Saint-Denis Paris, Salle de Legion d´Honneur, FESTIVAL DE SAINT-DENIS 2023 - Liederabend, IOCO Kritik, 23.06.2023
FESTIVAL DE SAINT-DENIS 2023, Paris
- LIEDERABEND - Die verbotene Frucht -
- Benjamin Appl, Bariton, James Baillieu, Klavier -
von Peter Michael Peters
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- FORBIDDEN FRUITS IM GARTEN EDEN…
- URLICHT
- O Röschen rot,
- Der Mensch liegt in größter Not,
- Der Mensch liegt in größter Pein,
- Je lieber möcht ich im Himmel sein.
- Da kam ich auf einen breiten Weg,
- Da kam ein Engelein und wollt mich abweisen,
- Ach nein ich ließ mich nicht abweisen.
- Ich bin von Gott und will zu Gott,
- Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben,
- Wird leuchten mir bis an das ewig selig Leben. (Auszug: Des Knaben Wunderhorn)
„Die verbotene Frucht…
… kennen wir alle und ich habe das Gefühl, dass sie viele Komponisten und Dichter inspiriert hat (…). Deshalb wollte ich daraus ein Programm machen, um die Vielfalt über die Jahrhunderte und über die Musikstile hinweg zu zeigen“, so Benjamin Appl am 9. Mai 2023 in einem Interview auf Radio Classique France. Eine Gelegenheit, den deutschen Sänger wieder zu finden, der uns in einem Konzert mit Werken von Gustav Mahler (1860-1911) in der Basilique Cathédrale Saint-Denis im Jahre 2019 sehr stark beeindruckt hatte. Begleitet wird er hier am Klavier von James Baillieu, einem südafrikanischen Pianisten, Gewinner renommierter internationaler Wettbewerbe für Melodie und Lied.
´Forbidden Fruits´- von Benjamin Appl und und James Baillieu youtube Alpha Clasics [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]
Ein sanfter Hauch vom verlorenen Paradies…
Der anonyme englische Folksong I Will Give My Love An Apple wurde im Laufe der Geschichte mehrmals adaptiert und neu komponiert von verschiedenen Komponisten, darunter auch Benjamin Britten (1913-1976). Es erzählt die große unerfüllte Liebe eines jungen Mannes zu einem hübschen Mädchen mit dem unausgesprochenen Namen: “E… und der Apfel?“ Gabriel Fauré (1845-1924) war tief betroffen vom Tod seiner Mutter, da auch gerade einige Jahre davor sein Vater verstorben war. Er komponierte in mehreren Abständen sein Requiem, Op. 48 (1892) und es wurde auch endgültig in der Église de la Madeleine uraufgeführt. In Paradisum für Solist und Chor: Ultimative Antiphon der Absolution. Der Angelismus des Sanctus taucht dort wieder auf, in einer bewegenden Melodie des Chors mit Solist und einer ekstatischen Vision des himmlischen Jerusalem: Einer ewigen seligen Nacht! Hier wird es in einer seltenen Version für Klavier interpretiert. Der englische Dichter und Komponist Ivor Gurney (1890-1937) wird allgemein als einer der größten Dichter-Kämpfer des Ersten Weltkriegs dargestellt. The Apple Orchard (1919) mit einem Text von Bliss Carman (1861-1929) erzählt auch wiederum äußerst unterschwellig die ewige Geschichte aus dem Paradies…
Aus dem Mythos geht hervor, dass der Dichter einen Flug verfolgt! Ist er Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), ist er Ganymed, G 50 (1889), oder ist er einer von uns, der sich für den Frühling in seiner vollen Verwunderung verliert und den Ruf der Natur wahrnimmt, bevor er erkennt, dass sein Wunsch der einer Verschmelzung mit diesem all-liebenden Vater ist: In dem Gott und die Natur verschmelzen? Wenn Prometheus, G 49 (1889) alles Aktion war, ist Ganymed alles Hingabe an eine Sensation. Göttliche und liebevolle Erfahrung mit einer angedeuteten erotischen Handlung, die Hugo Wolf (1860-1903) im Gegensatz zu Franz Schubert (1797-1828) hervorheben möchte. Wenn dieser, inspiriert von der ersten Strophe, eine einfache Hymne an den Frühling singt, so stellt sich Wolf einer der größten Herausforderungen in seiner Trilogie der Göttlichkeit (1889): Der Darstellung einer Flucht in die so sinnlichen Untertöne einen musikalischen Körper zu verleihen.
