SAKRALES IM PROFANEN - Aufführungstradition sakraler Werke, IOCO Essay
Aufführungspraxis SAKRALER WERKE: Beginnend mit späten oratorischen Werken Haydns über Mendelssohns bis hin zu Messen, Requien und Handlungsoratorien übriger europäischer Komponisten. Gipfelpunkt dieser Entwicklung ist die bedeutsame Messa da Requiem von Giuseppe Verdi aus dem Jahr 1874 ....
Oratorische Werke u.a. von Bach, Haydn, Händel, Mendelssohn, Verdi - Gedanken zu Veränderungen in den Aufführungstraditionen sakraler Gattungen
von Thomas Honickel
An der Wende zum 19. Jahrhundert wandelte sich das Klima in Sachen Kirchenmusik gänzlich: Die Aufführungsbedingungen, die Orte der Präsentationen, die Zusammenstellung der Ausführenden und die Ziel-gruppe im Auditorium. Beginnend mit den späten oratorischen Werken Haydns über diejenigen Mendelssohns bis hin zu Messen, Requien und Handlungsoratorien übriger europäischer Komponisten. Einer der Gipfel-punkte dieser Entwicklung war und ist bis heute die bedeutsame Messa da Requiem des Operngranden Giuseppe Verdi aus dem Jahr 1874.
Ein Blick zurück
Die Frage, ob sakral disponierte und spirituell intendierte Werke in den Sakralraum gehören, spaltet bis heute; und sie führt zwangsläufig zu einem Lagerdenken mit teils missionarischem Anspruch, teils radikalem Ansinnen. Bis ins Heute stellt sich stets aufs Neue die Frage: Konzertsaal oder Kirchenraum, Theater oder Dom, Stadthalle oder Kathedrale?
Die Situation bis in Mozarts späte Zeiten war da noch eindeutig. Alles, was irgendwie liturgisch oder zeremoniell im Religiösen verortet war, hatte seinen originären Aufführungsraum unter dem Dach der Kirche.
Nicht wenige Ausnahmen stellen szenische Werke mit religiösem Hintergrund etwa Händels dar (Saul, Salomon, Judas Maccabäus, Belshazzar, Jephta u.v.m.), in denen biblische Figuren dramatisiert und so zu Bühnenfiguren wurden. Umgekehrt gab es das eine oder andere rein instrumentale Werk religiöser Bestimmung, das den Weg in den Konzertsaal fand (Schumann Die Prozession, 4. Satz der 3. Sinfonie Rheinische, Respighis Rom-Erzählungen in der Pinien-Trilogie, Debussy Prélude La cathedral engloutie, Messiaen Apparation de l´Église éternelle). Auch hier könnte man man gerade bis in unsere Tage noch mannigfach fündig werden; etwa auch in den durchweg spirituell motivierten Werken des Esten Arvo Pärt.
Ansonsten waren die „Fronten“ klar abgesteckt: Mein Tanzbereich – dein Tanzbereich; hier die kontemplativen Orte, wo das Sakrale beheimatet war, dort die profanen Kultstätten, wo Szenisches oder Konzertantes seinen Ort fand.
Letzteres hatte bis in die frühe Zeit Beethovens kaum adäquate Orte. Wenn die kunstliebenden Fürsten nicht ihre Residenzen dafür hergaben, musste man sich freie Marktplätze suchen (Mozart), ins Kaffeehaus gehen (Bach) oder in die Natur (Schubert).
Das änderte sich nach den Revolutionen in Mitteleuropa rasant. Kultur, zumal die weltlich disponierte, wurde zunehmend größeren Volksgruppen zugänglich. Ausdruck dieser neuen Emanzipation der musikbegeisterten Bevölkerungen wurden eigens dafür erbaute Konzertsäle, Stadthallen, Kulturhäuser unterschiedlichster Bestimmung und vieles mehr. Zielgruppen waren nicht mehr Adel, reiche Bürgerschaft und Führungs-eliten, sondern es entstanden mehr und mehr riesige Foren für breiteste Schichten, die begeistert das Musische inhalierten.
Parallel etablierten sich, auch dies ein Ausfluss gleichermaßen der liberté wie der égalité, frisch gegründete, gemischt geschlechtliche Singgemeinschaften, freie Chöre (mit teils riesigen Mitgliederzahlen), neue Genres wie reine Frauen- oder Männerchöre, für die vor allem die Früh- und Hochromantiker begeistert komponierten und reißende Abnehmer fanden. Noch heute gibt es Laienchöre und -orchester, die den Beginn ihrer Vita in dieser Zeit nachweisen können. Da wurde klar, welch Hunger nach Musik sich jetzt breit machen konnte.
