Stralsund, Theater Vorpommern, María de Buenos Aires - Tango-Operita, IOCO Kritik, 30.07.2023

Stralsund, Theater Vorpommern, María de Buenos Aires - Tango-Operita, IOCO Kritik, 30.07.2023
Theater Vorpommern Stralsund © Foto Peter van Heesen
Theater Vorpommern Stralsund © Foto Peter van Heesen

Theater Vorpommern

MARÍA DE BUENOS AIRES - Tango Operita von Astor Piazolla

- Bewegte, bewegende Bilder, leidenschaftlicher Tanz und die Mystik des Tangos -

von Ekkehard Ochs

Es ist eher ungewöhnlich, dass man nach dem Besuch einer Opern-Einführung mit dem Hinweis verabschiedet wird, man möge bei der folgenden Aufführung gar nicht erst versuchen, das Bühnengeschehen „verstehen“ zu wollen. War man da etwa am falschen Ort? Oder traute man gar dem durchaus versierten Opernbesucher nicht zu, auch  Anspruchsvolles aufmerksam aufzunehmen und entschlüsseln zu können? Beides falsch! Denn Katja Pfeifer, überaus geschätzte Musikdramaturgin am Theater Vorpommern, wusste natürlich genau, warum sie diese Empfehlung abgab. Denn der anstehende Musiktheaterabend galt mit Astor Piazollas Tango-Operita („Operchen“)  María de Buenos Aires einem durchaus ungewöhnlichen Werk und einer Inszenierung, die darauf ähnlich unorthodox herausfordernd, ja überfordernd zu wirken vermochte. Deshalb dann auch noch der zusätzliche Ratschlag, mit Auge und Ohr einfach nur aufzunehmen, alles ganz unmittelbar auf sich wirken zu lassen.

Trailer - María de Buenos Aires - Tango-Operita youtube Theater Vorpommern [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Nach der Aufführung verstand man tatsächlich besser, warum es diese Empfehlung gab. Und wer wollte, hatte dann ja ohnehin noch die Möglichkeit, im Nachhinein Geschehenes, Gesehenes und Gehörtes zu reflektieren. Das allerdings, wie sich schnell herausstellte, nicht ohne eine gewisse Ratlosigkeit, damit ziemlich ergebnisoffen, aber unbedingt von größtem Reiz. So paradox es auch klingen mag – es waren nicht die schlechtesten Voraussetzungen für einen grandiosen Musiktheater(tanz)abend. Denn dazu geriet jene Inszenierung (samt Choreographie) der Kubanerin Maura Morales, die als Kooperationsproduktion der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern und des Theater Vorpommern am 22. 6. 2023 (Premiere) und am 28. 6. in Stralsund mit jeweils großer Begeisterung gefeiert wurde. Spannende Frage: Was wurde da eigentlich mit so heftigem Beifall belohnt? Einen bemerkenswerten Verständnisgewinn – siehe oben - eher nicht. Geschuldet ist das einer merkwürdig mystischen, durchaus verwirrenden und kaum in eigene Erfahrungswelten einzuordnenden Handlung. Und einem ungemein lyrischen, geradezu musikalisch wirkenden, im Zeitablauf aber schwerlich erfassbaren Libretto von Horacio Ferrer (Uruguay, 1933-2014), das zudem in den Sprechtexten deutsch, in allen Gesangstexten aber spanisch vorgetragen wurde. Sinnzusammenhänge erschlossen sich also schon deshalb nicht. Belassen wir es also hier bei zusammenfassenden Kurzzitaten, wie sie oben genannte Musikdramaturgin im Material des Theater Vorpommern veröffentlicht hatte:

  • „Die Protagonistin Maria ist der Dreh- und Angelpunkt der Operita. Eine Frau,
  • die die Kraft und die Poesie der Schöpfung symbolisiert und umgeben ist von
  • vielen halb mystischen, halb konkreten Figuren, die sich in ihr spiegeln, an ihr
  • messen oder ihr verfallen. Marias Weg führt sie vordergründig  aus der Vorstadt
  • von Buenos Aires ins Zentrum, wo sie stirbt, jedoch als Schatten wieder erscheint.
  • Im wahrsten Sinne des Wortes nur noch ein Schatten ihrer selbst, ist es aber ihre
  • ureigene schöpferische Kraft, die dennoch ausreicht, zur Urmutter der neuen
  • Erlöserhoffnung zu werden.“
Theater Vorpommern / María de Buenos Aires hier Luiza Braz Batista als Maria und Ensemble © Peter van Heesen
Theater Vorpommern / María de Buenos Aires hier Luiza Braz Batista als Maria und Ensemble © Peter van Heesen