Mit einem der schönsten Liebesgedichte der deutschen Sprache eröffnet ein neuer Miniatur-Zyklus mit sechs Liebesliedern nach Gedichten des schwäbischen Pastor Eduard Möricke (1804-1875). Die heute Abend interpretierte Sonett An die Geliebte, M 32 (1888) wurde von Wolf komponiert und ist ein gewisser Moment von purer religiöser und auch gleichzeitiger sinnlicher Ekstase, und dazu in seinen marienhaften Bildern mit einer strahlenden Anbetungs-Haltung endend. Mit dem todtraurigen sinnlichen Lied Und willst du dein Liebsten sterben sehen, I 17 aus dem Italienisches Liederbuch (1896) enden wir mit diesem großen Lieder-Komponisten in unserer Reise durch das erahnte Paradies.
Youkali (1935), ist eine sehnsüchtige Melodie von dem deutsch-jüdischen Komponisten Kurt Weill (1900-1950) und mit einem noch sehnsüchtigeren Text von Roger Fernay (1905-1983) erzählt sie das Hoffen und Sehnen nach einem Land der Träume, nach einer nie gehabten Heimat, nach einer Welt die frei von Vorurteilen ist, von einem Paradies auf Erden: Indem jeder frei und gleich ist! Das aber leider bis heute noch nicht existiert!
Chansons gaillardes, FP 042 (1925/26) komponiert in der Euphorie der Nachkriegszeit, diese acht Melodien auf anonymen Texten aus dem 17. Jahrhundert vereinen auf gelungener Weise Strenge und Frechheit zugleich. Am 2. Mai 1926 beauftragte Francis Poulenc (1899-1963) einen fast unbekannten jungen Sänger, Pierre Bernac (1899-1979) diesen neuen Zyklus zu kreieren. Damit war der erste Meilenstein einer langen musikalischen Zusammenarbeit gelegt. Der erdige Text ist illustriert ohne das die Musik diese bröckligen Verse antastet. Eine der heute interpretierten Melodie hat einen naiven Charm, aber L’Offrande täuscht in ihrem wahren gallischen Charakter, indem sie laut ohne Vorwand zur sexuellen Ausschweifung ausruft und frevlerisch mit dem Gedanken der Entjungferung spielt. Das sehr schnelle Tempo macht die Interpretation und die Artikulation der zweiten Melodie Couplets bachiques äußerst fettig und auch sehr akrobatisch, aber laut Bernac muss Erdigkeit Vorrang vor stimmlicher Schönheit haben. Die letzte Melodie Le Serpent, FP 15b N° 1 (1919/44) in der Begleitung von Poulenc wurde aber erst später in Le Bestiaire ou Cortège d’Orphée (1918) nach Gedichten von Guillaume Apollinaire (1880-1918) hinzugefügt. Die berühmte Melodie À Chloris aus Vingt Mélodies 2. Teil (1900/21) von Reynaldo Hahn (1874-1947) nach einem Gedicht von Théophile de Viau (1590-1626) reiht sich auch in die Reihe der schönsten Liebeslieder ein.
Das unbekannte Paradies - Vielleicht ein Niemandsland ?
