Stralsund, Theater Vorpommern, IDOMENEO - W. A. Mozart, IOCO
IDOMENEO in Stralsund, THEATER VORPOMMERN: In Stralsund verantwortet Wolfgang Berthold eine Inszenierung, die die Insel Kreta als „hermetisch abgeschlossenen Raum“ und seine Bewohner als geschützt wie gleichzeitig gefangen, generell aber in „großer Not“ sieht ...
Viel Beifall um „eines seiner größten und gedankenreichsten Werke“ – Mozarts Idomeneo am Theater Vorpommern in Stralsund
von Ekkehard Ochs
„Idomeneo ist eines seiner größten, und gedankenreichesten Werke; der Stil ist durchgehends pathetisch und athmet heroische Erhabenheit. Da er diese Opera für große Sänger und für eines der besten Orchester von Europa schrieb, so fühlte sein Geist keinen Zwang, und entfaltete sich darinn am üppigsten.“ So steht es in der ersten als selbständige Schrift über Mozart geltenden Biographie Franz Xaver Niemetscheks, die erstmals 1797 in Prag erschien und später mehrere, erweiterte Auflagen erlebte. Der Musikschriftsteller Friedrich Rochlitz bestätigte ein solches Urteil und überlieferte, dass Mozart den Idomeneo als sein liebstes Bühnenwerk bezeichnet hat; neben dem Don Giovanni. Wer sich durch maßgebliche Mozart-Literatur arbeitet, stellt zudem fest, dass hinsichtlich Idomeneos und vor allem seiner Musik des Lobens kein Ende ist. Dass der Komponist nach der Uraufführung sogar eine konzertante Präsentation durchsetzte (1786), könnte die eigene Wertschätzung zusätzlich begründen. Für die gängige Musikpraxis gilt das allerdings eher weniger. Aufmerksamkeit verdient deshalb eine Inszenierung dieses Werkes, die kürzlich am Theater Vorpommern in Stralsund stattfand und als überzeugender Beleg für eine grandios komponierte Oper gelten kann. Für eine starke Aufführung allerdings auch, doch dazu später.
Das Handlungsgeschehen ist so alt wie bühnenmäßig gestaltungsrelevant und dementsprechend häufiger genutzt. Details bleiben hier außen vor: Nur soviel: Idomeneo, Kretas König, kehrt, aus Troja kommend, nach Hause zurück. Gott Neptun will das mit Sturm und Schiffbruch verhindern, lenkt aber ein, als Idomeneo ihm jenes Menschenopfer verspricht, das an der ersten Person, die ihm in der Heimat begegnet, vollzogen werden soll. Das ist fatalerweise der ihn zunächst nicht erkennende Sohn Idamante. Er ist während des Vaters vieljähriger Abwesenheit in tiefer Liebe zur „Feindin“ Ilia – Tochter des trojanischen Königs Priamos, die diese Zuneigung erwidert – entbrannt, wird aber auch von der nach Kreta geflüchteten Agamemnon-Tochter und Schwester des Orest, Elettra (Elektra), heiß begehrt. Idomeneo hält den von Neptun verhängten Fluch lange geheim. Er rät Sohn und Elettra zur Flucht in ein anderes Land, beschwört dadurch wieder den Zorn Poseidons, der ein Ungeheuer losschickt, um Kreta zu vernichten und kommt letztlich um eine Erklärung seines Verhaltens und die nunmehrige Bereitschaft, sich selbst zu opfern, nicht herum. Da Letzteres auch Idamante und Ilia wollen, müssen die Götter eingreifen. Sie sind gerührt von so viel Liebe und Demut ihnen gegenüber, krönen Idamante zum Nachfolger seines Vaters als König und alles löst sich in Freude und Frieden auf. Nur Elektra geht in jeder Hinsicht leer aus und zürnt heftig.
Unzweifelhaft ist das ein Stoff mit bühnenwirksamer Brisanz. In Stralsund verantwortet Wolfgang Berthold eine Inszenierung, die die Insel Kreta als „hermetisch abgeschlossenen Raum“ und seine Bewohner als geschützt wie gleichzeitig gefangen, generell aber in „großer Not“ sieht. Verdeutlicht wird das in einem Bühnenbild (Stefan Rieckhoff), das den gesamten Raum als überdimensionierten „Holzkasten“ präsentiert. Seine Mitte bildet ein ebenfalls übergroßer Tisch, um den herum sich alle Handlung abspielt. Eine zweite Handlungsebene wird erreicht, indem man den Tisch von oben herab komplett umhüllt, ihn mal als Block (publikumszugewandt auch als Filmleinwand genutzt) stehen lässt oder auch durchsichtig macht und damit weiteren Handlungs-momenten Raum bietet. Die Bühne – so das Regiekonzept – ist ein isolierter „Machtraum“, Handlungsort für durchgängig seelisch traumatisierte Protagonisten. Ein Gefängnis im Wortsinne (Ilia) wie im übertragenen Sinne als „inneres Gefängnis“, in das sich alle Handelnden unter denkbar größten Nöten gedrängt sehen. Einziger (optischer) „Lichtblick“: ein großes Wandgemälde, ein Seestück heftig bewegten Wassers, das hier aber negativ verortet wird. Wie denn das Regiekonzept das Wasser ganz allgemein zur Gefahr für alle Handelnden erklärt: spürbar in Neptuns Sturmattacken und als ohnehin für dominant erklärtes Element sichtbar in einem Wasserspender, einem Aquarium, Chorszenen in gelber, wasserfester Kleidung und drei die finale und erlösende „Stimme“ begleitende Posaunisten in Taucheranzügen.
