Stralsund, Klinikumskirche,VOGLER QUARTETT, IOCO
24.01.2025 - Klangabenteuer auf sechzehn Saiten - Das Vogler-Quartett in Stralsund
von Ekkehard Ochs
Man muss diese vielen Seiten des stattlichen Buches nicht kennen, aber sehr empfohlen sei ihre Kenntnisnahme dennoch. Vor allem dann, wenn man über gängige Einführungstexte hinaus etwas über ein Streichquartett-Ensemble erfahren möchte, das seit nunmehr 40 Jahren in gleicher Besetzung (!) musiziert und noch immer international zu den gefragtesten Interpreten zählt.
Die Rede ist vom bereits in der ehemaligen DDR (Berlin) gegründetenVogler-Quartett, dem der Musikwissenschaftler Frank Schneider und der Berenberg-Verlag Berlin im Jahre 2014 jenes erwähnte Buch gewidmet haben. Dies unter umfangreicher Mitwirkung des Ensembles selbst. Denn es geht ausschließlich um Interviews und Eigenporträts, die unter dem Titel „Eine Welt auf sechzehn Saiten, Gespräche mit dem Vogler-Quartett“ zahllose Informationen allgemeiner wie dezidiert auf das Ensemble zugeschnittener Art enthalten. Übrigens ohne jeden Anflug von Selbstlob.
Dafür voller selten so kompetent diskutierter Spezifika eines langen gemeinsamen Weges in Sachen Musik und damit Plädoyer für eine Tätigkeit, die nahezu jeden (Konzert-)Abend kreative Grenzgänge im Umgang mit den Werken, mit der eigenen Befindlichkeit und dem Publikum erfordert.
Wer diesbezüglich Sachinformationen und Konzerterlebnis zusammenbringen wollte, hatte am vergangenen Freitag dazu erneut Gelegenheit: das Vogler-Quartett mit Tim Vogler (1. Violine), Frank Reinecke (2. Violine), Stefan Fehlandt (Viola) und Stephan Forck (Violoncello) gastierte (zum dritten Male) in der Klinikumskirche zu Stralsund.
Auf dem Programm: Mozart (G-Dur-Quartett KV 387), Mauricio Kagel (5. Streichquartett) und Max Reger (Es-Dur-Quartett op. 109). Mithin ein Angebot für Kenner und Liebhaber gleichermaßen. Und beste Gelegenheit, das Ensemble beim (schriftlichen) Wort zu nehmen:
"Was Musik von uns will, das möchten wir jedes Mal vor und mit dem Publikum spielend herausfinden. Wir erkunden ihre Substanz, betonen ihre inneren Spannungen und Gegensätze, schärfen ihre Charaktere und versuchen, Schicksale wie Psychologen und Dramatiker zu verfolgen und zu deuten. Dieses Motiv, Musik auch als vernünftigen Diskurs in und mit sich selbst zu verstehen, ist bei uns möglicherweise stärker ausgeprägt als heutzutage noch üblich.“
So Frank Reinecke im Interview (S. 139).
Cellist Forck wollte es etwas schlichter, spricht von „uneitlem Spiel“ und davon, dass es ihnen „nicht um Selbst-, sondern um Werkdarstellung“ gehe. Letzteres, indem man „stumme Texte in beredten Klang“ verwandele. (S. 140). Der große Harnoncourt hat das schon vor Jahrzehnten versucht und mit seiner These von der „Musik als Klangrede“ und nunmehr notwendiger historisch informierter Aufführungspraxis gestalterisch ganz neue Wege zum Musikverständnis eröffnet; betreffend vor allem sogenannte „alte“ Musik, aber nicht nur diese. Was also „erzählten“ uns die Voglers in Stralsund?
Zunächst Einiges zu Mozart, zu seinem G-Dur-Quartett KV 387 (1782) und den besonderen Umständen seines Entstehens. Wer Ohren hatte, zu hören – am besten mit auch „historischem“ Ohr - der konnte sie erkennen, jene „lange und mühsame Arbeit“, von der Mozart selbst sprach und für die er sein großes Vorbild Haydn und dessen op. 33 „verantwortlich“ machte. Denn auch diese Quartette waren – so Haydn - „auf ganz neue Besondre art“ geschrieben. Für das Vogler-Quartett Grund genug, jene dann auch über Haydn hinausgehende Charakteristika als (seinerzeit!) etwas Besonderes, Neues zu artikulieren: satztechnische Dichte, kerniger Klang, Ausweitung dynamischer Bereiche, prägnante, verfeinerte Artikulation zur „Rede“ gesteigert, ausgeprägte Klangintensität, generelle Sanglichkeit(!) und Stringenz.
Alles letztlich gipfelnd im Fortentwickeln der Gattung und, damit verbunden, im Anspruch auf deren zunehmend geistige Durchdringung. So gelang dem Vogler-Quartett ein Mozart, der nur deshalb auch wirklich „schön“ war, weil er alle Spezifika eindrücklicher, „beredter“ Gestaltung besaß, weil er zwischen Zartheit, Grazie und tiefer Nachdenklichkeit, spielerischer Brillanz und feuriger Kraftentfaltung eine auch Konstruktives berücksichtigende „Mitteilungsdichte“ präsentierte, die den Hörer unmittelbar ergriff und ihn so schnell nicht wieder los ließ.