Das von Schubert vertonte Gedicht Das Rosenband wurde von Friedrich Gottlob Klopstock (1724-1803) zum Gedenken an seine Frau, die Dichterin Meta Moller (1728-1758) geschrieben, die auch unter dem Namen Cidli sang. Richard Strauss (1864-1949) realisiert ein musikalisches Juwel mit vielen sinnlichen Harmonien, bezaubernden Modulationen, schmeichelndem Klavier und herrlich entfaltenden Gesangslinien. Dieses Lied wurde noch im selben Jahr 1897 von ihm orchestriert. Der englische Komponist Roger Quilter (1877-1953) komponierte zu einem Gedicht von Alfred Tennyson (1809-1892 ) den Song Now Sleeps the Crimson Petal (1904). Es ähnelt einem Sonett, da es vierzehn jambische Zeilen hat, außer dass Wort „ich“ wird am Ende der Schlüsselzeilen alles wiederholt und es folgt auch nicht wie bei William Shakespeare (1564-1616) – noch bei Francesco Petrarca (1304-1374) die typischen Sonett-Formationen. Das Gedicht wurde mehrmals vertont, unter anderem auch von Britten. Die Melodie La Chevelure, recht langsam, überaus ausdrucksstark und auch äußerst leidenschaftlich konzentriert: Erinnert auch sehr viel an die sensuelle Haarszene aus Pelléas et Melisande (1902). Mit einer derart starken Intensität und Kraft, die auch an das Chanson perpétuelle (1898) von Ernest Chausson (1855-1899) erinnert und gleichzeitig an die morbide Erotik der Jahrhundertwende mit seinem außergewöhnlichen sensuellen Ausdruck. Pierre Louÿs‘ (1870-1925) Dichtung ist wohl angelehnt an eine altgriechische Textvorlage, es spielt aber sicher auch die Ablehnung der restriktiven Pariser Moralvorstellungen der Epoche und seine Suche nach einer sexuell befreiten Alternative eine große Rolle. Diese Melodie von Claude Debussy (1862-1918) wurde mit zwei anderen raffinierten Melodien nach den Gedichten von Louÿs unter dem berühmten Titel Trois Chansons de Bilitis (1897/98) veröffentlicht. Für Debussy war es von essentieller Bedeutung, dass die Premiere dieses Werkes von einer jungfräulichen Sängerin übernommen wurde. Der Wiener Arnold Schönberg (1874-1951) adaptierte einen erotischen Text von Emanuel Schikaneder (1751-1812) für des Berliner Brettl Kabarett in seinem Spiegel von Arcadia mit dem sulfurösen Titel Seit dem ich so viele Weiber sah, Brettl-Lied N° 8 (1901). Auch Edvard Grieg (1843-1907) hat sich in die Reihe der „Paradiesvögel“ eingereiht mit einem neckischen frivolen Text von Otto Benzon (1856-1927), indem ein Engel sich eher als Teufel entpuppt: Das Lied To a devil, EG 154 (1900) ist ein pikantes Beispiel für das Thema Eva im Paradies mit Apfel aber ohne Schlange… hier wird auf humoristische Weise die Konsequenzen des Sündenfall verharmlost. Natürlich darf auch nicht eine richtige sentimentale und schmalzige Klamotte fehlen, im Paradies sind ja alle gleich und sie sind jaaa sooo tolerante (?). Der weltweit bekannte Schlager interpretiert in allen Sprachen Schöner Gigolo, armer Gigolo… (1929) von Leonello Casucci (1885-1975) mit dem Text von Julius Brammer (1877-1943). Die oben genannte deutsche Originalversion von Just a Gigolo beschreibt den nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich vermeintlichen gesellschaftlichen Sittenverfall: Ein ehemaliger Husar muss nun sein Geld als käuflicher Tänzer verdienen. O la la…
Das paradiesische Jammertal auf Erden…
Lorelei (1843) von Clara Schumann (1819-1896) ist ein im Volksliedton gehaltenes Lied, natürlich nach einem Gedicht von Heinrich Heine (1797-1856). Aber wir würden sagen, ohne das wir die großen Talente von Frau Schumann bezweifeln, das ihre Vertonung doch unter einem gewaltigen Schatten verbleicht und verschwindet: Die Loreley, S 273 (1841) von Franz Liszt (1811-1886). Die äußerst talentierte jung verstorbene Fanny Mendelssohn (1805-1847) hat einige wunderschöne Lieder-Zyklen hinterlassen, darunter auch das Lied Die Nonne, Op. 9, N° 12 (1822) nach einem Gedicht von Ludwig Uhland (1787-1862). Es erzählt die unterschwelligen und unterdrückten sensuellen Gedanken eines jungen Mädchen in Nonnenkleidung hinter dicken Klostermauern: Der sensible Dichter zeichnet eine zutiefst menschliche Nonne, die nach dem Tode ihres Geliebten, von Schuldgefühlen befreit, diesen endlich als Engel lieben darf.
