Oldenburg, Staatstheater, CABARET - Musical Genese, IOCO
CABARET Prolog - Oldenburg: In Vielem fühlen wir uns in den 20ern des 21. Jahrhunderts an die vermeintlich „Goldenen Zwanziger“ des vergangenen Jahrhunderts erinnert: Weltwirtschaftskrise, angespannte politische Zustände und das Wanken der Demokratie, Tanz auf dem Vulkan der ....
„Willkommen, Bienvenue, Welcome….“ - Vorbericht zur Produktion „Cabaret“ am Oldenburgischen Staatstheater - Hier: Hintergrund und Genese des Musicals „Cabaret“
von Thomas Honickel
Prolog
In Vielem fühlen wir uns in den 20ern des 21. Jahrhunderts an die vermeintlich „Goldenen Zwanziger“ des vergangenen Jahrhunderts erinnert: Weltwirtschaftskrise, angespannte politische Zustände und das Wanken der Demokratie, Tanz auf dem Vulkan der Unterhaltungsmöglichkeiten, neue Freizügigkeiten und Lustbarkeiten, aufkeimender Chauvinismus, Nationalismus, sonstige -ismen und das Dämmern von Kriegen und Gewalt. Dass während der jüngsten Pandemie die just 100 Jahre zurückliegende „Spanische Grippe“ uns erneut in den Sinn kam, zeigt, dass das Rad der Geschichte sich unaufhörlich dreht und stets Situationen, Ereignisse und Personen heraufdämmern, die uns ein Déjà-vu bescheren.
Einzig an die Güte und die Einzigartigkeit der Musik dieser Zeit vor 100 Jahren, ihre rhythmisch überbordenden, fetzigen neuen Patterns, die süffigen Harmonien des neuen Jazz und die Ohrwurmqualitäten der neu erfunden Melodien, an all das kam die Nachkriegszeit mit ihren Heile-Welt-Schlagern nicht mehr heran. Gottlob blieb diese Zeit mit all ihren mannigfaltigen Brüchen in Gesellschaft, Politik und damals noch neuer Unterhaltungsbranche ästhetisch keine Fußnote der Geschichte; denn kurz vor den gesellschaftlichen Umwälzungen der 68er Generation schrieben John Kander (Musik) und Fred Ebb (Liedtexte) eine Hommage an diese Zeit in einem der legendärsten und zurecht mehrfach preisgekrönten Musicals: „Cabaret“!
Hinweis zum Regionalpolitischen
Wer die keinesfalls ausschließlich amüsante oder wenig tiefgründige Story um die Sängerin Sally Bowles und den amerikanischen Autor Clifford Bradshaw als turbulent erzählte und schmissig inszenierte Show mit hinreißenden Protagonisten erleben möchte, darf Oldenburg nicht verpassen! Gerade Oldenburg mit seiner leidvollen NS-Geschichte (bereits ein Jahr vor der Machtübernahme in Berlin stellte die NSDAP in Oldenburg als erstem Bundesland eine absolute Mehrheit im dortigen Landesparlament) steht diese Cabaret-Programmierung bestens zu Gesicht. Damals 1933 kollabierte in der Hunte-Stadt jede Form von Opposition und nahezu alle gesellschaftlichen Gruppierungen liefen pflichtschuldigst (oder soll man sagen reflexartig?) ins braune Lager über.
Lebe wohl, Berlin!
Die Geschichte um das anglo-amerikanische Liebespaar Sally und Cliff ist stark autobiographisch geprägt und basiert auf den beiden literarischen Lebensbildern „Mr. Norris steigt um“ (1935) und „Leb wohl, Berlin“ (1939), beide bereits jenseits der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs geschrieben. Dem britischen Autor Christopher Isherwood, der als bekennender Homosexueller die Freiheiten der neuen Metropole Berlin erleben und auskosten wollte, wurde schnell klar, dass sich das Blatt gesellschaftlicher Freiheiten längst gewendet hatte. Gemeinsam mit dem später berühmten Schriftsteller H.W. Auden, der neben „Age of Anxiety“(Leonard Bernstein) auch Libretti für Britten („Paul Bunyan“), Strawinsky („Rake´s Progress“) und Hans Werner Henze („Elegie für junge Liebende“) schrieb, und den er mit 18 Jahren kennengelernt hatte, ging er nach Berlin.
Ähnlich wie das dargestellte Tableau in dem ZDF-Epos „Babylon Berlin“ mit der mal abstoßenden, mal anziehenden Mischung aus Armut und Verschwendung, Elend und Ausschweifung, Staub und Glanz, Freiheiten und Einschränkungen, Betriebsamkeit (Berliner Tempo) und Melancholie erlebten die beiden Autoren diese aufstrebende Metropole in dieser Zeit der Umbrüche. Vor allem waren den beiden Briten aber die liberalen Strichermilieus in Kreuzberg Fluchtpunkte heraus aus dem miefigen und spätviktorianischen England dieser Zeit. Um die Ecke gab es das legendäre Eldorado mit Transvestiten-Shows, wo sich auch Marlene Dietrich bisweilen blicken ließ („Der blaue Engel“). Wie der ehemalige UFA-Star verließ Isherwood im Mai 1933 unmittelbar nach der Machtergreifung durch die NSDAP Berlin, Deutschland, und wenige Jahre darauf mit Ausbruch des Weltkriegs Europa, gemeinsam mit seiner Lebensfreundschaft Auden. Wie manch andere Künstler aus Europa ließ er sich „in der hässlichsten Stadt der Welt“ nieder: Los Angeles.