Als besonderes Qualitätsmerkmal traf das auch für Kagels 5. Streichquartett zu. Teils mit dem Komponisten erarbeitet und 2007 vom Vogler-Quartett als Auftragswerk der Philharmonie Essen uraufgeführt, stand und steht man mit diesem Werk natürlich auf besonders gutem Fuß. Will heißen: Wenn Musik Klangrede ist, dann hier. Auch wenn es kein Programm gibt - was Kagel auf Anfrage augenzwinkernd weder bejahte noch verneinte – so überfällt der Komponist doch den Hörer mit einer Fülle quasi „bildhafter“ musikalischer „Gestalten“ von äußerst expressivem und stärkstens kontrastierendem Charakter. Das brauchte Interpreten wie das Vogler-Quartett, dem das Werk inzwischen zur zweiten Haut geworden sein dürfte. Also kein zimperlicher Umgang mit dem gebotenen Material, dafür die hier beeindruckend ausgeprägte Fähigkeit, traditionellen, aber sehr verfremdet gebrauchten Form- und Klangmodellen das Erscheinungsbild höchst individualisierter „moderner“ Ausdruckskunst zu verleihen. Das ist sehr wörtlich zu nehmen, denn das, was die Interpreten boten, war die musikalisch wie musikantisch überzeugende Synthese vielfältiger Stil- und Ausdrucksmerkmale. Also gut 25 Minuten Dauerspannung, energische Deklamatorik, atonale, ungemein gschärfte Klanglichkeit, heftige, oft explosive, ja exzessive Erregungszustände von enormer dynamischer Triebkraft; andererseits aber auch retardierende, nachdenkliche Passagen von nicht weniger beeindruckender Gestik. Alles zusammen ergab das – wir bleiben mal dabei - „erzählte Geschichten“ von so undefinierbarer wie frappierend fesselnder Wirkmächtigkeit. Als Werk wie als Interpretation war das eine starke Vorstellung! Sie darf als Bestätigung dessen gelten, was Kagel einmal schrieb:
“Es scheint mir, dass die conditio sine qua non, ein Streichquartett zu komponieren, die leidenschaftliche Liebe zu diesem Genre sein müsste und zugleich die innere Notwendigkeit, sich unbedingt mit dieser Besetzung musikalisch ausdrücken zu wollen...“
Dem ist nichts hinzuzufügen!
In genau diesen Zusammenhang passte dann auch das finale Werk des Abends, Regers op. 109. Fünf Streichquartette hat der Meister geschrieben, sie alle – wie auch die große Menge weiterer Kammermusik – gelten noch immer als Raritäten in den Konzertsälen. Grund genug, diesem kontrovers beurteilten Bereich des Regerschen Schaffens mit besonderer Aufmerksamkeit zu begegnen. Hier zum konkreten Opus nur so viel: formal, harmonisch, melodisch und verarbeitungstechnisch ein typischer, vielleicht schon etwas altersreif spätromantischer bis an tonale Grenzen reichender Reger, dem ein kompetenter Kammermusikführer (2000) den Status einer „höchst unabhängigen Ausnahmeerscheinung“ zubilligt. Und dies ungeachetet einer gleichzeitig erkannten engen Beziehung zu klassischen formalen und gattungstspezifischen Traditionen. Damit ergaben sich für das Vogler-Quartett die gleichen oben beschriebenen Anforderungen. Dies umso mehr, als Regers Komponieren in seiner Plastizität als höchst komplexe Ausdruckskunst zu gelten hat.
Ihr zu entsprechen und einen durchaus besonderen „stummen“ Notentext ins „Verständliche“ zu transformieren, gelang an diesem Abend in nicht weniger überzeugender, gleichwohl Ansprüche stellender Weise. Denn der Hörer ist auf eine recht spezifische Weise anzusprechen, eine gestalterische Anforderung, der das Ensemble mit bemerkenswerter Souveränität zu entsprechen wusste. So geriet ihm das Werk als mit vielen Überraschungen versehene Wanderung durch ungewohnte melodische, harmonische und formale Bezirke. Deren gültiger Präsentation war nur mit ausgeprägt variabler Spieltechnik, einer auch feinste Klangfinessen einsetzenden Tongebung und einem Höchstmaß an gestalterischer Darstellungskraft und musikantischer Lebendigkeit beizukommen. Das Zauberwort: Expressivität! Dies gelang sowohl im Rahmen voluminöser, motivisch dichter Klangfülle als auch rasanter spieltechnischer Beweglichkeit, im Gewand liedhafter Schlichtheit oder polyphoner Kunstfertigkeit. Dazu kam die Faszination ständigen musikalischen Fließens, des Eröffnens immer neuer, grenzenlos scheinender Horizonte mit stets sich wandelnden Aussichten.
Man darf dieses Hörerlebnis durchaus als ein gewisses Abenteuer bezeichnen – als unbedingte Bereicherung eigener Hörerfahrung, die auszubauen sich geradezu zwingend anbietet.