Einer der großen Durchhalte-Schlager der Nazis: Kann denn Liebe Sünde sein? (1938) Der Komponist Lothar Brühne (1900-1958) hat diesen berühmten Schlager aus der Nazi-Zeit mit einem Text von Bruno Balz (1891-1988) für den Film Der Blaufuchs (1938) von Victor Tourjansky (1891-1976) komponiert. Die Ersatz-Marlene Dietrich (1901-1992) für das dritte Reich war die schwedische Schauspielerin und Sängerin Zarah Leander (1907-1981), sie spielte und sang in allen diesen sogenannten Reichs- und Kriegs-Durchhalte-Filmen mit großem Erfolg. Da wir gerade beim Thema Paradies sind, ist natürlicher Weise der Teufel nicht weit entfernt davon. Und so hat er sich auch gewissermaßen teuflisch-schlau in die verschiedenen Nazi-Größen wie Adolf Hitler (1889-1945), Joseph Goebbels (1897-1945), Hermann Göring (1893-1946) usw. verwandelt. Auch die schon genannten Künstler mit der sehr geliebten Leander an der Spitze haben alle mehr oder weniger den Pakt mit dem Teufel gemacht! Die gut geölte Propaganda-Maschine des Dritten Reiches unter der Leitung des teuflischen Goebbels verstand es sehr gut sich all diese Talente für ihre blutigen unmenschlichen Ziele zu nutzen! Gewissermaßen ein schönes böses unvergessliches Märchen für Jung und Alt aus der schwärzesten und dunkelsten Periode des 20. Jahrhunderts.
Was wird mit der Menschheit nach dem Sündenfall?
Jake Heggie (*1961) wollte der biblischen Eva in The Snake (1996) eine zeitgenössische Stimme verleihen. Feinsinnig sind die Reaktionen nach dem Kosten der verbotenen Frucht: „Süß, sauer, salzig, bitter… und der Geschmack… von Fäulnis“. Die Frage: „War es das wirklich wert?“ Heideröslein, D. 257 (1815) ist zum Archetyp des Genres geworden und ist eines der berühmtesten und vollkommensten Strophen-Lieder von Schubert, das nichts außer der Anmut der Inspiration auf einem solide erworbenen Handwerk erklären kann. Goethe kultiviert hier einen naiv populären Charakter – bis zu dem Punkt, dass Johann Gottfried von Herder (1744-1803) dieses Gedicht für einen antiken Text halten konnte -, ebenso findet Schubert eine elegante Einfachheit, eine erlesene Natürlichkeit: Die Frische, die Reinheit einer geöffneten Morgen-Rose. Was die zerbrechliche Melodie betrifft, die subtil aus dem Nichts besteht, ein paar Achtel in zwei Hälften, der kleine Sprung der Quarte, der am Ende der ersten Zeile abfliegt, am Ende der zweiten wieder abfällt und im Refrain zerspringt: Es ist ein Wunder der Unschuld mit genau der richtigen Portion an Lässigkeit und Verspieltheit… und auch erster Verdorbenheit! Dagegen deuten die Skizzen von Goethes Ur-Faust (1790) in dem Lied Gretchen am Spinnrad, D. 118 (1814/15) auf die leidvolle Erfahrung ihrer Deflorierung hin. Eine zu dieser Zeit gesellschaftlich inakzeptable außereheliche Schwangerschaft führte schließlich auch zum Kindesmord durch die Mutter. Ob die Ballade vom Paragraphen 218 (1929) von Hanns Eisler (1898-1962) auch einen tödlichen Ausgang nimmt, bleibt ungewiss. In der erschütternden Konversation eines Arztes mit einer wohnungs- und mittellosen Schwangeren bezieht Bertolt Brecht (1898-1956) klar Stellung. Die große wirtschaftliche Armut zu Ende der 1920er Jahre trieb die Zahl Abtreibungen in Deutschland auf knapp eine Million!