Der ewig Suchende Isherwood, heimatlos und sinnsuchend, verweigerte in den USA den Wehrdienst, übersetzte die Bhagavad Gita (zentrale Schrift des Hinduismus), wurde Mönch, Drehbuchautor, Bohemian der Kalifornischen Szene und schließlich Literaturprofessor. Seine langjährigen homosexuellen Partnerschaften mündeten in sein besonderes Engagement für die „US-Gay-Rights-Bewegung“ der 80er Jahre. Seine Verbindung mit dem 30 Jahre jüngeren Don Bachardy wurde zur Ikone der schwul-lesbischen Bewegung.
Mitdenken beim Erleben
All diese Dinge muss man wissen, wenn man Cabaret angemessen würdigen und „konsumieren“, sprich verstehen möchte. Die Hintergründe der zunehmenden Einschränkungen schon in der Zeit ab 1933 bis 1939 (mit Ausnahme der Olympischen Spiele 1936) waren erlebbar, vorhersehbar und verschriftlicht im Pamphlet des Hauptagitators und Diktators im NS-Regime.
Im Mittelpunkt steht dabei natürlich die zunehmende Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich Vernichtung allen jüdischen Lebens aus der deutschen Gesellschaft. Auch dies ein Erleben, das uns heute erneut und dramatisch umgibt und in Teilen unserer Gesellschaft wohl wieder salonfähig erscheint. Insofern ist das Musical nicht nur ästhetisch zeitlos, sondern hochaktuell und brisant. Die ehedem treibende Kraft der Blut- und Bodentheorie wird heute durch eine Überfremdungsphilosophie ersetzt, die auf alle Menschen mit Migrationshintergrund pauschal übertragen wird.
Die Fragen, die sich in Cabaret stellen, berühren uns alle: Zivilcourage gegenüber Minderheiten und Ausgegrenzten, Erkennen und Durchkreuzen extremer politischer Strömungen, kritisches Überdenken eigener vorurteilsbasierter Einstellungen, Durchschauen des Glamours als das, was es ist: Fassade!
In den Dialogtexten von Fred Ebb schimmern die Themen der damaligen Zeit auf und in unsere heutige Zeit bedeutsam durch: Arbeitslosigkeit, Inflation, Reparationszahlungen, Abgrenzung nach außen, Abschottung nach innen, Sprachkurse für Zugewanderte, Korruption und Verbrechen, Deutschtümelei, u.v.m. Brandaktuell das alles!
Verneigung vor den musikalischen Pionieren
Kanders Musik ist eine Hommage an die Zeit des Ragtime, des Charleston, des Quickstep und Foxtrott, des Swing und Dixieland und des aufkommenden frühen Jazz. Ihr mitreißender Charme macht naturgemäß den Hauptanteil des Erfolges aus. Im Geiste hat man die Musik-Heroen dieser Zeit vor Augen: Josephine Baker, Louis Armstrong, Benny Goodman, Maurice Chevalier, Duke Ellington, Fred Astaire, Count Basie und (ja!) auch George Gershwin. Sie alle gehörten zu den zentralen Figuren, die dem Lebensgefühl von Weltvergessenheit, Aufbruch in die Moderne und legerem Lebensstil musikalisch frönten. In Deutschland waren das Marlene Dietrich und vor allem die Comedian Harmonists, die ja bekanntermaßen ebenfalls der braunen Kulturpolitik als „entartet“ zum Opfer fielen.
Die o.a. Brechungen in der Liebesgeschichte im Tollhaus Berlin der 20er Jahre sind indes auch in den weniger schmissigen Revuesongs und -szenen spürbar, wenn die mal träumerischen, mal melancholischen, mal resignierenden Stimmungen der Agierenden reflektiert werden.
Fast folgerichtig erhielt das Werk (UA New York 1966, EEA London 1968) 1967 den Tony Award für das beste Musical, den besten Komponisten und beste Regie; und es wurde kurze Zeit später weltweit bekannt durch die Verfilmung mit Liza Minelli als Sally Bowles (1972). Bei der Oscar-Verleihung 1973 gewann der Film gleich acht Oscars und gilt bei vielen als eine der besten Musical-Verfilmungen. Für die Verfilmung wurden einzelne Titel zusätzlich geschrieben, die wegen ihrer Popularität auch oft Eingang in Bühnenproduktionen finden: „May be this time“ und „Money, Money“.
Interessant zu wissen, dass in der Uraufführung das Fräulein Schneider von keiner Geringeren gespielt wurde als von der großen Lotte Lenya (Ehefrau von Kurt Weill). In der britischen Erstaufführung sang Dame Judy Dench („M“ in James Bond, Shakespeare in Love) die Sally Bowles.