Und dann noch dieses:

  • „Die Stadt und ihre Stadtheilige zeichnen sich durch ein Lebensgefühl aus,
  • das Unvorhersehbares, Zauberhaftes, ja sogar Wunder in den Alltag mit ein-
  • bezieht. Die Grenzen zwischen Realität und Vorstellung, Religion und
  • Ratio, ja Leben und Tod, sind hier fließend...Hier stehen äußerste, ja brutale
  • Bodenständigkeit und schwebende Metaphysik einander gegenüber. Aus
  • den vorstädtischen Slums und dem Bedürfnis nach mehr als nur dem Über-
  • leben wird Maria geboren – unabhängig, stark, verletztlich – eine symbo-
  • lische und zugleich äußerst menschliche Figur, der es gelingt, ins Zentrum
  • der Stadt vorzudringen und dabei selbst zum Zentrum der Betrachtung zu
  • werden, einer Betrachtung, die Bewunderung, Liebe, aber auch Gewalt
  • spiegelt.Es ist das Bandoneon, das Maria den Todesstoß versetzt, doch im
  • Sterben gelingt es ihr, als ihr eigener Schatten zurückzukehren. Das Bandoneon,
  • als Vertreter des Tango Argentino, wird zum Gegenspieler nicht nur von
  • Maria...“

Und schließlich:

  • So sind es beide: „Horacios Ferrers lyrische Worte wie Astor Piazollas
  • kraftvolle Musik, die Maria aus ihrem Schattendasein erheben werden; mehr
  • noch, sie wird zum Inbegriff der Schaffenskraft, indem sie mehrfach wieder-
  • gebiert, was verloren schien: María de Buenos Aires“

So viel zum Grundverständnis der Stralsunder Inszenierung, für die man dort den Begriff des „magischen Realismus“ geprägt hat. Das Stück offenbarte sich dem Inszenierungsteam als „Kosmos von inhaltlichen, musikalischen und lyrischen Deutungsmöglichkeiten“, zudem als „Gesamtkunstwerk“ im „Zusammenspiel von Tanz, Musik, Wort und Bühne“. María selbst gilt als „Inbegriff von Kreativität.“

Die angeführten Zitate sind sicher ein roter Faden, den zu verfolgen – siehe oben – aber aufgrund sprachlicher Hürden ein unsicheres, zumindest aber ergebnisoffenes Unterfangen bleibt. Der Besucher wird allerdings durch eine bild- und bewegungsmächtige Inszenierung reichlich entschädigt. Es lohnt tatsächlich, das alles zunächst unreflektiert auf sich wirken zu lassen: die mehrere Erzählebenen umfassenden Sprechchöre (Theaterchor), die gesprochenen Texte des El Duende (des Geistes), die Arien des mehrere Personengruppen verkörpernden  Payador, natürlich Gesang und Tanz der Maria; von Piazollas stilistisch vielfach angereicherter, aber den Tango bevorzugenden Musik ganz zu schweigen. Das Gesamtergebnis war unmittelbar und in der Gänze außerordentlich beeindruckend. Fast verdutzt stellte man fest, wenig verstanden, aber auch nichts vermisst und viel erlebt zu haben.

Theater Vorpommern / María de Buenos Aires hier Luiza Braz Batista und Ensemble © Peter van Heesen
Theater Vorpommern / María de Buenos Aires hier Luiza Braz Batista und Ensemble © Peter van Heesen

