Strasbourg, Opéra National du Rhin, GUERCŒUR - Albéric Magnard, IOCO
L´Opéra National du Rhin: Mit Guercœur interpretiert von dem französischen Bariton Stéphane Degout und einem prächtigen Orchestre Philharmonique de Strasbourg erweckt l’Opéra National du Rhin dieses wenig bekannte Werk von Albéric Magnard .......
GUERCŒUR (1901/1931) - Albéric Magnard, Tragödie in Musik in drei Akten mit einem Libretto des Komponisten.
von Peter Michael Peters
DIE FRANZÖSISCHE OPER GEGENÜBER WAGNER…
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert übte Richard Wagner (1813-1883) durch sein Werk und seine Schriften erheblichen Einfluss auf das französische lyrische Theater aus, das seinen Weg zwischen nationalen Traditionen und neuen Strömungen suchte. Mit seinen drei dramatischen Werken verdeutlicht Albéric Magnard (1865-1914) die Komplexität der Beziehungen, die seine Landsleute zu dieser ebenso inspirierenden wie hemmenden germanischen Figur pflegten.
Nach der vernichtenden Niederlage Frankreichs gegen Preußen im Jahr 1870 wandten sich französische Musiker nicht unbedingt von Deutschland ab, sondern strömten nach Bayreuth und in andere deutsche oder europäische Städte, um Dramen von Wagner beizuwohnen, die von den Pariser Theatern gemieden wurden. Die meisten Enthusiasten sahen in den neuesten Kreationen des Meisters ein Modell, das in der Lage war, das im Niedergang begriffene Werk der großen französischen Oper zu ersetzen. „[W] war mit allen Künsten vertraut und nutzte alle Künste, um sein Ideal, das lyrische Drama zu erreichen und es befriedigt uns auch voll und ganz, weil es die vagen Tendenzen unserer Zeit zur ästhetischen Einheit zusammengefasst hatte und auch zum Ausdruck gebracht hatte“, schrieb Magnard im Jahr 1891 und übersetzte damit die Gefühle seiner begeisterten Wagner-Kollegen. Diese Tendenz zur dramatischen Einheit ähnelt der, die sich in Frankreich im symphonischen Bereich durch die Anhänger von César Franck (1822-1890) durch ihre Bindung an die „zyklische Form“ manifestierte. Auch die Anhänger von Franck – mit denen Magnard durch seinen Lehrer Vincent d‘Indy (1851-1931) verbunden war – gehörten zu Wagners glühendsten Verehrern!
Eine große Vielfalt an Einstellungen…
Mit seinem kontinuierlichen musikalischen Fluss, seinem Netzwerk leitender Motive, das von einem kraftvollen, am Geschehen beteiligten Orchester getragen wird, seiner deklamatorischen Stimm-Gewalt und seiner innovativen harmonischen Sprache widersetzt sich das Wagner-Musikdrama radikal den Konventionen der Nummern-Oper des 19. Jahrhunderts. Durch seine legendäre Inspiration reagiert es auf die Bestrebungen französischer Komponisten nach einer tieferen und ernsthafteren Kunst. Wenn niemand vorgibt, seine Verfahren sklavisch anzuwenden, entgeht niemand seinem Einfluss. Einige – und nicht die geringsten – zeigen ohne ihre Bewunderung zu leugnen, dennoch wenig Lust, den Weg der französischen Oper zu verlassen: Jules Massenet (1842-1912) setzt sich für eine Fusion französischer, deutscher und italienischer Schulen ein, während Camille Saint-Saëns (1835-1921) erklärt, nur „der Natur angepasste Wagner-Prozesse“ zu verwenden.
Obwohl er den Helden aus Der Ring des Nibelungen (1857) in seiner Oper Sigurd (1884) enthält, gibt Ernest Reyer (1823-1909) die Coden der Grand Opéra Français nicht auf, ebenso wenig wie Emmanuel Chabrier (1841-1894) in seiner Oper Gwendoline (1886), trotz der Wagner-Farbigkeit des Werks. Diese beiden Werke hatten ihre Uraufführung am Théâtre de la Monnaie in Brüssel, wo die „fortschrittlichsten“ Partituren der französischen Schule Zuflucht fanden, bevor sie sich auf der Bühne der Opéra National de Paris etablierten. Auch in Brüssel, der Hauptstadt des Symbolismus und Wagnerismus, wo sich die musikalischen, literarischen und bildnerischen Avantgarden vereinten, besuchte Edouard Lalo (1823-1892) im Jahr 1883 eine Aufführung Der Ring des Nibelungen. Allerdings wird er es aufgeben, seine Oper Le Roi d’Ys (1883), uraufgeführt an der Opéra Comique in Paris, als ein lyrisches Drama zu gestalten, da er sich der großen Aufgabe mit Wagner zu konkurrieren, nicht gerade gewachsen fühlte: Was ihn aber nicht daran hinderte auf Lohengrin (1850) zu schauen! Viele Komponisten des folgenden Jahrzehnts blieben somit in einer Art Zwischen-Stadium und behielten die Traditionen der Grand Opéra Français bei, während sie bestimmte musikalische oder dramatische Züge von Wagner übernahmen.