Der Blick aufs Ganze greift aber weiter. Das Werk ist hier nicht zeitlich gebundene (antike) Familiengeschichte, sie wird als zeitlos dargestellt. Der Aufklärungs-gedanke der Mozartzeit wird bemüht und die Form des Ganzen schon mal als „überholt“ bezeichnet. Kernsatz (Programmheft): „Die Figuren arbeiten sich an einer behaupteten Göttlichkeit (und auch an einem archaisch-monarchischen System) ab, aus der es sich am Ende zu befreien gilt.“ Das ist wahrlich weit voraus gedacht, passt aber zu noch weiter gehenden Überlegungen wie der: Idomeneo selbst ist das eigentliche (und Neptun zugeschriebene) Ungetüm, das Kreta vernichten will. Auch dazu passt die Einführung einer Figur, die im Stück als König häufig auftaucht. Sie nährt zunächst den Verdacht, es könnte Neptun (undercover) höchstselbst sein, erfährt aber dann (Einführungsgespräch zur Inszenierung), dass es der Vater Idomeneos sein soll. Das gute/schlechte Gewissen Idomeneos? Der Kontrolleuer seines Handelns? Er soll übrigens nur von Idomeneo überhaupt zu sehen, also wahrzunehmen sein...Noch eine gedankliche Kühnheit: Idomeneo soll (irgendwann) erkennen, dass es Götter gar nicht gibt, sein Gelübde also nicht gilt und er selbst frei von Schuld ist. Das ermöglicht ihm den von den Göttern (also doch) nahegelegten Abgang samt Amtsübergabe an den Sohn! Das Boot, das ihn einst rettete und als Heiligtum Verehrung im Volke fand, steckt er selbst (Überraschung!) in Brand: alle Brücken ans Alte sind abgebrochen, eine nächste, neue Generation steht bereit. Es wundert nicht, dass die Inszenierung philosophisch mit der sehr heutigen Frage endet: „Was bleibt dann noch? Worauf gründet sich ein Staat, eine Regentschaft, eine Gesellschaft?“ Ob sich wohl Textdichter und Komponist diese Fragen gestellt haben? Ganz sicher richtig aber ist die Feststellung Wolfgang Bertholds: „Eine alte Form und ein alter Stoff treffen auf einen jungen wilden Komponisten, der kompositorisch wie ideengeschichtlich schon für eine andere Epoche steht, und aus dieser Reibung entsteht dann etwas sehr Spannendes“ .
Wer das nur kurz beschriebene Konzept nicht kennt, muss hier und da mit Verständnislverlusten rechnen. Gut auch, den Handlungsrahmen zu kennen. Sichtbare Ansatzpunkte für das Geschehen gibt es nicht; keine Landschaften, keine (antiken) Bauten, weder mediterrane Kleidung noch ewig blauen Himmel. Die Insel Kreta schrumpft auf die Größe eines einzigen Raumes, der an Nüchternheit nichts zu wünschen übrig lässt. Die beabsichtigte, oben beschriebene Darstellung des Wassers erschließt sich aus dem, was auf der Bühne und in der Handlung zu besichtigen ist, eher nicht. Der „Machtraum“ der Bühne kann zwar als solcher empfunden werden – schließlich spielt sich nur in ihm die Handlung ab – aber auf die doch bewusst intendierte, auch politisch aufgeladene Begrifflichkeit würde man ohne Kenntnis des Konzeptes wohl nicht kommen.
Bei aufmerksamem Zuhören und wachem Geist, sicher auch noch im Nachhinein etwa nach Studieren des Programmheftes, kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass es besondere Regieeinfälle oder optischen Aufwand gar nicht unbedingt braucht. Vor allem dann nicht, wenn die Überzeugungskraft des musikalischen Teils einer Aufführung diese (fast) entbehrlich oder zumindest nur rudimentär notwendig erscheinen lassen (Verwiesen sei nochmals auf die erwähnte, von Mozart sicher nicht grundlos veranstaltete konzertante Aufführung des Werkes ).