Life is a Cabaret
Die Geschichte der Nachtclubtänzerin und -diseuse Sally und des amerikanischen Autors Cliff, die zum Liebespaar werden, sowie der glitzernden Scheinwelt der Berliner Varietés der 20er Jahre wird flankiert von der sehr viel stärkeren und tatsächlich außerordentlich berührenden Erzählung des älteren Liebespaares: Fräulein Schneider und der jüdische Obsthändler Herrn Schulz. Die aufkommende Rassenideologie der Nazi-Diktatur macht die Verbindung der beiden Paare unmöglich. Cliff wird, weil er sich dem System verweigert, zusammengeschlagen und verlässt Deutschland („Leb wohl, Berlin“) wie sein geistiger Vater gen USA, das Schicksal von Herrn Schulz können wir am Ende erahnen. Dass das Ganze im Umfeld des Künstlermilieus stattfindet, ist wie vieles an Angepasstem und Mitläufertum der zwölf braunen Jahre signifikant für fehlende Zivilcourage und politische Opposition.
Auf der Strecke blieben die Stauffenbergs und Scholls, die Bonhoeffers und Kolbes, aber auch viele derjenigen, die sich zu emigrieren trauten, jene, die alles halb so schlimm fanden oder alle, die nicht mehr rechtzeitig eine Fähre oder einen Flug von „Casablanca“ fanden.
Zurück blieben die Gründgens, Ratzewills, Riefenstahls, Rühmanns, Albers, Leanders, Rökks, Strauss, Orffs und Pfitzners, die sich anpassten und so zu Unterstützern des Systems wurden; die es gar in die „Gottbegnadetenliste“ schafften! Was für ein „Ruhm“ dieser willigen Helfer!
Wer arisch war und dennoch erkennbar nicht kollaborierte, wurde eingesperrt, mundtot gemacht, verlor Position, Rang und Arbeit, ging in die innere Emigration. In diesem Zusammenhang gilt es, auf die epochale Tat der Oldenburger Opernerstaufführung der „Vögel“ des von den Nazis mundtot gemachten Walter Braunfels hinzuweisen (im Januar 2025).
Epilog
Angesichts von derzeit (wieder einmal) heiß diskutiertem Parteiverbot für Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums, zunehmender Radikalisierung und Polarisierung, Dogmatismus und Ideologien von links und rechts, Fakenews von diesseits und jenseits aller Ozeane erhält die Oldenburger Inszenierung und jede weitere Deutung gerade dieses Werkes an deutschen Theatern eine fast sendungsvolle und aufrüttelnde Funktion. Man möchte das Werk derzeit gerne als Pflichtlektüre den Intendanten ins Stammbuch schreiben.
Die geniale Glitzermusik von Kander wirkt angesichts der erschütternden Schicksale der Protagonisten von Cabaret wie ein mahnender Katalysator, der uns den Widerspruch zwischen blindem Konsum und dämmernden (politischen, ökologischen und ökonomischen) Katastrophen akustisch unter die Nase reibt. „Money, Money, Money…“ alleine macht eben nicht „the world go around…“. Vielmehr sind es die mitfühlenden Menschen, die toleranten Gesellschaften, die auf Kompromiss und Dialog ausgerichteten Nationen, die eine Zukunft besitzen (sollten).
Diese zunehmend aufgeheizte und auf hoher Temperatur verbleibende Grundstimmung in unserem Land bei gleichzeitiger Verweigerung von Dialog und Respekt vor ehedem gültigen demokratischen Gepflogenheiten spiegelt sich auch im höchsten deutschen Parlament wider. Bärbel Bas, die Präsidentin des Bundestages, verkündete vor kurzem, dass die Anzahl von Ordnungsrufen einen neuen Höchststand verzeichnet: Von 110 in der laufenden Legislaturperiode erteilten Maßregelungen entfallen 72 auf die blaue Rechtsaußenpartei, die nachweislich mit allen Mitteln versucht, den Parlamentarismus zu stören oder lächerlich zu machen. "Ordnungsrufe", so Bas, "werden als Trophäen betrachtet!"
Vor dem Hintergrund der aktuellen Wahlergebnisse bei den jüngsten Landtagswahlen im Osten unserer Republik tut es erkennbar gut, zu lesen, dass Cabaret an den folgenden Häusern im laufenden und kommenden Jahr gespielt wird (in Klammern die Anzahl der geplanten Aufführungen und Wiederaufnahmenlaut der Bühnenplattform „operabase“): Bad Elster (5), Berlin (52+15), Bielefeld (5), Chemnitz (7+13), Dresden (12), Köln (8), Neustrelitz (19), Radebeul (7), Rostock (2), Schwerin (8), Stuttgart (12), Weimar (4), Wien (7). Chapeau!
Die Massierung von Premieren vor allem im ostdeutschen Raum lässt hoffen. Zu wünschen ist diesen Häusern ein starkes Rückgrat bei mutigen Inszenierungen, viel Zuspruch aus dem Publikum und eine sehr späte „Dernière“
Die IOCO Rezension zu CABARET in Oldenburg folgt in Kürze!!