Auf der anderen Seite machten sich die Schüler von Franck entschlossen Wagnersche Prinzipien zu eigen, bis hin zum Verfassen eigener Librettos, wobei sie sich für freie Verse oder rhythmische Prosa entschieden (d’Indy, Ernest Chausson [1855-1899) oder der regulären Versform treu blieben (Augusta Holmès (1847-1903), Henri Duparc [1848-1933). Die folgenden beiden Werke wurden im Théâtre de La Monnaie uraufgeführt: Fervaal (1897) von d’Indy und Le Roi Arthus (1903) von Chausson, sie sind vielleicht die repräsentativsten Dramen des französischen Wagnerismus auf ihrem Höhepunkt, mit ihren offensichtlichen – wenn auch abgelenkten – Anspielungen auf Parsifal (1882) für den einen und Tristan und Isolde (1865) für den anderen. Chausson jedoch, der sich seiner selbst weniger sicher war als d’Indy, leidet unter einer echten Wagner-Besessenheit, von der er sich nicht befreien konnte.
Eine neue Generation…
Magnard wurde in den 1860er Jahren geboren und gehört zur Generation von Gustav Mahler (1860-1911) und Richard Strauss (1864-1949). Zu seinen Zeitgenossen in Frankreich zählen Claude Debussy (1862-1918) Pierre de Bréville (1861-1949) sowie Augustin Savard (1814-1881) und Guy Ropartz (1864-1955), denen er besonders nahe stand. Alle diese jungen Leute gingen nach Bayreuth und kamen fasziniert zurück. Sie waren auch beeindruckt von Le Chant de la Cloche (1886), dramatische Legende von d’Indy, einem der Wagner am nächsten liegenden französischen Werke – wenn auch nicht szenisch – der 1880er Jahre. Sie selbst kamen nach verschiedenen unvollendeten Projekten oder Versuchen erst spät zum lyrischen Drama und profitierten so von einem heilsamen Rückschritt. Paul Dukas (1865-1935) schloss sich endlich mit dem belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck (1862-1949) zusammen für seine Oper Ariadne et Barbe-Bleue (1907), uraufgeführt an der Opéra Comique Paris. Während Ropartz mit der Hilfe von Magnard einem der fortschrittlichsten im Schreiben eines dramatischen Gedichts das Libretto für seine Oper Pays (1912) anvertraute: Dem bretonischen regionalistischen Schriftsteller Charles Le Goffic (1863-1932)! Durch die Hinwendung zu anderen ästhetischen Horizonten gelang es beiden, sich von dem Wagner-Einfluss zu befreien, der ihre Vorgänger so stark geprägt hatte. Sie lernen auch die Lektion von Debussy, der vor ihnen das Bedürfnis verspürte, neue Wege einzuschlagen und sich 1893 an die Komposition dessen machte, was „nach Wagner“ das Schlüssel-Werk werden sollte: Pelléas et Mélisande (1902) uraufgeführt an der Opéra Comique Paris.
Während er zwischen 1886 und 1896 viermal nach Bayreuth pilgerte, sah Magnard seinerseits das Komponieren lyrischer Dramen weniger als Berufung denn als Unvermeidlichkeit: „Ich fühle mich unweigerlich zur Theater-Musik hingezogen. Umso schlimmer und umso besser!“, schrieb er 1888, als er an Yolande arbeitete. Mit diesem einaktigen „Musik-Drama“, das er seinem Freund Savard widmete und das am Théâtre de la Monnaie Brüssel im Jahr 1892 uraufgeführt wurde, ist der leidenschaftliche Symphoniker dennoch der erste seiner Generation, der eines seiner Werke auf die Bühne brachte. Sein beeindruckender kritischer Geist und seine unerschütterliche Unabhängigkeit schützen ihn vor dem blinden Festhalten an den Geboten von Wagner und d’Indy: Unter deren Überlegenheit er litt! Wenn er Fervaal für „das bedeutendste Werk […] hält, das seit den Dramen von Wagner erschienen ist“, beurteilt er dennoch „die Konzeption und Ausführung […] zu Wagnerianisch“. Von Yolande bis Bérénice können seine lyrischen Werke, zu denen er auch Text und Musik komponierte, vielleicht als eine Reihe von Versuchen angesehen werden: Um sich davon zu befreien!
