SONJAS ERINNERUNGEN - Roman von IOCO Autor HG Melchior, IOCO Buchbesprechung, 16.11.2021
SONJAS ERINNERUNGEN - Roman von HG Melchior
IOCO Autor
- erregtes Bild einer jungen Frau in einer erregten jungen BRD -
12,95 €- AMAZON - ASIN : B09JRD7JC5
Besprechung von A. Schneider
Wenn hier reißerisch geschrieben stünde, dass dieser Roman in bisweilen brutaler Manier ein Stück aus der Pubertät der BRD erzähle, so würde ihm diese Behauptung nicht so ganz gerecht. Finden sich darin doch durchaus Passagen, in denen seine Figuren sich vor Schicksalsschlägen nicht wegducken müssen.
Zentral für den ersten Teil des Buchs ist eine Frau von der Schönheit einer Venus und mit Gefühlen so kalt wie der Marmor derer von Milo. Für Carmen Klehr sind Männer lediglich Einkommensquellen, die ihre Liebesdienste üppigst zu honorieren haben, bis sie gefeuert werden oder das ihr Verfallensein in seelischen und finanziellen Bankrott mündet. Eine einmalige Kopulation mit einem nicht identifizierten Fremdling bewegt diese nunmehr schwangere, die bürgerliche Moral im Grunde geringschätzende Frau schleunigst dazu, sich dem Kanon der Moralisten mittels einer Eheschließung zu fügen. Sie trifft mit Georg Klehr auf einen jungen Mann, der zwar dem Krieg zu seinem Metier tauglich erschien, der ihn aber 1945 untauglich zum Leben entlässt, und der schließlich ein kleines Lokal betreibt. Ihn gewinnt die gravide Dame mühelos für eine Josefsehe, sodass ihre Tochter Sonja als legitimes Kind geboren wird. Hernach kommt das Ehepaar zu ziemlichem Wohlstand, indem sie ein Vielsternehotel mit integriertem Feudalbordell eröffnen, worin sich betuchte Eheleute einlogieren, damit der Gatte sich der Talente der Luxushure Carmen bedienen darf, währenddessen die Gattin in Ruhe gelassen Champagner schlürft. Papa Klehr indessen besorgt Hotel und Ökonomie. Nachdem in der Herrschaftsherberge wie auch außerhalb viel Mörderisches geschieht, sind die materielle Existenz und die der Antifamilie ruiniert, die nunmehr fast erwachsenen Tochter vermag dieser Sphäre der Dekadenz zu entkommen. Sie hat dort gelernt, wie das Sein nicht sein sollte.
Im ersten Teil des Romans malt der Autor das Portrait einer vom Wirtschaftswunder bereits leicht angefaulten Fünfzigerjahresippschaft inmitten einer jungen, nicht zuletzt aus dem Geist des Kapitalismus geborenen BRD.
Im zweiten Teil des Buchs demonstriert eine in München Jurisprudenz studierende Sonja mit der Achtundsechziger Generation wider das gerade verlassene gutbürgerliche (?) Milieu, was ihr nicht zuträglich ist. Drogen- und alkoholabhängig endet sie schlussendlich in der Psychiatrie. Doch mit Beistand ihres vermögenden Mentors Burkhard gesundet, schafft sie das Studium und hernach sich selbst in den gehobenen Stand einer Rechtsanwältin.
Sonja erzählt – unter gelegentlicher Mithilfe eines fiktiven Autors – von ihrem Leben aus drei Perspektiven: der des Mädchen, der Frau in den besten Jahren und der zur Ruhe gekommenen alten Dame. Das lässt sich auch lesen als ein exzeptionelles Stück Historie unserer Republik, und wessen Geistes Kinder manche ihrer Bauherren gewesen sind.
Im Abgesang des Romans hat der Vater sich umgebracht, irgendwo stirbt die Femme fatale Carmen Klehr, von Sizilien nach Deutschland zurückgekehrt und vom Alter gezeichnet unbeweint, die Tochter heiratet ihren Mentor und bringt es zur Inhaberin eines Anwalt- Wirtschaftsprüferkombinats. Die endgültige Kapitulation einer abgedankten Hotelsalonrevolutionärin vor dem kapitalen wie kapitalistischen Gegner erscheint wie die Vorwegnahme der Vereinigung zweier Deutschlands, wobei die DDR, der magere Teil der beiden, von der fetten BRD verschluckt wird.
Nach den mannigfachen Desastern schließt der packende, nicht selten erschütternde Roman mit einer friedvollen Coda in Dur und ohne jede Dissonanz. Eine fast friedliche Resignation ist die Grundstimmung des Endes. Erweisen sich die Verhältnisse wirklich als kaum veränderbar, kehren sie wirklich zum Anfang zurück? Große Literatur ist halt rätselhaft.
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