Stolpe an der Peene, Haferscheune, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern - Abschiedskonzert, IOCO, 17.07.2023
Festspiele Mecklenburg-Vorpommern 2023
Abschiedskonzert - Christoph Eschenbach als Chef des Berliner Konzerthausorchesters
von Ekkehard Ochs
Seit dem 17. Juni dieses Jahres sind sie im Norden der Republik wieder präsent: die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Und mit ihnen die traditionelle Folge von weit über einhundert Konzerten in buchstäblich allen Winkeln dieses weitläufigen Bundeslandes, in allen denkbaren Besetzungen, mit höchst attraktiven, nicht selten auffallend innovativen Programmen und – natürlich – musikalischen Qualitäten vom Allerfeinsten. MeckPom, das ist der Ort zahlreicher Musikfestivals und damit ein Land, das sich rechtens als „Musikland“ bezeichnet. Doch zurück zu den Festspielen MV und einem Konzert, das am 8. Juli 2023 in der großen Haferscheune von Stolpe an der Peene einen jener Höhepunkte markierte, über die die Veranstalter in geradezu verschwenderischer Fülle verfügen. Konkret: ein Gastspiel des Konzerthausorchesters Berlin, mit dem Christoph Eschenbach (83) nach dort vierjähriger Tätigkeit sein letztes Konzert als deren „Chef“ absolvierte. Dazu gab es eine Solistin, die - für eine grandiose, viele Jahrzehnte währende pianistische Lebensleistung international hoch geschätzt und geehrt – Verkörperung und Fortsetzung alter russisch-sowjetischer Klavierschule darstellt: Elisabeth Leonskaja!
Was für ein Nachmittag im hochsommerlichen, idyllisch am Peenestrom, dem „Amazonas des Nordens“ gelegenen Stolpe, in einer riesigen, akustisch gut geeigneten Scheune und einem Programm, das mit dem 1. Klavierkonzert von Brahms und Bruckners „Sechster“ vor allem dem Klassik-Fan alle Wünsche erfüllt haben dürfte. Allerdings sollte man dafür möglichst einen günstigen Platz nicht zu weit vorn oder hinten erwischt haben. Denn der Raum verschluckt nichts. Er hat keinerlei Hall und sorgt für viel Transparenz, bündelt aber doch weitgehend das Klanggeschehen zu eindrucksvoller Präsenz. Dem Brahms tat das eine wie das andere gut. Er besaß – vor allem im 1. Satz - jene angerauhte, manchmal fast aufschreckende Griffigkeit, die schwelgerisches Verweilen kaum gestattet und stets nach vorn orientiert. Dies kontrastgeschärft, gestisch-rhetorisch prägnant und mit produktiver Unwiderstehlichkeit. Eschenbach ließ da keine Möglichkeit spannenden Dialogisierens mit dem Klavier aus, besaß allerdings in der Leonskaja eine Mitgestalterin, die jahrzehntelange Erfahrungen im Umgang mit diesem Konzert in die Waagschale zu werfen hatte: technisch noch immer untadelig, gestalterisch zwischen ernstem Sinnen, der großen, energischen Geste und schon mal kraftvoll improvisatorisch wirkendem Pathos stets überzeugend. Sehr aufmunternd das Ganze und beseelt von mitreißender Verve und Emotionalität.
Solche Qualitäten galten auch für das Finale, das nach einem sehr innigen, tonintensiven „Gespräch“ zwischen beiden Protagonisten (über Clara Schumann im 2. Satz) all´ der erstaunlichen Robustheit von Einfällen und ihrer Verarbeitung die Leichtigkeit des Tänzerischen hinzufügte, pulsierend in der Tongebung und allgemeiner Dynamisierung – was für das gesamte Werk galt – sowie im Duktus unendlich scheinender, strömender und den Hörer nicht loslassender Mitteilungsdichte. Viele Glücksmomente also bei diesem gestalterisch wie rezeptiv wahrlich anspruchsvollen Werk, bei dem nicht zuletzt die Fähigkeit von Solistin und Orchester, dynamisch ungemein differenzierte Klangwelten zu entfesseln, stärkste Wirkung hinterließ. Eschenbach konnte sich dabei auf die Souveränität langer Erfahrungen verlassen. Als „Klangmagier“ wird er sich wohl selbst eher nicht sehen. Dass sein gestisch sparsames Dirigieren aber akustisch wie gestalterisch unmittelbar folgenreich ist und voller suggestiver Kraft steckt, würde er aber sicher auch nicht bestreiten.