Auf dem Weg zu einer Synthese zwischen Wagner und dem französischen Klassizismus…
Der Einakter Yolande mit seiner kontinuierlichen Form, seinem halben Dutzend Leitmotiven und seinem von Chromatik gesättigten schweren kontrapunktischen Satz stellt sich einwandfrei in das Zeichen eines militanten Wagnerismus. Magnard zeigt sich als Schüler von d’Indy durch die Bedeutung, die er der Klang-Architektur und Symbolik beimisst, die wir auch in seinen folgenden Werken finden. Das Thema, mittelalterlich und sehr erbaulich: Die junge Yolande stirbt in den Armen ihres Mannes, der vom Kreuzzug zurückkehrt, bevor sie ihm erscheint umgeben von Engeln, um ihn zur Resignation und Reue zu ermahnen! Es ist seine Faszination für Parsifal zu spüren und eine Fin-de-siècle-Symbolik, die gleichzeitig in Le Rêve (1891) von Alfred Bruneau (1857-1934) nach Émile Zola (1840-1902) und auch in La Damoiselle élue (1893) von Debussy. Äußerst verweltlicht wird diese Mystik in Guercœur mit großer Stärke wiederkehren. Nach Yolande , einem „leider Wagnerschen Werk“, distanziert sich Magnard, indem er seine nächsten beiden Dramen „Tragödie in Musik“ nennt. Gleichzeitig ordnet er sie in die Abstammungs-Linie einer Gattung ein, die unter König Louis XIV. (1638-1715) geboren wurde. Er präsentiert sich als Nachfolger von Jean-Baptiste Lully (1632-1687) und Jean-Philippe Rameau (1683-1764) ohne auf die bewährten Prinzipien des Wagner-Dramas zu verzichten, besticht Guercœur durch seine Konzeption, seinen Ton und Stil von absoluter Originalität. Das pessimistische Werk beschreibt die Vernichtung der irdischen Arbeit eines Menschen und endet mit einem Parsifal-ähnlichen Schimmer von Hoffnung und Erlösung. Wodurch in Fervaal, dessen ursprünglicher Titel: La fin de Cravann und Le Rois Arthus, wo der Niedergang der Ritterlichkeit der Tafelrunde angekündigt wird. Die drei Figuren prophetisch: La Vérité in Guercœur, Kaito in Fervaal, Merlin in Le Roi Arthus erinnern unweigerlich an die Figur der Erda aus Der Ring des Nibelungen und der angekündigten Götterdämmerung oder besser dem unausweichlichen Weltuntergang.
Immer noch davon überzeugt, dass er mit Guercœur „zum Wagnerismus zurückgefallen sei“, traf Magnard 1905 eine radikale Entscheidung, indem er beschloss Bérénice (1670) zu feiern, eine Figur, die untrennbar mit der Tragödie von Jean Racine (1639-1699) der Quintessenz des klassischen französischen Theaters verbunden ist. Schon die „platonischen Gottheiten“ in Guercœur erinnerten an die Götter und Allegorien der Prologe der „Tragödien in Musik“ des Ancien Régime. Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts haben sich französische Musiker immer mehr auf die Quellen ihres lyrischen Theaters konzentriert. In den 1870er Jahren brachten Fanny Pelletan (1830-1876) und Saint-Saëns die Opern von Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714-1787) neu heraus, der Verleger Théodore Michaëlis (1835-1910) ließ Lully, André Campra (1660-1744), André Cardinal Destouches (1672-1749), Rameau in seiner Sammlung „Meisterwerke der französischen Oper“ wieder auferstehen, an der auch Franck und d’Indy mit arbeiteten. Auf Wunsch von Magnard nahm der Editeur Jacques Durand (1865-1928) die Herausgabe der Gesamtwerke von Rameau in Zusammenarbeit mit Saint-Saëns, d’Indy, Dukas, Debussy, usw. in Angriff. Magnard, ein ausgezeichneter Kenner dieses Repertoires, der bereits Oreste zitierte aus Iphigénie en Tauride (1779) von Gluck, wird nun in Guercœur der Bérénice sagen lassen: „Comme il tarde“ und auch den wichtigen Satz von Renaud: „Armide, vous m’allez quitter!“ aus Armide (1686) von Lully.