Ein leidenschaftlicher Schwung in der strahlenden Tonalität der Fis-Dur-Manier. Das Klavier ist nur ein hastiges Herzklopfen in Triolen von Sechzehntel-Noten, um die Geburt des Frühlings zu feiern, während die aufsteigenden Stimmkurven mit denen der Tastatur verbunden sind und durch Gegen-Gesänge vervielfacht werden. Was sagen der Mond und die Sterne, was singen die Nachtigallen aus voller Kehle? Sie gehört dir… sie gehört dir…! Endlich erschallt die Freude! Wirklich? Ist es nicht eher eine Fata Morgana des Mondes, wie die Hochzeits- und Jagdumzüge? Wissen wir nicht, das der Geliebte tot ist? Das berührende Lied von Robert Schumann (1810-1856) Frühlingsnacht, N° 12 aus dem Zyklus Liederkreis, Op. 39 (1840) mit Gedichten von Joseph von Eichendorff (1788-1857) ist eine bittertraurige Geschichte mit der Erkenntnis: Die Liebe ist nicht weit vom Tod entfernt! Goethes Figur des Harfners in Lieder und Gesänge aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Op. 96 (1840) von Schumann ist auch eine äußerst tragische Geschichte: Erst spät erfährt er, dass er zusammen mit seiner als Kinder getrennten Schwester eine Tochter namens Mignon gezeugt hat und dieser später begegnet. Wahnsinnig irrt er seitdem herum und klagt in Wer nie sein Brot mit Tränen aß, N° 4 die Götter an – mit dem Bewusstsein das er, obwohl höheren Mächten ausgeliefert, ungewollt zum Täter wurde. Aus dem Paradies vertrieben lässt Mahler uns an der Vorstellung teilhaben, dass zu guter Letzt Vergeben, Verständnis und Rettung stehen. Er selbst schrieb an eine Freundin: „Das Urlicht ist das Fragen und Ringen der Seele um Gott und um die eigene göttliche Existenz“. Auf bewegende Weise drückt er die immerwährende Hoffnung auf die Erlösung des Mensch aus! Das Urlicht, 4. Satz (Des Knaben Wunderhorn) aus der 2. Symphonie „Auferstehung“ (1895) mit einer Version für Gesang und Piano.
Am Ende stellt man sich die Fragen: Was sind unsere verbotenen Früchte? Wo schlummert die Schlange heute? Was sind wir für andere Menschen? Selbst wenn uns ein Paradies angeboten würde, wo es keinen Krieg, kein Leid, keinen Schmerz und keine Krankheiten gäbe, wären wir dann wirklich zufrieden und glücklich?
LIEDERABEND - Saal der Légion d’Honneur - Saint-Denis - 18. Juni 2023
Verlorene Paradiese auf Erden und im Himmel!
