Stralsund, Theater Vorpommern, ORPHEUS IN DER UNTERWELT - Jacques Offenbach, IOCO
THEATER VORPOMMERN in Stralsund: Von der subversiven Kraft, sich über sich selbst zu amüsieren - Offenbachs Operette Orpheus in der Unterwelt am Theater Vorpommern
Von der subversiven Kraft, sich über sich selbst zu amüsieren - Offenbachs Operette Orpheus in der Unterwelt am Theater Vorpommern
von Ekkehard Ochs
„Wenn man unter Genie eines Künstlers die höchste Freiheit, die göttliche Leichtigkeit, Leichtfertigkeit im Schwersten versteht, so hat Offenbach noch mehr Anrecht auf den Namen Genie als selbst ein Wagner.“ Friedrich Nietzsche hat das gesagt. Selbst wenn er mit dem Begriff des „Genies“ hier ein wenig frei umgeht - ein so brillanter wie souveräner Komponist war Offenbach ganz sicher, und eine beneidenswerte Einfallsfülle samt meisterlicher Verarbeitungsfertigkeit standen ihm auch zur Verfügung. Beste Voraussetzungen also, um nach vielen „Vorversuchen“ im Jahre 1858 in Paris mit Orpheus in der Unterwelt mal so eben eine neue Gattung zu begründen, den Prototyp der klassischen, zweiaktigen und abendfüllenden Operette! Wichtigste Zutaten: eine Handlung, deren Stoff sich wirkungsvoll als mit Sprachwitz gewürzte Parodie samt entsprechend ironisch bis bissigen Beziehungen zur eigenen, realen Gegenwart nutzen lässt, und eine Musik, die – gern mit betont tänzerischer Attitüde – alle Möglichkeiten so schmissiger wie eingängiger und einprägsamer Melodien ausschöpft.
Keine dieser Vorbedingungen konnte Offenbach in Verlegenheit bringen. Und so geriet das mehrfach von ihm umgearbeitete und in zwei wesentlichen Fassungen 1858 und 1874 vorliegende Werk zu jenem Erfolg, der dem Werk bis heute treu geblieben ist. Auch am Theater Vorpommern, das zu einer inzwischen üblichen Mischfassung gegriffen hat und damit am 18. Mai 2024 – hier umständebedingt der verspätete Bericht – einen großen Erfolg verzeichnen konnte. Wie auch nicht, wenn auf Stralsunds Bühne Genreparodie und Zeitsatire höchst wirkungsvoll, weil vergnüglich aufeinander treffen, die so gar nicht unanfechtbaren antiken Götter als „göttliche Hallodri“ frech entzaubert und höchst menschlich kritisch unter die Lupe genommen werden und zudem bemerkenswert selbstbewusste Frauen der olympischen Männerwelt ganz schön einheizen. Was auch als „Widerstandspotential gegen die patriarchalische Moral im zweiten [französischen!] Kaiserreich“ gewertet werden kann (Ulrich Schreiber, 2010). Der eigentliche Clou im Orpheus aber ist der wirklich umwerfende Einfall, die ja altbekannte und meist tragische Geschichte von Orpheus und Eurydike auf den Kopf zu stellen. Von wegen große Liebe. Man ist sich nur noch in herzlicher Abneigung verbunden, hat andere Partner und will voneinander nichts mehr wissen.
Am Theater Vorpommern hat man sich vorgenommen, Offenbachs Operette als das schwierige Leichte zu inszenieren. Die Absicht: den Besucher „...auf vielfältigste Weise zu unterhalten mit einer aberwitzigen Geschichte parodistischen Anstrichs, mit der dramatischen, tänzerischen und sprachlichen Vielfalt, die das Theater ausmacht, mit überraschenden Wendungen, Effekten, Theaterzauber und vor allem mit viel mitreißender Musik.“ Dass man diesem Anspruch gerecht werden konnte, ist mit Tamara Heimbrock (Inszenierung), Nathalie Himpel (Bühne & Kostüm), Marcus Kröner (Licht), Gisela Fontarnau Galea (Choreographie), Katja Pfeifer (Dramaturige) und Alexander Mayer (Musikalische Leitung) einem Team zu verdanken, das Kompetenz, Professionalität und ein glückliches Händchen für musiktheatralisch überzeugende Wirkung bruchlos zu verbinden wusste.