Dieser Rückgriff auf das klassische französische Theater hindert ihn nicht daran, im Vorwort zu Bérénice (1911) zu erklären, dass er seinem Freund Ropartz gewidmet hatte: „Meine Partitur ist im Wagner-Stil geschrieben. Da mir das nötige Genie fehlte, um eine neue lyrische Form zu schaffen, wählte ich aus den vorhandenen Stilen denjenigen aus, der am besten zu meinem sehr klassischen Geschmack und meiner sehr traditionellen Musik-Kultur passte“. Ist es nur eine Vorliebe für Paradoxe oder Provokationen? Gewiss, wie Dukas in Ariadne et Barbe-Bleue, dessen drei Akte mit einer Symphonie in drei Sätzen verglichen werden könnten, nimmt Magnard in Bérénice Anleihen von symphonischen Formen und verzichtet auf eine absolute Unterordnung der Musik unter das Drama. Sicherlich sind Stil und Sprache zweifellos Magnard! Allerdings leugnet er nicht die Wagnersche Dramaturgie und bekräftigt gegenüber seinen damaligen Gegnern, dass der Meister von Bayreuth diese klassische Tradition fortführt, von der er selbst begeistert ist, so wie er es bereits 1894 mit Lully, Rameau und Gluck erkannt hatte: Die Vorläufer von Wagner! Die Organisation der drei Akte von Bérénice rund um drei Liebesduette zwischen der Heldin und Titus erinnert sowohl an das klassische französische Theater als auch an Tristan und Isolde und erinnert gleichzeitig auch an Didon et Énée aus Les Troyens (1863) von Hector Berlioz (1803-1869), das Magnard als „das Meisterwerk der französischen lyrischen Kunst unseres Jahrhunderts“ betrachtete.
Diese Entwicklung von Magnard ist Teil einer allgemeinen Bewegung. Der Beginn des Jahrhunderts war geprägt von einer Rückkehr zu den literarischen Quellen des französischen Klassizismus. Seit langem schon von Saint-Saëns favorisiert wie z. B. Samson et Dalila (1877) und Phryné (1893), kehren biblische, antike oder mythologische Themen mit treibender Kraft zurück, mit Fauré: Prométhée (1900) und Pénelope (1913), Camille Erlanger (1863-1919): Aphrodite (1906), Massenet: Ariane (1906) und Bacchus (1909), Bréville: Éros vainqueur (1910) und zwei Schüler von d’Indy wie z. B. Antoine Mariotte (1875-1944): Salomé (1908) und Déodat de Séverac (1872-1921): Héliogabale (1910). Durch diese Assimilation entzieht sich Wagners Einfluss mehr und mehr, selbst unter seinen leidenschaftlichsten Verteidigern, die zunehmend nach Prägnanz und Klarheit streben, nach sogenannten „französischen“ Qualitäten, die angesichts der als zu überfüllt empfundenen zeitgenössischen deutschen Kunst behauptet wurden. Diese Tendenz, die sowohl L’Étranger (1903) von d’Indy als auch in Bérénice deutlich wird, erreicht ihren Höhepunkt in Le Pays von Ropartz: Einem häuslichen Drama mit drei Charakteren!
Aufmunternde Dramen…
In seinem Artikel „La Synthèse des arts“, schrieb Magnard im Jahr 1894 folgendes: „In Fortführung der deutschen Tradition bewahrte Wagner den legendären Charakter des lyrischen Dramas und betonte seine symbolische und philosophische Bedeutung. Aus Humanismus oder religiösen Überzeugungen folgen die Anhänger von Franck und ihre Freunde in diesem Punkt noch immer seinem Beispiel. Wie L’Étranger von d’Indy und Ariane von Dukas, Inkarnation der Nächstenliebe und der Freiheit ist Guercœur ein Idealist, der menschlicher Dummheit und Bosheit ausgesetzt ist: Eifersüchtig auf L’Étranger lehnen die Armen seine Hilfe ab. Die Frauen des Barbe-Bleue verzichten auf die Befreiung, die Ariane ihnen anbietet und während die Menschen von Guercœur die Diktatur der Demokratie vorziehen. Genau wie in Bérénice, wo die Liebe und die Staatsräson einander gegenüberstehen und in Le Pays, ein Beispiel für die unbändige Verbundenheit mit dem Heimatland, sollen diese Dramen das Publikum nicht ablenken, sondern bewegen und zum Nachdenken anregen. Natürlich besteht das große Risiko eines Mangels an Theatralik: Sehr kritisiert von Kritikern sowohl über Guercœur als auch Ariane!“ Der Kompositeur d’Indy bestätigte die Geistes-Gemeinschaft der Mitglieder dieser Schule, unabhängig von ihren politischen oder religiösen Optionen, als er 1930 erklärte: „Dass die französischen Komponisten, die von Wagner beeinflusst waren, sich darum bemühten eine eigene dramatische Thematik zu finden, die ihrer pädagogischen Mission würdig wären. Worauf jeder edle Künstler seine Kräfte konzentrieren muss!“
Unter diesen ist Magnard sicherlich der radikalste, der das Prestige der Bühne ebenso vernachlässigt wie das der Orchestrierung, die d’Indy und Dukas in der Tradition von Berlioz und Wagner einzusetzen wissen. Getreu der Nüchternheit des Gluck-Orchesters verachtet er die Suche nach Klang-Effekten und begünstigt die Ausdruckskraft der Streicher. Diese Verachtung für Orchester-Verführungen und harmonische Verfeinerungen macht ihn in seiner Unnachgiebigkeit zu einem einzigartigen Künstler.