Gottesdienst im Konzertsaal
Der Beginn der zunehmenden Säkularisierung hat hier seine Wurzeln. Nicht mehr länger war nur der sakrale Raum Ort der spirituellen Erfahrung als Individuum und als Kollektiv. Man ging zwar noch brav zur katholischen Sonntagsmesse und in den evangelischen Gottesdienst; aber in den zunehmend größer werdenden freien Zeiten, von Freizeit war man noch entfernt, traf man sich mit Gleichgesinnten, generationsübergreifend und neugierig in Chören: Von der prominenten Berliner Singakademie bis zu den überall aus dem Boden sprießenden Schubert-Bünden.
Folgerichtig musste nun auch Literatur her. Im Zuge des Historismus entdeckte man im Katholischen Palestrina wieder, im Protestantischen war es die heroische Tat Felix Mendelssohns, mit Bachs Matthäus-passion über 100 Jahre nach deren Uraufführung ein barockes Juwel wieder ans Tageslicht gebracht zu haben. Dieses Ereignis wurde zur Initialzündung für Komponisten in ganz Mitteleuropa!
Dass es bei der Reanimierung Alter Musik nicht bleiben konnte und sollte, zeigte sich früh an Haydns Jahreszeiten und seiner Schöpfung, die allemal populärer wurden als seine nicht gering zu schätzenden Messen. Beethoven folgte mit diversen weltlichen und geistlichen Kantaten (Meeresstille, Der glorreiche Augenblick, Christus am Ölberg), die allesamt in weltlichen Räumen ihre erste Aufführung erfuhren, und seiner epochalen, weil den liturgischen Rahmen vollends sprengenden Missa solemnis op. 123 (1823), die in der Philharmonischen Gesellschaft Sankt Petersburg das musikalische Licht der Welt erblickte.
Mendelssohn erweckte das Handlungsoratorium zu neuem Leben durch seinen Paulus und den späten Elias. Ersterer wurde von dem wie oben beschrieben, frisch gegründeten Frankfurter Cäcilien-Verein (1818) in Auftrag gegeben und beim Niederrheinischen Musikfest 1836 uraufgeführt; in der bis heute existenten Tonhalle Düsseldorf. Und auch dessen englische Erstaufführung fand während des Birmingham Triennal Musical Festival statt. Beim Elias war es nicht anders: Beim letztgenannten Festival gab es die englische Uraufführung, kurz darauf und wenige Wochen nach des Komponisten Tod die deutsche Erstaufführung durch seine Singakademie zu Berlin, wo er gemeinsam mit seiner großen Schwester Fanny den Chorgesang als Kind kennen und lieben gelernt hatte.
Aneignung des Religiösen im profanen Raum
Ähnlich ging es mit Werken vieler weiterer Komponisten aus Deutschland, Frankreich, Österreich, England weiter, deren choristische Großunternehmen (Oratorien, Messen, weltliche Kantaten, geistliche Opera, Werke über den Text zum Te Deum und Stabat Mater-Vertonungen) häufig in profanen Räumlichkeiten erstmals und lange Zeit erklangen. Am wenigsten stark war dieser Trend in den mediterranen, romanischen Ländern Frankreich, Italien und Spanien, wenngleich auch dort gesellschaftliche Entwicklungen sich Bahn brachen, die zeitversetzt zu ähnlichen Tendenzen führten.
Hintergrund dieser Profanisierung sakral disponierter Werke war auch der Umstand, dass sich die Meister keine Fesseln mehr anlegen ließen, was Länge und Besetzung, Schwierigkeitsgrad und Freiheiten bei der Zusammenstellung und Kompilation von Texten betraf. Schubert vertonte in keiner seiner Messen das et in unam sanctam catholicam, was einem Sakrileg gleichkam und folgerichtig den Ausschluss für Aufführungen im Kirchenraum zur Folge hatte. Die Chorgemeinschaften wurden dermaßen exorbitant groß und in der Folge ebenso die orchestralen Partituren, sodass selbst große Kirchenräume unter der Last der Ausführenden ächzen mussten.
Und: Was soll eine Messkomposition von knapp zweistündiger Dauer und gespickt mit Höchstschwierigkeiten im liturgischen Rahmen eines Gottesdienstes?
