Stralsund, Theater Vorpommern, LA TRAVIATA - Giuseppe Verdi, IOCO Kritik, 15.02.2023
LA TRAVIATA - Giuseppe Verdi
- Auffällige, bejubelte Stärken im Musikalischen - Inszenierung komplex -
von Ekkehard Ochs
„Es ist keine Kunst, eine Göttin zur Hexe, eine Jungfrau zur Hure zu machen; aber zur umgekehrten Operation, Würde zu geben dem Verschmähten, wünschenswert zu machen das Verworfene, dazu gehört entweder Kunst oder Charakter.“ Der Satz stammt – wen wundert´s – von Goethe, der geradezu geahnt zu haben schien, dass sich dermaleinst ein gewisser Giuseppe Verdi eben dieser so viele künstlerische wie menschliche Qualitäten fordernden Aufgabe stellte. Fast verwunderlich, dass Goethe dabei auf Alternativen setzt, wo es doch sinnvoller erscheint, dass sowohl Kunst als auch Charakter zur Lösung einer solchen Aufgabe gehören dürften.
Es scheint eher unwahrscheinlich, dass Verdi den Goethe-Satz gekannt hat. Aber Absicht und Motivation, den aus dem wahren Leben gegriffenen Roman-Stoff Alexandre Dumas` d. J. (Die Kameliendame), (siehe Foto links, das Grab von Alphonsine Plessis in Paris, deren Leben Dumas beschreibt) für die Opernbühne nutzbar zu machen, passen dazu dennoch bestens. Mehr noch. Höchst erwünscht schien ihm offensichtlich die Gelegenheit, zeitgemäße, realistischere Bereiche musikalisch-szenischen Ausdrucks zu erproben. „Ich wünsche neue, grandiose, schöne, abwechslungsreiche, kühne Stoffe.“ Und weiter: „kühn bis zum äußersten, mit neuartigen Formen etc. etc.“ Das entsprechende, in Zeitgeist und stofflicher Realistik singulär gebliebene Produkt ist bekannt: La Traviata.
Am Theater Vorpommern steht das Werk seit seiner Premiere am 3. Dezember 2022 auf dem Programm; bislang noch relativ wenige Aufführungen seien Begründung dafür, dass an dieser Stelle auch mit einiger zeitlichen Verspätung auf die Inszenierung und eine heftig umjubelte Premiere in Stralsund reagiert wird. Wem die Zustimmung seinerzeit galt, ist so einfach nicht zu beantworten. Oder doch? Begründungen folgen etwas später! Verantwortet hat diese Inszenierung Sandra Leupold. Ihr Name scheint Programm, bürgt zumindest für Arbeiten mit Hand und Fuß. Preise und andere Auszeichnungen sprechen für innovative Bühnenlösungen, die gleichwohl Stoff für Diskussionen geboten haben dürften.
Für Stralsund in jedem Falle! Zunächst etwa im Hinblick auf – sehr erfreulich - in solchem Umfang sonst selten zu lesende Ausführungen seitens der Inszenierenden zum Werk, seiner Geschichte, seiner Ästhetik samt Wirkungen und den gestalterischen Absichten hinsichtlich gegenwärtiger Präsentation (Programmheft, Interview). Authentizität also im Hinblick auf das, was dann auf der Bühne sicht- und hörbar wird. Übrigens auch vergleichbar!
Ausgangspunkt für Leupold ist die Uraufführung des Werkes und dessen damit beginnende und hartnäckig sich haltende „Verfälschung“ (Leupold) des – hier nicht weiter zu erörternden - Verdischen Anliegens. Und dies samt den Folgen eines „unter Plunder, Plüsch und Rüschen“ begrabenen „menschlichen Musikdramas“, eines sich „gnadenlos“ und „unausweichlich“ abspielenden Untergangs (Violettas). Leupolds Fazit – bemerkenswert ausführlich, aber nicht immer unmißverständlich formuliert im Programm nachzulesen – lautet: „La Traviata ist ein besonders krasses Beispiel von vorsätzlicher Verdrehung der Autorenabsicht in ihr Gegenteil...“
Nun ist sie angetreten, die Dinge gerade zu rücken und vor allem „ihrer“ Violetta – für sie mit Abstand die Hauptperson – etwas vom ursprünglichen (?!) realistischen Profil einer „Bühnenfigur“ zurück zu geben. Der Bezug zu Verdi ist klar. Der sagt: „Das alles ist echt – und Violetta stirbt an der Bigotterie von Euch allen hier im Publikum“. Was bei Leupold etwa auch heißt, dass das Ganze für sie zwar ergreifend, aber nicht „schön“ ist, zur persönlichen, bewegenden Tragödie gerät, aber – in einem Gespräch war das zu erfahren - keine echte, große Liebesgeschichte ist! Auf die Frage nach einem konkreten, gar „neuen“ Regie-Ansatz antwortete Leupold, dass sie einen solchen nie dezidiert gesucht habe und „Neues“ sie nur insofern interessiere, als es das Ergebnis natürlich genauester Werkkenntnis, vor allem aber eigener “Phantasie“ ist. Im Übrigen gelte es, das „alte Stück neu zusammenzubauen aus Chiffren, die im Zuschauerraum als `zeitgenössisch` gelesen werden können.“ Nun gut. Viel Lesenswertes, Nachdenkens- und Diskussionswürdiges, aber auch manche verbleibende Unklarheit. Letztere etwa dort, wo dem Publikum die Aufgabe zugeteilt scheint, Violetta lediglich als die Violetta verkörpernde „Bühnenfigur“ (Sängerin?!) zu sehen; gäbe es denn da keine Alternative?