Schüchterne Erfolge…
Die Vertreter der Franck-Schule machen im Gegensatz zu Komponisten wie Massenet, Bruneau, Erlanger, Xavier Leroux (1863-1919) oder Raoul Laparra (1876-1943) keine grosse Karriere auf der Bühne. Die Rezeption vieler dieser Werke zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeugt von der Begeisterung des Publikums für die naturalistische Ästhetik, die das lyrische Post-Wagner-Drama in eine Form der „Moderne“ führt. Symbolisiert durch den Triumph von Louise (1900) von Gustave Charpentier (1860-1956) und seinen fast tausend Vorstellungen in l’Opéra Comique Paris zwischen 1900 und 1950, beeinflusste die Mode des Naturalismus sogar d’Indy mit L’Étranger und Ropartz mit Le Pays: Während Magnard völlig hermetisch bleibt!
Chausson, Debussy, Dukas, Bréville, Savard, Ropartz, jeder hinterließ nur ein lyrisches Drama – was Henri Duparc (1848-1933) betrifft, so beendete er seine Roussalka nie. Während der gesamten Entwicklung tauschten sie oft langsam und mühsam Ratschläge und Kritik aus, im Verlauf von einem unzähligen nie endenden Brief-Fluss oder beim Klavier-Vorspielen, bei denen oft der Anwalt Paul Poujaud (1856-1936) teilnahm: Derselbe, der Magnard das Thema der Bérénice zuflüstert! Die Freiheit der Konzeption dieser Werke, die selten auf Bestellung geschrieben wurden, hat oft den Nachteil, dass es lange dauert bis sie veröffentlicht oder gespielt wurden. Wenn das Charpentier und Debussy nicht schadete, die ihr Drama etwa zehn Jahre nach der Komposition auf die Bühne kommen sahen, kann man nicht das Gleiche von La Montagne noire (1895) von Holmès sagen, die zehn Jahre nach Abschluss der Partition uraufgeführt wurde. Noch besonders mehr für Guercœur, die in dieser Angelegenheit wohl einen Welt-Rekord hält: Dreißig Jahre zwischen der Komposition und der Bühnenschöpfung!
Wenn die Pariser Theater-Intendanten bei der Aufnahme in das Repertoire von Guercœur und Bérénice zurückhaltend waren, dann deshalb weil sie aus Erfahrung wussten, dass diese Opern keinen Erfolg und somit keine vollen Kassen garantierten. In Brüssel wurde Yolande nur zweimal gegeben! An l’Opéra Comique Paris hält sich Bérénice nur für neun Vorstellungen und Le Pays hatte nur acht Repräsentationen! An l’Opéra National de Paris hatte Le Forêt (1910) von Savard nur Anspruch auf sieben Vorstellungen, zum grossen Bedauern von Magnard, der versuchte seinem Freund mit Hilfe der Presse unterstützen zu bringen und Guercœur hatte insgesamt nur zwölf Aufführungen. Vergleichbar mit denen vieler anderer vergessener Schöpfungen sind diese Zahlen nicht weniger enttäuschend! Auch wenn sie manchmal von Erfolgen in einer sogenannten Wertschätzung profitieren, schaffen es diese Dramen aber bis auf wenige Ausnahmen nicht im Repertoire zu bleiben. Uraufgeführt in Brüssel, übernommen an l’Opéra Comique Paris und dann an l’Opéra National de Paris, genießt Fervaal eine besondere Aura, wird aber nicht die große Karriere jenseits des Rheins machen: Von der sein Autor geträumt hatte! Was Le Roi Arthus betrifft, der in Brüssel uraufgeführt wurde: Er musste bis… 2015 warten, um seine sensationelle Premiere an l’Opéra National de Paris zu erhalten. Glücklicherweise wird L’Étranger dort fast vierzig Mal gespielt und der Erfolg wird in mehreren Provinz-Städten wiederholt. Wir können auch Sylvio Lazzari (1857-1944) erwähnen, einen weiteren Schüler von Franck, der mit La Lépreuse (1910) hervorsticht, umgeben mit einem anrüchigen Parfüm von Skandalen! Der deutlichste Erfolg geht jedoch an Ariane et Barbe-Bleue von Dukas, die Magnard als „eine Partitur […] sehr edel, hochintellektuell und von
einer Kraft, die sich völlig durchsetzt“ beschreibt. Sie ist jedoch bei weitem nicht mit denen von Massenet, dem von Louise und dem – am nachhaltigsten vergleichbar – von Pelléas et Mélisande – zwei Werke, die zwar Wagner verpflichtet sind, aber sehr unterschiedliche ästhetische Tendenzen aufweisen.