All das führte zu zweierlei: Musik im sakralen Raum wurde zunehmend seltener, und gleichzeitig explodierten Aufführungen in Serie an vielen Orten Europas, wo das Spirituelle im öffentlichen Raum verhandelt wurde. Das bürgerliche Konzertwesen war geboren. Anstelle eines Gottesdienstes ging man am Sonntag in den Konzertsaal, um einer musikalisch inspirierten Predigt zu lauschen. So wurde langsam aber stetig, und in jüngster Zeit angesichts sinkender Mitgliedszahlen beider Kirchen verstärkt, der Konzertsaal zu einer Art neuer spiritueller Insel.
Geistliches in der Oper
Ein besonderer Umstand der Durchlässigkeit von sakralen Themen in andere Lebensbereiche dürfte die in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende subversive Infiltration von Gegenständen, Geschichten, Personen und Orten aus dem religiösen Bereich in das Genre der Oper sein.
Immer wieder zuvor gab es solches Übergreifen in die spirituell-religiöse Sphäre schon in kleinen Szenen, in Nebenrollen oder mystischen Andeutungen. Man denke etwa an die Höllenfahrt von Mozarts Don Giovanni, die spirituellen, freimaurerisch inspirierten Teile der Zauberflöte oder nicht wenige Anteile im Freischütz, die Kirchenszene aus Gounods Faust, der Ostergottesdienst von Mascagnis Cavalleria rusticana, die Kirchenszenen aus Les Huguenots von Meyerbeer und Teile der selten gespielten Opern Der Evangelimann vom österreichischen Verismo-Grenzgänger Kienzl sowie Stiffelio aus Verdis früher Schaffensphase. Und selbstredend dessen Nabucco, der nur so strotzt vor religiöser Storyline mit Anleihen aus dem Alten Testament.
Im Anschluss an diese ersten kleineren, dennoch bedeutsamen Unterhöhlungen des Opernhaften durch sakrale Momente erkannten nicht wenige, dass die dramaturgische Kraft einer Liturgie, der religiösen Inszenierung etwa einer Prozession oder einfach nur die Orte des spirituellen Tuns (und Treibens) nachgerade ideale Szenerien und handlungstreibende Kraft besitzen, die danach rufen, ins Opernhafte gezogen zu werden.
Puccini war einer der Ersten, der das Potential sakraler Räume und der ihr innewohnenden Geschichten erkannte und nutzte. Man denke etwa an Tosca, wo weite Teile in einer Kirche spielen, darunter die herrliche Finalszene vor der Pause mit dem Te Deum als hymnisch-feierlichem Moment. Am Ende seines Schaffens widmet er sogar eine ganze Oper dem klösterlichen Leben mit dem Psychogramm Suor Angelica und hebt damit das Thema des Sakralen und seine Bedeutsamkeit für die in ihr agierenden Menschen nachdrücklich auf die Opernbühne. Wagners Parsifal ist ebenso ein abendfüllendes Opus mit durchgängig religiösem Inhalt wie Strauss Salome, Debussys Le Martyre de St. Sébastian, Saint- Saens mit Samson et Dalilah, Pfitzner mit seinem Palestrina so wie auch Francis Poulenc in den 60er Jahren mit seinen Dialogues des Carmélites nach dem Erfolgsroman von Gudrun von LeFort Die Letzte am Schafott, in der es als tragendes Motiv des Abends (nach einer wahren Begebenheit aus der franz. Revolution) um eben die beschriebenen Verwerfungen zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre in Gesellschaften geht. Brittens Kirchenparabeln berufen sich ebenfalls deutlich auf biblische Motive und Geschichten (Der verlorene Sohn, Die Jünglinge im Feuerofen).
Spätere Zeugnisse aus aktueller Zeit sind das Leben des Mahatma Ghandi in Glass Satyagraha und sein Echnaton oder Hindemiths Sancta Susanna und Mathis der Maler, ebenso Schönbergs Torso Moses und Aaron und das äußerst selten gespielte Opus Mord in der Kathedrale von Pizzetti, allesamt packende und tiefschürfende, häufig sehr kontrovers aufgenommene und politisch diskutierte Analysen von religiösen Themen; dazu noch szenische Umsetzungen von Bachs einziger Oper, der Matthäuspassion, oder die choreographierten Versionen von John Neumeier, etwas auch Händels Messiah. Auch Mendelssohns Elias eignet sich trefflich für eine szenische Umsetzung, wie jüngst das Oldenburger Haus eindrücklich unter Beweis stellte.