Nach solchen und weiteren Erörterungen scheint es logisch, auf die Gestaltung von „Innenräumen“ zu setzen, auf der Bühne visuell Wahrnehmbares auf Null herunterzufahren und damit Gefühlshaftes zu intensivieren. Demzufolge ist die Bühne (Bühne und Kostüm Jochen Hochfeld) permanent dunkel bis schwarz und bleibt – dauerhaft! – ohne jede Ausstattung. Dafür spielen Licht, Bekleidung und Bewegungsabläufe eine oft allerdings schwerlich auf den ersten Blick erkennbar sinnstiftende Rolle. Beziehungen zwischen den Protagonisten sind durch räumliche Distanz charakterisiert, eine auch sichtbare Liebesbeziehung zwischen Alfredo und Violettagibt es nicht, festlich feiernde und charakterisierend bunt ausgestattete Gesellschaften rennen - stets im Block und auf sich drehender Bühne - hechelnd ihren Vergnügungen nach oder ergehen sich im Hintergrund zeitlupenartig in sexuellen Spielchen – dies alles wohl Teil jener „Chiffren“, die der Inszenierung Zeitnähe bescheinigen sollen. Inklusive jener von Violetta so befürchteten Endphase alleinigen Sterbens an unheilbarer Krankheit, die von allen anderen Beteiligten sichtlich teilnahmslos, von fern, im Saal an der Orchesterbrüstung stehend, betrachtet wird. Violettas nur partiell (Kopf, Hände) in grelles Scheinwerferlicht gesetztes, fast illusionistisch wirkendes allmähliches Verschwinden auf offener, allerdings dunkler Bühne ist übrigens ein sehr gelungener, berührender Einfall. Auch wenn die Gewißheit bleibt: Man wird nach Violettas Tod zur Tagesordnung zurückkehren! Dumas sagt: „So ist es, das einmal gefallene Geschöpf richtet sich nie wieder auf. Gott verzeiht wohl, aber die Gesellschaft ist unerbittlich.“
Ein nicht nur kleines Problem: Man hätte vor einem Theaterbesuch auch ungeachtet der Teilnahme an einer Einführung mit der Regisseurin eine Menge zusätzlicher Informationen gebraucht, um den Intentionen Sandra Leupolds besser folgen und ihre Umsetzung auf der Bühne verstehen zu können. Fragen wären dennoch geblieben, was grundsätzlich so schlecht gar nicht ist! Wer sich im Laufe der Aufführung von Verständnisdefiziten nicht allzu sehr beeindrucken ließ – Nachlesen vorhandenen Materials lohnt auch im Nachhinein - der hat den Saal dennoch mit großem Gewinn verlassen. Geschuldet – siehe oben – einer bejubelten Aufführung, die ihre große Stärke im Musikalischen besaß. Wer sich darauf konzentrierte, war bestens bedient. Denn sängerisch wie gestalterisch ging es hörbar um kaum distanzloses oder gar von rationalem Kalkül bestimmtes Handeln. Stärkste Empathie war fühlbar und damit jener Rahmen abgesteckt, der das Ganze zur großen Tragödie und – warum nicht – zur großen Liebesbeziehung geraten ließ. Sandra Leupold wird dies dem Besucher zugestehen müssen. Der hatte buchstäblich keine andere Wahl, denn musikalisch ging der Abend unter die Haut. Katharina Constanti (Violetta), Costa Latsos (Alfredo) und Maciej Kozlowski (Giorgio Germont) beeindruckten mit souveräner stimmlicher Präsenz und klangintensiver Gestaltungskraft. Nicht weniger kompetent besetzt die kleineren Rollen mit Claudia Scheiner (Flora), Kristina Herbst (Annina), Semjon Bulinsky (Gastone), Thomas Rettensteiner (Baron), Jaehwan Shim (Marquis) und Jovan Košcica (Doktor). Für den wieder bestens vorbereiteten Chor zeichnete Csaba Grünfelder verantwortlich. Am Pult des Philharmonischen Orchesters Vorpommern sorgte GMD Florian Csizmadia für ein gestisch markantes und mitreißend stringentes Musizieren, für zarte Verinnerlichung wie emphatischen Furor gleichermaßen; Berührend, hochdramatisch und beklemmend emotional.