Und so stellte sich auch in Stralsund das ein, was man diesem Mozart unbedingt zutraut: die Tatsache, das eine hier besonders karge Handlungsumwelt mit ungemein souveräner und überlegt eingesetzter musikalischer Gestsaltungswucht in ein Feld dramatischer Lebendigkeit und konträrster menschlicher Emotionen zu verwandeln ist. Das wiederum ist dem Regieteam mit dem fantasievoll genutzten Handlungsumfeld am, auf und um den zentralen „großer Tisch“ überzeugend gelungen. Ein Mangel an äußeren Aktionen wird da gar nicht als solcher empfunden. Er wird mit geschickter, innere wie äußere Beweglichkeit choreographierender Personenführung recht dicht und konsequent kompensiert. Mehr braucht es nicht, da Mozarts Musik dank ihrer geradezu körperlich empfindbaren Intensität und Faszinationskraft imstande ist, reale wie innere „Räume“ zu füllen.
Über diese Musik – seit Otto Jahns schon legendärem „Mozart“ (1856-1859) als außerordentlich bedeutsam geschätzt – soll hier nicht gesprochen werden. Über ihre bemerkenswert souveräne und überzeugende Präsentation aber schon! Solistenensemble, Chor und Philharmonisches Orchester Vorpommern musizierten sich mit einer wahrlich glanzvollen Premiere (16. 3.) in die Herzen eines begeisterten Publikums. Keine Abstriche an den vokalsolistischen Leistungen, ein wieder prächtig disponierter Chor (Csaba Grünfelder, Jörg Pitschmann) und ein Orchester, dem man die Vertrautheit mit historischer Aufführungspraxis in jedem Ton anmerkt; GMD Dr. Florian Csizmadia kennt sich da ziemlich gut aus! Letztlich war das auch den Solisten anzumerken. Etwa in der rhetorischen wie sängerischen Gestaltung der Rezitative, bei denen das Verhältnis von Balance wie Setzung von Prioritäten unter Wahrung größtmöglicher Textverständlichkeit zu beachten war. Und das als secco wie accompagnato. Vom Verdeutlichen der so wichtigen Affekte und ihrer spezifisch komponierten „Vokabeln“ in den von heftigsten Emotionen geradezu überquellenden Arien ganz zu schweigen!
Für alles das möchte man das gesamte Solistenensemble pauschal und rechtens „in Haftung“ nehmen. Quantitativ gibt es natürlich unterschiedliche Anteile, qualitativ eher nicht. Stimmtechnisch souverän gehandhabte Stimmen, voller Glanz, Kraft und Klarheit, aber auch von betörender Intimität, glühender Intensität und kantablem Schmelz. Dazu bemerkenswerte Ausdruckskraft, eine denkbar breite Palette einfühlsam ausgesungener Affektbereiche zwischen beklagenswerter Trostlosigkeit, Todessehnsucht, leidenschaftlichem Liebesbekunden und erregtem Racheschwur. Jeder Protagonist eine Persönlichkeit, musikalisch prägnant gezeichnet, rhetorisch markant – und alles das - vereint im Ensemble - von unschlagbarer, geradezu suggestiver Wirkungsmächtigkeit.
Die ist natürlich schon im Einzelgesang offensichtlich: bei Bassem Alkhouri, der die wohl tragischste, wahrlich aufreibende und ungemein anspruchvolle Rolle des Idomeneo beeindruckend beherrschte, bei Idamante, von Sängerin (!) Pihla Terttunen ebenso menschlich und sängerisch fesselnd nahegebracht wie Franziska Ringe in ihrer Rolle als trojanische Gefangene und innig Liebende Ilia. Von anderer Gefühlslage bestimmt ist Antje Bornemeier, eine stimmgewaltige Elettra, resolut, rachsüchtig und dennoch tragische Figur. Semjon Bulinsky verlieh seine wunderbar schlanke tenorale Stimme dem Arbace, einem Vertrauten Idomeneos. Bernd Roth als Oberpriester (aus dem Chor) und Jovan Koščia (Stimme) komplettierten das Ensemble. Der Chor – oben Gesagtes sei ergänzt – beeindruckte, wie immer, mit enormer Präsenz, Prägnanz und Klangwucht (wenn nötig), das Orchester verdiente sich unter dem hörbar Mozart-kompetenen Dirigat Florian Csizmadias jede Menge Lob für ein ausgsprochen bewegliches, sensibles und elastisches Spiel. „Begleitung“ war hier nie angesagt. Das Orchester erwies sich als Mitgestalter auf Augenhöhe, und dies mit pulsierender Stringenz, „sprechendem“, dynmisch außerordentlich differenziertem Spiel. Eine mitnehmende Ohrenweide, und dann doch mehr, nämlich als Partner und Mitgestalter in einem Geschehen, das mitreißender, dramatischer, berührender kaum gedacht werden kann. Und dieser Komponist war gerade mal 25 Jahre alt...