Will heißen: ein knapp Drei-Stunden-Abend, der durchgehend hohes Tempo besaß und mit vielen wirbeligen, im Wortsinne Himmel und Hölle in Bewegung setzenden Ensemble- und Chorszenen zur sehr unterhaltsamen Präsentation gelegentlich schon entfesselt scheinender Spielfreude geriet; das Ausnutzen situationskomischer Gelegenheiten inbegriffen. Dies alles auf einer Bühne, der – nacheinander - schon mal ein großer, moderner Küchentisch, ein begehbarer Kühlschrank (als Zugang zu Himmel und Hölle), ein Riesenbett, ein Sofa und ein Bälle-Bad genügten, um die großen Restflächen für allerhand höchst effektvolle Turbulenzen nutzen zu können. Da schaute man schon deshalb gern hin, weil sich das muntere olympische Völkchen als sehr bunt, irgendwie hochsommerlich sportlich gewandtet erwies. Aber man hatte es auch – wie der „Streik“ im engeren Lager Jupiters bewies – faustdick und fraulich selbstbewusst hinter den Ohren. Generell ging es überall, auf dem Olymp ebenso wie im Reich der dann dunkler gekleideten Gesellschaft Plutos, überaus locker, manchmal schon fast etwas überdreht zu. Das Parodistische gelangte da in die Nähe einer Grenze, die noch gewaltiges Vergnügen sicherte, aber weiter nicht getrieben werden sollte. Mehr Florett? Mehr Augenzwinkern? Etwas weniger Derbheit? Übrigens schlich sich bei allem Tempo, bei aller sehr gekonnt präsentierten Turbulenz, bei allen teils echt komischen, hier nicht aufzählbaren Details das Gefühl ein, gewisse dem Stück eigene Längen dann doch nicht gänzlich überspielen zu können. Als Manko wäre das aber dennoch nicht zu bezeichnen. So bleibt als ein erstes Fazit der Eindruck einer optisch gelungenen, choreographisch höchst lebendigen und die Aufmerksamkeit dauerhaft fesselnden Aufführung. Die parodistischen Absichten erscheinen akzentuiert, glaubwürdig und durchaus amüsant. (Was für ein herrlicher, situationskomischer Offenbachscher Einfall, die Öffentliche Meinung als karikierte Person auftreten und „hochmoralisch“ agieren zu lassen!). Als musiktheatralisches Spektakel ist das Ganze ein Volltreffer. Die Reaktionen nach der Premiere sowie nachfolgender Aufführungen bestätigen das.
Aber da gibt es ja noch die Musik! Sie hat es in sich! Aber wohl nur dann, wenn man bereit ist, die scheinbar so absichtslos hübsche, einfallsreiche Oberfläche zu hinterfragen. Was da vielfach so leichtgeschürzt daherkommt, ist natürlich nicht immer bedeutungsschwer, aber dann doch wohl öfter, als man glaubt. Denn Witz, Parodie und Spaß auf der Bühne gelingen auch nur dann, wenn man aus dem Orchestergraben heraus Entscheidendes beisteuert. Und da lohnt es schon, beim Orchestralen wie Sängerischen nicht nur die bekannten „Ohrwürmer“ zur Kenntnis zu nehmen. Offenbach hat in der musikalischen Charakterisierung seiner Figuren mehr zu bieten. Und das kann dem Verständnis am Bühnen-geschenen dienlich sein, aber auch das Vergnügen am Musikalischen deutlich erhöhen. Nicht zuletzt dann, wenn man – wie am Theater Vorpommern - über vorzügliche Vokalsolisten verfügt. Sie seien hier pauschal als Ensemble gewürdigt, das überaus facettenreich die doch recht variablen Ausdrucksbereiche der Chansons, Couplets und Airs solistisch wie als Duo oder in größeren Ensembles zu gestalten wusste. Was auch die Fähigkeiten inbegriff, kompositorische Feinheiten charakteristisch zu gestalten und damit für den parodistisch notwendigen musikalischen Feinschliff zu sorgen. Und dabei hat sich niemand geschont; man hat – um es ein wenig flapsig zu sagen – dem Affen auch sängerisch richtig Zucker gegeben! Übrigens ohne den Stimmen oder den einzelnen Stücken Gewalt anzutun!
Nennen wir diese auch zwischendurch öfter mal heftig beklatschten Protagonisten: Meike Hartmann (Eurydike), Bassem Alkhouri (Orpheus), Maciej Kozlowski (Jupiter), Semjon Bulinski (Pluto), Thomas Rettensteiner (Öffentliche Meinung), Pihla Tettunen (Juno), Andreas Sigrist (Styx), Jovan Koscica (Charon), Alexander Constantinescu (Zerberus), Soobhin Kim (Diana) sowie die Chormitglieder Kaho Yamashita, Vera Meiß und Bernd Roth als Cupido, Venus und Merkur.
In Hochform – wie immer – auch der Chor des Hauses (Jörg Pitschmann). Als singende Olympier ließen sie es nicht an göttlichem Wohlklang samt so präziser wie donnernder, mitreißender Kraftentfaltung fehlen; das roch in dieser Diszipin schon mal nach GOLD!
Vielbeschäftigt auch das Philharmonische Orchester Vorpommern; übrigens mit Ansprüchen, die auch nicht jeden Tag zu meistern sind: viel Solistisches, kammermusikalisch Wirkendes, aber eben auch das flotte Couplet, die pastorale Arie, der freche Galopp, die ganze Palette scheinbarer und doch so kontrastreich wie charakteristisch unterschiedener Leichtgewichtigkeit. Alexander Mayer, 1. Kapellmeister und Stellvertretender GMD des Hauses, ließ da mit Schwung, Energie, aber auch feiner Ausarbeitung und musikantischer Feinfühligkeit nichts anbrennen.
Eine Anekdote besagt, das Offenbach – um nach längerer Pause (1858) in Stimmung zu kommen – die neuen (und auch in der gängigen Mischfassung vorhandenen) Stücke für die 1874er Fassung im extra wieder ausgekramten alten Schlafrock und in alten Pantoffeln (von 1858!) geschrieben habe. Das muss ihn mächtig beflügelt haben!