Sondheim für America, der Startitel von West Side Story, waren in hispanischen Kreisen der Stadt besonders Gegenstand scharfer Kritik. Auch in der New York Times wurde die Wortwahl sehr kritisiert. Man erinnerte ins besonders an die Verse, wo Puerto Rico als „island of tropic breezes“ genannt wurde, desgleichen verglich man auch die Insel mit dem „island of tropic diseases.“ Sondheim wehrt sich! Er erinnerte daran, dass West Side Story eine poetische und dramatische Fiktion ist und betonte, dass Puerto Rico ein sehr gastfreundliches Land ist. Allmählich beruhigte sich die aufgeregte Stimmung.

West Side Story ging für eine Reihe von 734 Vorstellungen ins Winter Garden Theater. Der Erfolg war auf dem Weg! Daher das Erstaunen der Kreateure, als 1958 der Tony Awards vergeben wurde, wo nur Robbins für die Choreographie und Smith für die Bühnendekoration Preise erhielten. Drei der Darsteller waren noch nominiert: Carol Lawrence (*1932 / Maria), Larry Kert (1930-1991 / Tony) und Rivera (Anita). Und es war die konventionellere Musikkomödie The Music Man (1957) von Franklin Lacey (1917-1988) und Meredith Willson (1902-1984), die den Preis für die beste musikalische Show erhielt. Es war eine Familienunterhaltung, die mehr dem Geschmack der Jury entsprach. Trotzdem wurde eine Schallplatte produziert und eine große Tournee vorbereitet.

Opéra national du Rhin / WEST SIDE STORY © Klara Beck
Opéra national du Rhin / WEST SIDE STORY © Klara Beck

Ein Ende sucht seinesgleichen

Im Dezember 1958 hob sich der Vorhang für die europäische Premiere von West Side Story im Queen’s Theater im Londoner West End. Das Publikum strömte in Scharen, besonders für die atemberaubende Rivera, die für ihre Interpretation der Anita triumphal empfangen wurde. Die Show wurde ein riesengroßer Erfolg und führte zu 1039 Vorstellungen. London war der Ort der Weihe, an dem Publikum und Kritiker diesem Meisterwerk die verdiente Ehre erwiesen. Jeder erkannte das enorme Potenzial dieser einzigartigen Theater-Komposition. West Side Story revolutionierte das Genre der musikalischen Komödie und initiierte eine neue Form, die eine große Zukunft versprach.

Im April 1960 kehrte die ursprüngliche Show für sechs Monate zum Broadway zurück. Diesmal waren Presse und Publikum Feuer und Flamme für das Musicals. Leider musste das Stück nach einer Meinungsverschiedenheit zwischen der Musiker-Gewerkschaft und dem Produzenten Prince eingestellt werden. Inzwischen hatte United Artists die Filmrechte für West Side Story erworben. Im Mai 1959 hatte die New York Times angedeutet, dass Marlon Brando (1924-2004) an der Rolle des Tony interessiert sei und sich gleichzeitig darüber hinaus fragte, wie wohl ein 35-jähriger Mann einen Teenager auf glaubwürdige Weise spielen könnte… Neben der beeindruckenden Rita Moreno (*1931) in der Rolle der Anita wurde schließlich dem Schauspieler Richard Beymer (*1938) die Rolle des Tony anvertraut und die Maria für Natalie Wood (1938-1981). Da die beiden keine Sänger waren, wurden sie für den gesungenen Teil gedoppelt.

Der für die Choreografie verantwortliche Robbins war nicht besonders glücklich über die Idee, mit dem Filmregisseur Robert Wise (1914-2005) zusammenzuarbeiten zu müssen. Perfektionistisch forderte er ganze zehn Wochen nur für die Proben und Rekrutierung ehemaliger Tänzer der Truppe, die an den Aufführungen von London und New York teilgenommen hatten. Um den Szenen grösstmöglichen Realismus zu verleihen, wurde als Drehort die Nähe der 68th Street in Manhattan gewählt. Genau an dieser Stelle steht heute das Lincoln Center, in dem sich die Metropolitan Opera befindet. Der Film brach alle Kassenrekorde und gewann 1961 zehn Oscars. Es ist eine der meist preisgekrönten Produktionen in der Geschichte Hollywoods.