„Forbidden Fruits“ ist gewissermaßen ein thematischer Liederabend, der sich mit dem Garten Eden und dem Sündenfall beschäftigt. Es beginnt mit dem traditionellen englischen Song I will give my Love an Apple und endet mit Urlicht aus Mahlers Vertonung des Textes aus Des Knaben Wunderhorn. Um es gleich im Voraus zu sagen, wir waren von der „Fruchtauswahl“ und der Interpretation des deutsch-englischen Bariton Benjamin Appl überhaupt nicht überzeugt, ja wir würden sagen: Wir waren sehr enttäuscht! Was könnte man alles aus einer solchen aktuellen und explosiven Thematik zaubern? Desgleichen auch der Sänger bleibt mit seiner schönen künstlichen Interpretation auf halber Strecke stehen: Wenn man sich schon als klassischer Musiker an Cross’overs wagt, sollte man dafür auch die nötige hemmungslose Berliner „Schnauze“ haben. Wenn man schon einen berühmten Nazi-Hit der legendären Lieblings-Sängerin von Göring: Zarah Leander Kann denn Liebe Sünde sein ohne irgendeine politische Anspielung noch ohne jegliche verrauchte Atmosphäre von Berliner Homo-Kneipen vorträgt: So es sollte man es wohl besser mit einer Travestien-Stimme, aber nicht mit einer artigen Schön-Gesangs-Stimme vortragen. Schönheit ist gut! Aber Wahrheit ist besser! Desgleichen in dem Polit-Song von Eisler und Brecht Die Ballade zum Paragraphen 218, indem wir Zeuge einer Unterhaltung zwischen dem Arzt und einer schwangeren Frau sind. Der Interpret sollte sich ein wenig mehr an die großen Brecht-Interpreten orientieren, denn diese Ballade ist ein Kampflied gegen die Armut und die Not und es ist auf keinen Fall eine nette liebenswürdige nachmittägliche Kaffee-Klatsch-und-Kuchen-Geschichte! Der gesamte Abend war wir uns eine seichte fade Geschichte: Eben nicht Fisch noch Fleisch! Man isst keine verfaulten Früchte mit Maden! Man isst nur die Süßen!
Die Bibel und das Vergnügen?
In diesem Programm sind daher willkürlich, aber auf sehr gut durchdachte Weise die Lieder oder Melodien miteinander verbunden: Die sich sehr gut miteinander spiegeln können. A Chloris von Hahn veranschaulicht die Frage des Vergnügens. La Chevelure von Debussy das der fleischlichen Vereinigung, usw. Noch überraschender ist das berühmte feurige Just a Gigolo, dem die spirituelle Melodie von Poulenc Le serpent vorausging. All das ist äußerst intelligent, aber… Warum…?
Warum schafft der Bariton es nicht mit einem solchen Programm und einem so außergewöhnlichen Partner wie der Pianist Baillieu, uns nicht völlig zu verführen? Vielleicht, gerade weil er die Verführung als sein primäres Werkzeug zu nutzen scheint in einer Haltung, die man vielleicht als übermäßig narzisstisch empfinden könnte. Der Künstler scheint die überaus große Schönheit seiner Stimme und auch seines Gesichts zu nutzen, um auch eine gewisse Verwirrung im Publikum zu stiften. Was die unerwarteten Kombinationen des Repertoires hervorrufen kann, wenn sie auch noch durch sein gefährliches Spiel mit sehr sanften Blicken auf den Zuhörer wirft! Er scheint ein ganz feines Netzwerk von fast sadistischen Verbindungen zum Zuhörer zu knüpfen, abwechseln rätselhaft oder intensiv mit Bedeutung oder auch mit großen Emotion aufgeladen.
Auf zutiefst paradoxe Weise erweckt dieses ganze Arsenal an Verführungs-Waffen letztlich das Gefühl einer Künstlichkeit, einer trügerischen unglücklichen Stellung gegenüber seinem Publikum. Und beim nach Hause gehen sagte man sich: „Das war nicht gerade ein unvergesslicher Liederabend!“ Auch mit Genugtuung sagt man sich: „Du bist nicht in sein Netz gegangen, du hast nicht den letzten Apfel-Biss getan!“ (PMP/21.06.2023)