Den schlagenden Beweis dafür lieferte er auch und besonders mit der 6. Sinfonie Bruckners. Nach 60 atemlos machenden Minuten fragte man sich, warum dieses Werk vergleichsweise selten auf Konzertprogrammen zu finden ist. Die Töne allein machen es – obwohl faszinierend genug - sicher nicht. Und selbst die geschickteste „Blockbauweise“ liefe ins Leere, wenn es da kein spezielles „feeling“ für architektonische Spezifika und „inhaltlich“-konzeptionelle Investitionen gibt. Eschenbach vermittelte den Eindruck, über alles Notwendige zu verfügen. Vor allem über eine geradezu körperlich erfahrbare Spannung des Musizierens, die einzelne thematische „Blöcke“ nicht unverbunden nebeneinander stehen ließ, sondern sie anscheinend nahtlos miteinander verband. Materiale Unterschiede wurden dabei keineswegs entschärft oder gar verwischt, sie erschienen – manchmal erstaunlich genug, weil auch schon öfter mal anderen Ortes ganz anders gehört – organisch miteinander verbunden, keineswegs widersprüchlich und irgendwie folgerichtig.
Das Ergebnis war ungemein fesselnd, zumal selbst die nicht unproblematischen Sequenzierungs -Ketten voll praller Emotionalität steckten, also nicht als bloße Wiederholungen hör- und erlebbar wurden, und die folgenden plötzlichen Abbrüche nach grandiosen Klangmassierungen keinen Schock auslösten. Und so passten Filigranes wie Massives, Zurückhaltendes wie Wuchtiges, ja Frenetisches bestens zusammen, erschienen verzahnt und von bemerkenswerter klanglicher Wirkmächtigkeit. Und das nicht nur in den Ecksätzen. Von unerhört differenzierter Klangregie etwa das Adagio, das man nach Mathias Hansen (1987) als „Herzstück“ der Sinfonie bezeichnen könne, ja eigentlich müsse, als „zentralen kompositorischen `Ernstfall`, der auch die anderen Sätze berührt.“ So bei Bruckner (und Mahler), was Hansen darauf zurückführt, dass der Langsame Satz ganz allgemein von den übrigen „Verfallserscheinungen“ der sinfonischen Form jener Jahre (1. Satz, Finale) unberührt geblieben sei und sich selbständig entwickeln konnte. Interessanter Gedanke!. Ob Eschenbach Ähnliches als Konzept besaß, wissen wir nicht. Aber dass ihm dieses Adagio geradezu klangvisionär geriet, stand außer Frage. Vom Scherzo ist an diesem Abend auch zu sagen, dass es ohne eine gewisse Ambivalenz, ohne Eigenwilligkeiten weniger reizvoll gewesen wäre. Es huschte schattenhaft, es tobte, mal vorwiegend spielerisch, dann orgiastisch jubelnd, aber selten ohne (heimlichen) dramatischen Impetus. Eduard Hanslick befand seinerzeit hinsichtlich der beiden Mittelsätze, der „wilde Komponist“ hätte wohl „etwas an Zucht gewonnen, aber an Natur verloren.“
Nun ja! Das Finale der Sinfonie kannte der Kritiker zur Zeit dieser Aussage noch nicht. Aber er hätte für dieses von Eschenbach und seinem fulminant musizierenden Orchester hinreißend vital präsentierte Stück wohl kaum weniger kritische Worte gefunden. Ganz im Gegensatz zu uns, die wir dem Komponisten, dem Klangkörper und seinem Entfesselungskünstler am Pult gern und ohne Vorbehalte alle Ehren gestalterischer Großartigkeit zuerkennen.