West Side Story zog Millionen von Zuschauern auf der ganzen Welt an und die Show ist bis heute eine der meistgespielten musikalischen Theaterstücke. Seine Sprache ist universell, seine Botschaft für brüderliches und tolerantes Zusammenleben über unterschiedliche Kulturen und Sitten hinweg ist nach wie vor sehr aktuell.

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WEST SIDE STORY -  8. Mai 2022  - Opéra National du Rhin, Strasbourg

Mit einem elektrischen Kurzschluss-Effekt: Plötzliche Lichtausschaltung, völlige Dunkelheit, Vorhang auf, im Hintergrund eine Batterie drummt chaotisch, das Orchester spielt die ersten Töne und so sind wir schon gleich am Anfang inmitten einer atemberaubenden Show. Der australische Regisseur und in diesem Fall auch Bühnenbildner, Barrie Kosky bringt uns die West Side Story mit brutaler Gewalt näher in unsere Epoche, in unsere Städte und auch weniger sittsam und viel unartiger wie der berühmte Film der fünfziger Jahre. Die Zeiten und Sitten haben sich geändert und natürlich nicht zu ihrem Besten! Der Regisseur zeigt uns eine neue Dimension dieser Liebesgeschichte, ohne sie zu verändern noch zu vergewaltigen. Diese Produktion der Komischen Oper Berlin hat schon einen legendären Publikumserfolg hinter sich und sie wird höchstwahrscheinlich diesen Mythos fortsetzen. Kosky und der österreichische Choreograf Otto Pichler verlassen den Klassizismus einer New Yorker Kulisse und verleihen dem Meisterwerk von Bernstein und Robbins eine noch universellere Dimension. Brutaler auch!

Was wäre, wenn diese West Side (Story) zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr in New York, sondern in irgendeiner Metropole liegen würde? Kosky, Regisseur einer feenhaften Zauberflöte im Stummfilm-Stil oder einem umwerfenden Pelléas et Mélisande bleibt dem Hintergrund der vereitelten Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria treu, die zwei rivalisierenden Gangs angehören. Aber er beschließt, das Meisterwerk von Bernstein, Robbins, Laurents und Sondheim (das Schock-Quartett, das es 1957 auf der Bühne am Broadway kreierte) seiner geografischen Dimension zu berauben. So verlassen wir die charakteristischen Backsteinmauern, die Steven Spielberg wieder aufnahm in seinem Remake, um sie dann genial abgerissen zu zeigen. Auf der Bühne in Strasbourg gibt es nur hier und da eine Leiter, wie ein Echo der Notleitern, die eine Stadt prägen. Der findige ideenreiche Australier, der diese Produktion 2013 in Berlin kreierte, arbeitete eng mit Pichler zusammen, der auch die Inszenierung mitgestaltete. Keine Frage der Radikalisierung des sowohl antiken als auch stets modernen Themas, sondern nur eine Entstaubung und Vertiefung des Stücks.

Für das Dekor eine leere schwarze Bühne und zwei seitliche Leitern. Die Markierungen auf dem Boden erinnern an einen wilden Basketballplatz, auf dem ein Jugendlicher trainiert und mit den Rebounds seines Balls „die drei Schläge“ des Abends erzielt. Ein paar seltene Elemente werden den weitgehend offenen Bühnenraum ausstatten: Ein Bett, Docs Obst- und Gemüsestand, eine Metalltreppe für die Balkonszene oder ein Wald aus Discokugeln, die von der Decke für die Ballszene herabsteigen. Die Jets treten in Kapuzenpullis auf. Dann sind die Sharks an der Reihe, natürlich mit nacktem tätowierten Oberkörper. Die Kostüme wurden von dem französischen Kostümbildner Thibaut Welchlin mit viel Einfühlungsvermögen entworfen. Kosky und Pichler verzichten auf offensichtliche Verweise auf das New York der 1950er Jahre (Schauplatz des ursprünglichen Musicals von 1957, Wises Film und Spielbergs Remake von 2021), um uns in die Außenbezirke einer der modernen multiethnischen und multikulturellen Metropole zu versetzen, in der die grausamen Bandenkriege weitergehen. Aus der anfänglichen Geschichte von Romeo and Juliet von Shakespeares, übertragen in West Side Story, machen sie somit eine universelle und zeitlose Liebestragödie.