Zu der Konkurrenz französischer Komponisten kommt für die Anhänger von Franck die der jungen italienischen Schule hinzu: Pietro Mascagni (1863-1945), Ruggero Leoncavallo (1857-1919), Giacomo Puccini (1858-1924) und natürlich Giuseppe Verdi (1813-1901) und auf jeden Fall Wagner selbst. Ab 1891, dem Jahr in dem das Palais Garnier (L’Opéra National de Paris) zum ersten Mal die vollständige Aufführung eines seiner Werke begrüßte: Lohengrin, nahmen sie einen immer überwältigenderen Platz auf der ersten nationalen Szene ein, ohne dass dies seinen französischen Bewunderern im geringsten zugutekam. Der relative Mangel an Erfolg bewegte Magnard überhaupt nicht, der 1910 erklärte und nebenbei einen Seitenhieb auf italienische Komponisten warf: „Und der Beweis dafür, dass unser Musiker-Team das Beste ist, da sie kein Geld verdienen und zwar gerade deshalb, weil ihre Kunst weit über dem Niveau des Publikums liegt. Überlassen wir den Italienern ihre großen Geld-Einnahmen, ihre groben Einnahmen. Die französische Musik ist derzeit die einzige, die der Kunst wirklich würdig ist! Kurz gesagt der Kunst! Einer dauerhaften , fruchtbaren, universellen Kunst!“
Die gegenwärtige Wiederauferstehung dieser vergessenen Dramen ermöglicht es uns, ihm nicht die ganze Schuld zuzuschieben…
GUERCŒUR - Premiere an der l’Opéra National du Rhin, Strasbourg - 28. April 2024
Eine tot geglaubte Seele wieder zum Leben erwecken…
Mit einem idealen Guercœur interpretiert von dem französischen Bariton Stéphane Degout und einem prächtigen Orchestre Philharmonique de Strasbourg unter der Leitung des deutschen Dirigenten Ingo Metzmacher erweckt l’Opéra National du Rhin dieses wenig bekannte Werk von Albéric Magnard in einer Inszenierung von dem deutschen Regisseur Christoph Loy wieder zum Leben.
Alles in dieser Oper ist vom Heldentum geprägt. Sicherlich handelt es sich um eine Geschichte, in der ein avantgardistischer Held für Liebe, Freiheit und Gleichheit in einer verknöcherten und verlebten Welt zurückkehrt: Aber auch um das Werk selbst, das uns besonders gequält erscheint! Nach der Fertigstellung seiner Oper musste Magnard darum kämpfen, ein Theater zu finden, das bereit war sein Werk aufzuführen. Aber es war ohne jeden Erfolg! Dann brannte die halbe Partitur 1914 in Magnards Haus bei einem Angriff von deutschen Soldaten mit ihm zusammen nieder. Es war sein Freund, der Komponist Guy Ropartz, der die Orchestrierung des ersten und dritten Akt aus dem Gedächtnis neu schrieb, basierend auf einer Reduktion für Gesang und Klavier. Seit seiner späten Uraufführung an l’Opéra National de Paris im Jahr 1931 wurde Guercœur nicht mehr in Frankreich aufgeführt. Nur ein einziges Mal in dieser langen Zeit hatte das Saarländische Staatstheater GmbH den Mut für eine Wiederbelebung! Es bedurfte die Energie des derzeitigen schweizerischen Direktor Alain Perroux der Opéra national du Rhin und seiner Fähigkeit, die Leidenschaften des Dirigenten Ingo Metzmacher und des Regisseurs Christoph Loy zu vereinen, um dieses Werk endlich aus seinem Schattendasein zu befreien.