Alles quasi-religiöse Rahmen für dramaturgische Erzählungen. Die Opernbühnen werden durchlässig für Themen, die viele interessieren, die aber nicht mehr im ursächlich geplanten Raum realisiert werden.
Musik am Ende der Zeit – das Requiem
Im Rahmen der Emanzipation und Öffnung des Sakralen ins Öffentliche wurde selbst die sehr besondere, weil an den Grenzen des Lebens befindliche Totenmesse, das Requiem, zunehmend durch epochale Werke und besonders aufwändige sowie spektakulär-innovative Kompositionen aus der intimen Friedhofskapelle ins öffentliche Konzert gezogen. Da ging es nicht mehr um die katholische Drohgebärde in der berühmten Sequenz, sondern um eine profane Reflexion des memento mori, die der versammelten Hörerschaft die diversen Dies irae-Posaunen des Jüngsten Gerichts eindrücklich zuführte, um nicht zu sagen um die Ohren schlug mit Batterien an Schlagwerkern und Blechbläsern inklusive Fernorchester.
Mozarts bedeutendes Torso Missa pro defunctis (Messe für die Verstorbenen) fand zwar noch in Teilen in der Michaeliskirche zu Wien seine erste Aufführung, aber schon das komplette, von Süßmayr ergänzte Opus wurde durch Gottfried van Swieten, seinem ehemaligen Mäzen, 1793 in den Saal der Restauration Jahn verlegt: Ein Kaffeehaus!
Ähnlich, wenn auch nicht gänzlich vergleichbar, geschah es mit Johannes Brahms´ epochalem Deutschen Requiem, dem Werk eines protestan-tischen Künstlers: Uraufführung (als Torso) im Bremer Dom, vollständige Aufführung im Leipziger Gewandhaus (1869).
Was nun an Totenmessen kompositorisch folgte, war nicht mehr im sakralen Raum abbildbar, aufführbar und teilweise für die Geistlichkeit annehmbar. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, die sich tatsächlich der Urbestimmung zuwandten (etwa Fauré 1887 und Duruflé 1947), waren es eben die üppig besetzten, zeitlich ausufernden Werke, die dann in Konzerthallen und Akademien, Theatern und Palästen erstmals erklangen: Luigi Cherubini (1817), Hector Berlioz (1837), Antonin Dvorak (1890), Charles Stanford (1897), Camille Saint-Saens (1878), Joseph Gabriel Rheinberger und Max Reger (1915).
Spätere Ausläufer gibt es im 20. Jahrhundert: Das War Requiem von Benjamin Britten (1962), Krzysztof Penderecki (1993) mit seinem Polnischen Requiem oder das Requiem für einen jungen Dichter von Bernd Alois Zimmermann (1969) sowie als letzte prominente Werke die Requiem-Vertonungen von John Rutter (1985) und Andrew Lloyd Webber (1986). Viele der genannten Vertonungen haben eine ausgesprochen individuelle Widmung, eigentümliche Text-Kompilationen oder ein erinnerndes nationales Pathos in der Dedikation, die häufig von den Auftraggebern stammt.
Spätestens seit den zwölf chromatisch gestimmten Pauken aus der Grand Messe des Morts von Hector Berlioz waren besetzungsmäßig alle Dämme gebrochen; und die Tür stand für alle folgenden Konzeptionen, Ideen, Entwürfe und phantasievollen Planungen anderer Kollegen weit offen. So auch für den schon arrivierten Opernkomponisten Giuseppe Verdi.
Messa da Requiem / V.E.R.D.I. (1874)
Ein besonderer Fall mag an dieser Stelle ausführlicher zu Wort kommen. Mit der großangelegten Messa da Requiem schuf Verdi, damals schon arrivierter und international anerkannter Komponist, ein Werk, das durchaus auch politische Konnotationen trägt und welches sich ausgesprochen stark in der kompositorischen Lesart und dem durchgängig opernhaften Gestus von übrigen Kompositionen der Zeit absetzt. Verdi hatte bereits Erfahrung mit Text und Inhalt der Totenmesse, denn er hatte 1868 die zwölf bedeutendsten Komponisten seiner Zeit zu einer Gemeinschaftskomposition eingeladen. Anlass war der Tod Gioachino Rossinis, der in der Folge tatsächlich zur Messa per Rossini führte. Leider kam es nie zu einer Aufführung. (Erst weit über ein Jahrhundert später schaffte es Helmuth Rilling 1988 im Rahmen des Europäischen Musikfest Stuttgart zu einer Rehabilitierung des Werkes). Das Manuskript, zu dem Verdi selbst das finale Libera me, den Begräbnisgesang, beisteuerte, floss mit diesem Satz auch in seine eigene Requiem-Komposition ein.