Dieser szenografische Minimalismus lässt dem Betrachter seine eigene Vorstellungskraft (jeder kennt die Inhalt fast auswendig) und wird von mehreren Elementen bewohnt. Zunächst einmal bringen Pichlers Choreografien, die eindeutig inspiriert sind von Robbins Kreation, dazu makellos von der gesamten Truppe und dem Ballet de l’Opéra du Rhin ausgeführt, bringen sie so ihre enorme Energie ein und tragen mit Klarheit zur Erzählung bei. Die sehr theatralische Beleuchtung von dem französischen Lichtdesigner Frank Evin formen den Raum und heben die wenigen wichtigen Bühnendekorationen bedeutender hervor. Der Einsatz der Drehscheibe und die intensive Regieführung der Schauspieler sorgten dafür, dass eine optimale Verschmelzung von Sprechtheater, Gesang und Tanz ohne Unterbrechung gewehrleistet wurde. Ein dezentes und ausgewogenes Soundsystem sorgte dafür, dass jeder perfekt gehört und verstanden wurde. Auch wurde aus Gründen der Wahrhaftigkeit und Universalität die englischen Akzente respektiert, ohne jedoch systematisch amerikanisch oder latino zu klingen.

In einer überwiegend aus dem Musicals stammenden Besetzung kommt die neuseeländische Sopranistin Madison Nonoa, die Maria verkörpert, aus der Welt der Oper. Ihre kristallklaren hohen Töne, das Fruchtige des Mediums zeigen eine reiche flexible und sehr berührende Stimme, genau wie ihre bemerkenswerten schauspielerischen Talente. Was den amerikanischen Musicals-Interpret Mark Schwitter angeht, hier sind die musikalischen Kontexte entschieden anders als in der Operntradition. Er verkörpert einen fast jugendlichen Tony, mit klarer Stimme, zwangsläufig weniger kraftvoll und farbenreich als seine Partnerin, schafft es aber dennoch mit schwebender Höhe in der Kopfstimme und mit schönster wasserklarer Stimmlage auf das gleiche Niveau zu kommen. Ein sehr investierter Schauspieler! Die englische Sängerin Amber Kennedy gab der Rolle der Anita all seine stimmlichen Erleichterungen mit einer sehr angelsächsischen Tendenz, indem sie ihre Höhen sehr zärtlich erarbeitet. Auch sie war äußerst beeindruckend als Schauspielerin. Als Riff beindruckte der belgische Sänger Bart Aerts mit seiner Bühnenpräsenz und einem verwirrenden Naturgesang.

Aber es ist die gesamte große Truppe, die für ihre Investition, ihre Energie, ihre vielfältigen Talente als Schauspieler, Tänzer und Sänger gewürdigt werden sollte. Viele Interpreten kommen aus dem Ballett und schaffen es, sich perfekt in die Choreografien, aber auch in die Chöre und die szenischen Inkarnationen des Ensembles zu integrieren, wie etwa der französische Tänzer Marin Delavaud als Chino, um nur ein Beispiel zu nennen. Auch die Rollen von Doc (Dominique Grylla), Lieutenant Schrank (Flavien Reppert) oder Officer Krupke (Logan Person) sind außerordentlich charaktervoll individualisiert.

Wer könnte besser als der amerikanische Dirigent David Charles Abell die Richtung der musikalischen Arbeit sicherstellen? Als ehemaliger Schüler von Bernstein wurde er sogar mit der Veröffentlichung als Mitarbeiter der Mass (1971) und später der West Side Story anlässlich der diskografischen Aufnahme im Jahre 1985 beauftragt. Sein klarer und sehr ausgeprägter Takt sorgt für den Rhythmus, die Perkussionen und den tadellosen Zusammenhalt. Mit viel Überzeugung schafft es l’Orchestre symphonique de Mulhouse, trotz der rhythmischen Komplexität der Partitur, ohne an Homogenität zu verlieren, in jazzigen oder lateinamerikanischen Farben zu täuschen. Seine klassische Ausbildung glänzt immer noch in einem fast zu glatten und perfekten Ton, mit zu geschmolzenen Saiten und einem Mangel an Schärfe oder Rauheit, aber es beeinträchtigte niemals die Kohärenz dieser auffallenden Show und die vom Publikum begeistert gefeiert wurde.

Ja, man kann wirklich sagen, es war sehr begeisternd, rührend und beglückend zu sehen, wie drei Generationen aufstanden und die Künstler mit einem donnernden Riesenapplaus zu begrüßen. Dieses Meisterwerk hat keine Altersfalten bekommen; es ist noch immer jung und hoch aktuell!   (PMP/10.6.2022)

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