In dem von Magnard selbst verfassten Libretto geht es um einen Helden, der starb und auf der Erde eine Republik zurückließ, die er zum Glück des Volkes gegründet hatte und um eine Witwe, die ihm Treue über den Tod hinaus schwur. In einer Art säkularem Paradies, das von Allegorien wie Bonté (Güte), Beauté (Schönheit) und Souffrance (Leiden) bevölkert ist und in dem La Vérité (Wahrheit) herrscht, bereut er sein erfolgloses Leben und überzeugt diese Göttinnen, ihn auf die Erde zurückkehren zu lassen. Geleitet von der Souffrance beobachtet er Verrat in Liebe, Freundschaft und Politik und stirbt ein zweites Mal. In ihrer Apotheose offenbart ihm die Vérité die glänzende Zukunft der Menschheit. Es ist ein Prosatext, dem es weder an Schönheit noch an Tiefe mangelt und der die positive Einstellung bezeugt, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts herrschte, mit dem Glauben an Wissenschaft und Toleranz, um die Menschheit zum Glück zu führen. Bestimmte Sätze bringen uns leider zum Schmunzeln wie z. B. „die Natur ist sanft unterwürfig…“, „die Wissenschaft wird den Schmerz abschaffen…“, andere lassen uns mit ihrer verzweifelten Aktualität erstarren „wie lange wird meine Herrschaft noch dauern…“. In einer Zeit, in der unser Planet auseinanderfällt und viele Diktatoren mächtige Werkzeuge benutzen, um die verdummten unwissenden Massen zu täuschen, sprechen uns diese Worte immer noch an: Die vor mehr als einem Jahrhundert geschrieben wurden!
Die Schönheit der Partitur ist so groß, dass man sich fragt, wie wir seit der berühmten Gesamtaufnahmen des französischen Dirigenten Michel Plasson (*1933) in Toulouse im Jahr 1986 so lange versäumen konnten, ein solches Wunder auf der Opernbühne oder auch nur im Konzert aufzuführen vom ersten bis zum letzten Takt. Trotz eines dichten Orchester-Gerüst erkennt sogar der normale Hörer die Leitmotive mit Themen von Wagner sehr leicht, obwohl die Klänge leider oft sehr bodenständig schwer sind. Ganz im Gegenteil in Werken von Wagner herrscht keine Schwere! Auch im Guercœur sind viele Teile sehr transparent, selbst in den dramatischsten Szenen wie dem Bürgerkrieg, in dem Guercœur ein zweites Mal stirbt. Die Arbeit an den Farben ist auch bemerkenswert: Die Frühlingsdämmerung, die den zweiten Akt eröffnet, bringt die Farben wie ein geöffneter Fächer wieder.
Die Richtung von Loy ist so, wie es der Dienst an einem Werk sein sollte! Große bewegliche monochrome Tafeln von dem deutschen Bühnenbildner Johannes Leiacker, die Kostüme aus der Mitte des 20. Jahrhunderts von der deutschen Kostümbildnerin Ursula Renzenbrink, ein paar Stühle und das war’s. Aber eine jedoch großartige Beleuchtung des deutschen Lichtbildners Olaf Winter und vor allem eine fließende Regie der Sänger begleiten die Entfaltung der Handlung und unterstützen die Kraft des Textes und der Musik, ohne den Zuschauer mit Extravaganzen oder unnötigen Interpretation unterhalten zu wollen. Auf diese Weise wurde Magnards Oper aller Künstlichkeit beraubt und sowohl vereinfacht als auch vergrößert in ihrer ursprünglichen Pracht und Kraft wiederhergestellt.
Auch was die Interpreten betrifft, so trägt alles dazu bei, der Großartigkeit des Werks gerecht zu werden, angefangen bei l‘Orchestre Philharmonique de Strasbourg, das in großartiger Form ist und sehr besorgt über den Versuch eine solche Partitur wirklich wieder gerecht zu beleben. Dem Dirigenten Metzmacher, einem großen Bewunderer dieses Werkes, gelingt es mit den wunderschönen Farben des OPS zu spielen, das Licht aufwallen oder hervorbrechen zu lassen, aber auch die großen Zusammenstöße im 2. Akt, wenn die Massen zusammenstoßen und sehr deutlich die Bewältigung und die Ermordung des Helden übermitteln. Beachten wir auch die hervorragende Leistung des Chors l’Opéra National du Rhin unter Leitung des deutschen Chordirektors Hendrik Haas.