Zu verdanken einer Aufführung (28. Juni 2023), die von bezwingender Stringenz lebte und die die musikalisch stilistischen wie gedanklichen und mentalen Besonderheiten ihrer südamerikanischen Autoren mit beeindruckender Sachkompetenz einzubeziehen vermochte. Wenn man so will: atemlos machende 90 Minuten! Zu verdanken einer Ballett-Choreographie von durchgehend fesselnder Bewegungs- und Bildsprache, ungemein variabel, eher „ohne Regeln“ zu verstehen, kraftvoll, herausfordernd, „Ecken und Kanten“ zeigend und – wie zu verstehen gegeben – die Grenzen der Bewegungsästhetik weiten wollend. Dies alles auf weitgehend dunkler Bühne (Heiko Mönnich, auch Kostüme) und unter einem Riesenspiegel, der die ohnehin oft genug irreal scheinende Bühnenwirklichkeit von Welt und Unterwelt (real) sowie einer permanent durchscheinenden transzendenten Welt verdoppelte und damit sinnlich, geradezu psychoanalytisch überhöhte. Inmitten des wieder grandios agierenden Balletts des Theater Vorpommern prägte (die non-binäre) Luiza Braz Batista als Maria den Abend: als fabelhafte Tänzerin wie als Sängerin mit tiefer, rauher, eher „unsängerischer“, aber gerade deshalb besonders passender Stimme. Berührend - und bewundernswert – ihre tänzerischen Aktionen, die Ausdruckskraft und nicht zuletzt die mit unglaublicher Souveränität vermittelte Darstellungs-Drastik der im Stück identitätsstiftend intendierten Problemkreise von Leben, Tod, symbolhafter Wiedergeburt und sehr realistischer Geburt – bis hin zu Verknüpfungen mit neutestamentarischem Geschehen (Jesus-Geburt). Was hier dem Inszenierungsteam an musiktheatralischer Eindringlichkeit und künstlerischer Überzeugungskraft gelang, darf als Glücksfall bezeichnet werden. Umso mehr, als Bariton Alexandru Constantinescu (Der Payador), neben Maria als nur zweiter tatsächlich singender Akteur, dieser Operita stimmlichen Glanz, vor allem aber den charakteristischen sound Piazollas verlieh. Beeindruckend auch Thomas Rettensteiner (Der Geist), dem mit so glasklar wie stahlhart klingender Stimme eine geradezu unheimlich atmosphärische Präsentation von Ferrers nicht minder unheimlichen Texten gelang; ein Qualitätsstatus, an dem es auch der nur sprechende Chor (Csaba Grünfelder) hinsichtlich skandierender Prägnanz nicht fehlen ließ.

Und dann ist da ja noch viel Musik, Piazollas so eigengeprägte Musik. Hier erweist sie sich als in besonderem Maße mit dem Bühnengeschehen, vor allem dem tänzerischen, engstens verbunden. Und dies ungeachtet bemerkenswerter Dauer-Präsenz so stark ins Geschehen eingebunden, dass sie als geradezu auffällig unauffällig erscheint. Der Tango ist ihre unabdingbare Grundsubstanz. Er erscheint allerdings in variabler, nicht immer genrehaft „reiner“, sondern diverse Stileinflüsse berücksichtigender Gestalt: mal sinfonisch oder in schmachtendem Salonstil, in orchestralem Vollklang oder -unterschiedlich besetzt - kammermusikalisch bis solistisch. Und unüberhörbar das Akkordeon und seine spezifische Klangwelt. Hier setzten die Festspiele MV (MV - Mecklenburg Vorpommern) mit dem gegenwärtigen artist in residence, dem Litauer Martynas Levickis, einen besonderen, nur bei diesen zwei ersten Aufführungen zu erlebenden Akzent. Levickis hat seit seinen frühen Jahren den großen Astor Piazolla als Vorbild geschätzt, wohl wissend,  dass der Argentinier das Bandoneon bei weitem vorzog. „Ich bin jedoch überzeugt, dass er mein Instrument unterschätzt hat. Das moderne Akkordeon“ - Levickis nennt sein Instrument schon mal „magische Trickkiste“ - „passt sehr gut zu Piazollas Klangwelt.“ Dem hätten die Besucher beider Veranstaltungen wohl kaum widersprochen. Wie denn überhaupt auch der gesamte musikalische Anteil der Inszenierung alles Lob verdiente. Allen voran Alexander Mayer, 1. Kapellmeister und stellvertretender GMD am Theater Vorpommern, der hier seine schon oft sehr beeindruckend unter Beweis gestellten gestalterischen Fähigkeiten erneut so vital wie mitreißend, immer aber auf Empfindungs- wie Klangsensibilität achtend, Klang werden ließ. Und das mit trefflich musizierenden Vorpommerschen Philharmonikern: zwei Flöten, durchaus klangkräftig besetzten Streichern, Gitarre, Klavier und Akkordeon.

In summa: ein Abend von ungemein fesselnder Kraft – und emotionaler Nachhaltigkeit.

Eine weitere gute Nachricht: Das Stück – die OSTSEE-ZEITUNG nannte es in ihrer Rezension vom 24. Juni (Michael Meyer) ein „surreales Gedicht in 16 Bildern“ - wird man in der kommenden Spielzeit zwischen dem 27. Oktober und dem 13. Januar 2024 in weiteren sechs Aufführungen erleben können.