Salzburg, Felsenreitschule, AIDA - Giuseppe Verdi
Bühnenbildner Stephan Prattes schafft auf der Bühne zwei Räume, die entweder eine reale und eine virtuelle, oder eine individuelle und eine kollektive Welt repräsentieren.
von Getong Feng
Wer möchte nicht alle seine Sorgen in der realen Welt vergessen und sich in eine Fantasiewelt am Nil flüchten? Radamès will das jeden Tag. In dieser im Dezember 2023 in der Felsenreitschule von Salzburg bespielten Inszenierung von Andreas Gergen war Radamès ein Manager im Unternehmen seines Schwiegervaters.
Um dem enormen Arbeitsdruck und dem Eheleben mit seiner Frau Amneris zu entkommen, holte Radamès, nachdem seine Frau jeden Tag ins Bett ging, dort das Virtual-Reality-Spiel Aida unter dem Bett hervor und begann seine virtuelle Reise nach Ägypten. Dort war seine Frau Prinzessin von Pharao, sein Schwiegervater Pharao und er selbst ein ägyptischer Held. Er verliebte sich in eine ideale und virtuelle Figur namens Aida, die gefangene äthiopische Prinzessin im Spiel. Radamès träumte davon, seine Geliebte Aida durch einen Sieg zu befreien und sie in der virtuellen Welt zu heiraten. Nach und nach verschwammen die Grenzen zwischen Realität und Virtualität. In dem Spiel, wo sich Zeit und Raum von realen und virtuellen Welten kreuzen, starb Radamès glücklich vereint mit seiner Geliebten Aida; in der realen Welt war er süchtig nach diesem Videospiel und wurde schließlich von seiner Frau verlassen.
Bühnenbildner Stephan Prattes schafft auf der Bühne zwei Räume, die entweder eine reale und eine virtuelle, oder eine individuelle und eine kollektive Welt repräsentieren. Er verwirklicht die Idee von Regisseur Andreas Gergen, indem er eine hebbare Kiste auf der Bühne schaffst. Entweder wird die Kiste das „Schlafzimmer von Radamès und Amneris“ als Miniatur der realen Welt und die Bühne selbst wird als virtuelle Welt genutzt, oder die Kiste repräsentiert das Leben von Radamès und Amneris (Individualität) und die Bühne als Büro im Alltagsleben oder Schlachtfeld im Spiel (Kollektivität). Am Ende des vierten Aktes wird diese Kiste zum Grab von Radamès und Aida. Als Aida dieses Grab betritt, wird die Grenze zwischen Realität und virtueller Welt völlig durchbrochen.
Wenn Zeit und Raum verschmelzen, beginnt das Duett „O Terra, Addio“ in der Felsenreitschule. Zum Triumphmarsch wird eine aufblasbare weiße Riesenfigur gezeigt. Irgendwann fallen rote Stoffbahnen vom Bühnenhimmel. Persönlich verstand ich nicht, wie man in diesem Kontext die Beziehung zwischen dieser Riesenfigur, den Protagonisten und dem VR-Spiel verstehen soll. Sollen die roten Stoffbahnen blutige Trauer symbolisieren? Was soll diese Riesenfigur andeuten?
Interessanterweise fügt die traurige Liebesgeschichte Aida durch zahlreiche aus Videospielen ausgeliehte Elemente einige Humor- und Comedy-Effekte hinzu, was die Oper Aida zu einem satirischen modernen Musiktheater über die Sucht nach einem Videospiel macht. Am beeindruckendsten ist die Wiederherstellung der Details von einem VR-Spiel im Opera-Videodesign bei Videodesigner Andreas Ivancsics. Während der Ouvertüre und des Intermezzos zeigte der Bildschirm an der Wand von der Kiste “Loading” an, in der Pause pausierte auch das Spiel, und wenn Radamès die Arie „Celeste Aida“ sang, zeigte das Video Aida als Spielfigur. Aida hatte Stärke (STR), Intelligenz (INT), Beweglichkeit (DEX) usw. und verfügte über einen leuchtenden „magischen Ring“, der ewige Liebe darstellte. Darüber hinaus entsprachen auch die futuristischen, körperbetonten Kostümentwürfe für die Szene in der virtuellen Welt dank Kostümbildnerin Aleksandra Kica dem Stil eines Videospiels. Aida hat rotes Haar, sie trug eine Kampfuniform, einen Lederrock, Stiefel und eine Pistole an der Taille. Sie war eine tapfere Kriegerin; Radamès trug eine silberfarbige Rüstung. Sein Schwert ähnelte dem Lichtschwert aus dem Film „Star Wars“. Amneris trug ein schwarzes Kleid und sah sehr charmant aus. Am Ende der Oper wurde der spielsüchtige Held im wirklichen Leben von Amneris verlassen. Amneris errang den Endsieg. Sie trug einen Trenchcoat, eine schwarze Sonnenbrille und ging mit einem Koffer davon. Dies ist eine neue Interpretation des Regisseurs vom Frauenbild in Aida.