Wie schon gesagt in Guercœur findet Degout eine Rolle, die wunderbar zu ihm passt, mit einer maßvollen heroischen Dimension und der Verwendung der hohen Stimmlage, die eine seiner vielen Fähigkeiten ist. Seine Projektion und sein Vortrag sind perfekt. Seine kraftvolle und stilvolle Inkarnation, bescheiden und edel, sowohl prophetisch als auch brüderlich: Ist zutiefst bewegend! Degout ist Guercœur, noch mehr als José Van Dam (*1940) und wie auch immer sich die Rezeption dieser Oper entwickelt wird, es ist sofort klar, dass er seine dauerhaften Spuren hinterlassen wird. Der Rest der Besetzung lässt sich jedoch von der Anwesenheit eines solchen Giganten nicht erdrücken. Die französische Sopranistin Catherine Hunold in der Rolle der Vérité hat schon von dem selben Komponisten bereits die Bérénice gesungen, sie verkörpert eine wunderschöne Göttin. Ihre hohen Töne sind im 1. Akt nicht immer perfekt farblich abgestimmt, aber im 3. Akt funktioniert alles und ihre prophetische Vision wird mit einer bemerkenswerten Gesangslinie und Poesie vorgetragen. Die französische Sopranistin Gabrielle Philiponet ist auch vom Äußeren bezaubern als Beauté und die französische Mezzo-Sopranistin Eugénie Joneau als Bonté lässt einen bedauern, dass ihre Rolle nicht länger dauerte. Die aus Gabon stammende Mezzo-Sopranistin Adriana Bignagni Lesca verleiht der Rolle der Souffrance dunkle und bedrohliche Farben, bleibt aber auch immer in einem tadellosen Stil. Auf der Erde finden wir die französische Mezzo-Sopranistin Antoinette Dennefeld als eine großartige Giselle, einer zerrissenen, aber klaren und aufrichtigen Liebhaberin. Heurtal, ein der Eitelkeit verfallender Antihelden wird tapfer von dem französischen Tenor Julien Henric gehalten, der mit der nötigen Brillanz und Leidenschaft singt, ohne jemals der Vulgarität nachzugeben.
In den allerkleinsten Rollen wurden auch äußerst talentierte Interpreten eingesetzt: Die französische Mezzo-Sopranistin Marie Lenormand in der Rolle L’Ombre d’une femme, desgleichen die junge britische Sopranistin Alysia Hanshaw als L’Ombre d’une vierge. Der sehr junge talentierte schottische Tenor Glen Cunningham interpretierte die Rolle L’Ombre d’un poète.
Um aber wirklich ehrlich zu sein, hat uns vieles an diesem sogenannten vergessenen Werk doch nicht gefallen: Der Text ist doch in weiten Strecken äußerst Pompös, zu stark parfümiert und zu blumig in der Sprache. Dazu diese ungemein unterschwelligen prophetischen Moral-Vorschriften die fast wie die Worte einer obskuren Sekte erklingen. Deshalb würden wir diesen wieder ausgegrabenen Guercœur nicht unbedingt als Meisterwerk hinstellen. In einem richtigen Deutsch würden wir sagen: Das ist nicht Fisch noch Fleisch! Eben ein Komponist der sein ganzen Leben kämpfte, sich von Wagner zu befreien: Aber ohne Erfolg! Denn seine Oper ist für uns nicht mehr als eine schlechte klischeevolle Wagner-Oper, natürlich wie schon gesagt mit vielen schönen musikalischen Szenen: Aber nicht genug um ein wirklich einmaliges Werk zu sein. Aber…
… mit einer so erfolgreichen Aufführung und einer Interpretation auf so hohem Niveau wird dieser Oper, die vom Publikum triumphal aufgenommen wurde, endlich die nötige Gerechtigkeit gewährt (sic!). Wir können nur hoffen, dass Guercœur in das große Repertoire der Opernhäuser der Welt aufgenommen wird und auch seinen regelmäßigen Platz unter den großen französischen Werken seiner Zeit findet. Zwischen Pélleas und Mélisande und Ariane et Barbe-Bleue!
Für diejenigen, die nicht nach Strasbourg reisen können, ist es hilfreich zu wissen, dass France Musique den Abend am 25. Mai übertragen wird und dass die Aufzeichnung am selben Datum auf ARTE Concert verfügbar sein wird. (PMP/04.05.2024)