Der Tod des von ihm so hochverehrten Dichters Alessandro Manzoni 1873 führte zu Verdis Offerte an die Vertreter der Stadt Mailand, diesem großen Dichter des Risorgimento (Wiedererstehung eines italienischen Nationalstaates im 19. Jahrhunderts) die Komposition einer Totenmesse am ersten Todestag zu widmen. Die Stadt nahm das Angebot dankbar an. Verdi, dem ebenso wie Manzoni eine große politische Nähe zur Wiedererrichtung eines italienischen Nationalstaates nachgesagt wurde, hatte ja mit seinem Erstlingswerk Nabucco den Freiheitswillen des italienischen Volkes einer Metapher gleich in eine zentrale Partitur gegossen. Man sang das Va, pensiero sull´alli dorate auf den Straßen als Hymne auf einen Staat Italien, der das Joch der Fremdherrschaft abschütteln wollte. An die Häuserwände schrieb man V.E.R.D.I., das nichts weniger bedeutete als Vittorio Emanuele Re d´Italia.
Tatsächlich gehört die Vertonung des Textes der Totenmesse zu den Werken der letzten späten Reifezeit des italienischen Meisters. Es folgten noch die Arrigio Boito Bühnenwerke mit Literaturbezug Simon Boccanegra, Don Carlos, Otello und als finaler Beitrag und Vermächtnis an die Gattung endlich auch mit Falstaff auch ein humorvolles Bühnenwerk.
Neben der Übernahme des Gioachini Rossini zugedachten Libera me gab es überdies die Totenklage auf Marquis Posa (aus der französischen Urfassung des Don Carlos), die Pate stand für sein Lacrimosa. Die Uraufführung fand am Todestag Manzonis (22. Mai 1874), anders als oben beschrieben und zu erwarten, in der Kirche St. Marco zu Mailand statt. Kurze Zeit später trat das Werk seinen europäischen Siegeszug an mit Paris, London, Wien, Köln, München und Dresden. Hier waren es fast stets Konzert- und Theaterhäuser, in denen das Werk präsentiert wurde. Von Anfang an, trotz der sakralen Realisierung der Uraufführung, war das Werk nie für den liturgischen Gebrauch, sondern alleine für den Konzertsaal konzipiert. Das Dictum, es handele sich bei der Messa da Requiem um Verdis beste Oper ist ein ironischer Hinweis auf den nicht-religiösen Menschen Verdi, welcher der Katholischen Kirche als Institution mehr als kritisch gegenüberstand.
Recht eigentlich darf man ihn wohl als gläubigen Agnostiker ansehen, der mit diesem Werk eher eine Totenmesse für die Lebenden schrieb; also eine Missa pro vivis.
Apropos
Hans von Bülow urteilte kurz und bündig und wenig kollegial: „Eine Oper im Kirchengewande!“
Eduard Hanslick, der äußerst kritische Musikschriftsteller dieser Zeit, bemängelte bei der ersten Aufführung in Wien die defizitäre Fugentechnik von Verdi und bezeichnete ihn als „Verderber des Kunstgeschmacks“.
Cosima und Richard Wagner konnten mit dieser Musik von jenseits der Alpen nichts anfangen, waren ratlos und, wie bei Wagners so oft so üblich, einigermaßen frech in dem Verdikt über das Werk. Cosima notierte in ihr Tagebuch: „Abends das Requiem von Verdi, worüber nicht zu sprechen entschieden das Beste ist“.
Verdi litt noch Jahre später unterm sehr speziellen Ruhm dieser Komposition und konnte sich nur mit größter Anstrengung gegen Aufführungen von Arrangements für Blaskapellen in Arenen durchsetzen. Seine Empörung war jedoch verständlich: Seine Musik spricht unmittelbar zum Menschen mit einer Wahrhaftigkeit des Ausdrucks und einer kompromisslosen Diktion von Klang und Klangrede. Sie biedert sich nicht an. Sie ist einfach.