Die ausgezeichneten Opernsänger brachten ein gesanglich und schauspielerisch unbestritten hohes Niveau in dieser Produktion hervor. Die Sopranistin Christiana Oliviera als Aida verfügte über eine weiche und ausdrucksstarke Stimme; die Mezzosopranistin Julia Rutiglian zog das Publikum mit ihrer wunderschönen Stimme an, während sie auch darstellerisch die charmante Rolle Amneris erfolgreich darstellte. Milen Bozhkov als Radames gewann den Applaus des Publikums mit seiner vielschichtigen Stimme, während er die Angst, Frustration und Hilflosigkeit des Protagonisten in der realen Welt sowie seine Liebe und seinen Heldenmut in der Spielwelt darstellte. Erwähnenswert ist auch das wunderbare Mozarteumorchester Salzburg unter der Leitung von Leslie Suganandarajah. Reginaldo Oliveira, Tanzdirektor und Choreograph des Balletts des Salzburger Landestheaters, bereicherte das Programm mit zeitgenössischem Tanz.
Für den Protagonisten Radamès führt die Abhängigkeit vom VR-Spiel und von künstlicher Intelligenz dazu, dass er in der virtuellen Welt tief in Aida verliebt ist. Das VR-Spiel ist ein zweischneidiges Schwert, es kann ein spiritueller Zufluchtsort sein, aber es kann auch zum Tod in der Spielwelt und zum Ende der Ehen im wirklichen Leben führen. Mit dieser Inszenierung vermittelt uns der Regisseur die Botschaft, dass künstliche Intelligenz auch Teil der menschlichen Natur ist. Künstliche Intelligenz, als Produkt der menschlichen Intelligenz, könnte die Möglichkeit haben, Menschen zu verstehen und sogar Teil menschlicher Gedanken zu werden.
Wohin wird unser Leben geführt, wenn die Grenze zwischen der durch künstliche Intelligenz geschaffenen virtuellen Welt und der realen Welt zunehmend verschwimmt? In der virtuellen Welt blenden wir unsere Wahrnehmung der realen Welt aus und erleben Liebe, Erfolg, Trauer, Verrat, Wut und sogar den Tod intensiver. Ist diese Art von Liebe sogar reiner? Ist es möglich, dass solche Gefühle über das Nichts hinausgehen und eine realere Realität werden? Es stellt sich die Frage, ob das VR-Spiel eine Gefahr sein, wenn man in die virtuelle Welt eintaucht, um den Schwierigkeiten im wirklichen Leben zu entkommen. In dieser Salzburger Operninszenierung gelang es dem Regisseur, den Verbindungspunkt zwischen Aida und der heutigen Gesellschaft zu finden. Er macht die Oper zeigenössisch, sodass sich das Publikum in dieser Inszenierung versetzen konnte. Er regt zum Nachdenken über die menschliche Natur an. Die menschliche Natur ist in Opern ein immer wiederkehrendes Thema. Die Tragödie stellt die Schönheit der menschlichen Natur in den Vordergrund, während die Komödie die Schwächen der menschlichen Natur zeigt.
Wir erleben beides in dieser Oper, und erleben 152 Jahre nach der Uraufführung 1871 im Khedivial-Opernhaus von Kairo, wie die Oper AIDA auch heute das Publikum mit seinem kraftvoll musikalischem und dramatischem Charme begeistert.
Getong Feng, Autorin dieser Rezension, ist die Doktorandin an der Ludwig-Maximilians Universität im Fach im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunk Opernlibretti und besucht die Vorlesungsreihe WS 23/24 «Die zeitgenössische Oper: Topoi, Artefakte, Perspektiven» von Professorin Adelina Yefimenko
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