Rügen, Insel Rügen, FESTSPIELE - Streichquartettfestival, IOCO
RÜGEN: Noch kurz vor dem offiziellen Ende des Festspielsommers am vergangenen Sonntag in Neubrandenburgs Konzertkirche hatten die Festspiele MV mit einer „Inselmusik“ noch ein Schmeckerchen der besonderen Art im Angebot: neun Konzerte an drei Tagen
Kammermusik vom Allerfeinsten – die Festspiele MV präsentierten mit ihrer „Inselmusik“ ein Streichquartett-Festival auf Rügen
von Ekkehard Ochs
Noch kurz vor dem offiziellen Ende des Festspielsommers am vergangenen Sonntag in Neubrandenburgs Konzertkirche hatten die Festspiele MV mit einer „Inselmusik“ noch ein Schmeckerchen der besonderen Art im Angebot: neun Konzerte an drei Tagen (11.-13. September), musiziert von drei Streichquartett-ensembles auf Deutschlands größter (und natürlich schönster) Insel, nämlich Rügen! Das Wetter spielte mit, die Landschaften der Insel sowieso, und auch die Spielorte, etwa die Seebrücke von Sellin, das Kurhaus Binz, Foto oben, der Marstall oder das klassizistische Theater in der „Weißen Stadt“ Putbus beziehungsweise die Insel Hiddensee, ließen wieder keine Wünsche offen. Und schon gar nicht jene drei Quartettformationen, die mit höchst abwechslungsreichen Programmen die so notwendige und sinnvolle Balance zwischen traditionellem Kammerkonzert sowie entsprechendem Repertoire und innovativen, in Auswahl und Angebotsformen (Ausschnitte) sehr unorthodoxen Angeboten hielten.
Rund fünfzig Werke von nicht ganz so vielen Komponisten sprachen ebenso dafür wie die zeitliche Verteilung zwischen der Musikkultur Alt-Englands oder Italiens und Helmut Lachenmann oder nicht wenigen noch lebenden jungen Komponisten und Komponistinnen der Gegenwart. Originale und diverse Arrangements inbegriffen. Und dominierend ein Konzept, das sehr bewusst ausgetretene Vermittlungspfade meidet und mit variablen, Tradition wie Moderne berücksichtigenden Programmen sowohl Genussfaktoren berücksichtigt als auch im umfassenden Sinne unterhalten will. Nicht zuletzt aber stehen auch Erkenntnisgewinne im Blickfeld.
Als Fazit bleibt ein Gesamteindruck von denkbar großer stilistischer Vielfalt. Vor allem aber der von interpretatorischen Qualitäten, die man sich angesichts der mit dieser Vielfalt verbundenen Anforderungen besser nicht wünschen kann. Kuratiert wurde das Ganze vom seit gut dreißig Jahren agierenden Kuss-Quartett, das sich mit dem Barbican String Quartet (siehe Fotos) und dem Chaos String Quartet zwei zwar jüngere, aber auf der internationalen Anerkennungsliste schon hochdotierte Gäste dazugeladen hatte. Das Ergebnis: ein Fest für Ohren und Geist, ein Musizieren, das höchste Spieltechnik, differenzierteste Gestaltungsfähigkeit und leidenschaftlichen Ausdruckswillen souverän miteinander verband. Den unmittelbaren Vergleich – schon schwierig, erkennbare Unterschiede zu benennen – gab es beim Eröffnungskonzert. Dort musizierten alle drei Ensembles nacheinander und ausschließlich Mozart; in obengenannter Reihenfolge : A-Dur KV 464, D-Dur KV499 und B-Dur KV 589. Das Ganze als kleines Mozartfest mit drei sehr ähnlichen, qualitativ hochkarätigen Angeboten hinsichtlich nobler, überaus delikater Spielkultur, äußerst lebendiger, pulsierender und artikulativ griffiger Musizierweise, begeisternder klanglicher Homogenität und mitreißender Musikalität. Da dachte man schon an Referenzaufführungen!
Weitere, ensembleeigene Charakteristika – hier angesichts der Programmfülle einzeln gar nicht und nur mit wesentlichen Titeln benennbar - ergaben sich im Verlaufe der drei Tage. So, wenn das Kuss-Quartett in einem speziellen Konzeptprogramm Stücke (auch Ausschnitte) Enno Poppes (*1969), Marc Andres (*1964), Birte Bertelsmeiers (*1981) und Dmitri Schostakowitschs (1906-1975) mit Haydn und Schubert unter dem Thema „Krise“ (und Hoffnung) mischte oder im die Tage abschließenden großen Festivalfinale Manfred Trojahn (*1949), Gesualdo (1566-1613) und armenische Folkore von Komitas (1869-1935) beisteuerte. Ähnlicher Vielfalt begegnete man auch beim Barbican Quartet, das mit (Gästen) das Brahmssche 2. Sextett op. 36 präsentierte und sich ansonsten – unter anderem – für Schubert (Es-Dur-Quartett op. posth, D 87), Beethoven (op. 59/1), György Ligeti (1. Streichquartett), Britten (1913-1976), Purcell (Fantasien) und Yoy Lisney (*1993, C´est l´extase) einsetzte. Hier umfasste der Finale-Beitrag Werke von Bartok (Violin-Duette), Thomas Adés (*1971, Venezia notturna), Rebecca Clarke (1886-1979), Poeme) und Ana Sokolović (*1968, Innamorati).
Beeindruckend auch das, was das so gar nicht chaotische Chaos String Quartet zu bieten hatte. Der Begriff „Chaos“ meint lediglich den Urzustand eines Werkes, den man als „offen“ ansieht, „so dass draus geschöpft werden kann, um das Wahre, Echte freizulegen“. Quasi eine Handlungsanweisung, die einiges für sich hat. Und die erkennbar wurde in dem, was man hier zu hören bekam: etwa bei Beethoven, dessen „Großer Fuge“ (B-D ur op. 133) eine ganze Veranstaltung gewidmet war (kluge Moderation von Oliver Wille vom Kuss-Quartett), bei Jean-Féry Rebel (1666-1747, „Le chaos“), Jean-Philippe Rameau (1683-1764, Ouvertüre zu „Zais“), bei Haydn (Quartett op. 33/3), Rebecca Sauders (*1967, „Unbreathed“) und – geradezu schockierend radikal präsentiert – bei Ligetis 2. Streichquartett. Der Finalbeitrag irrlichterte zwischen Josquin Deprez (1450-1521, „El Grillo, eigentlich für Chor), Boccherini (1743-1805, das Menuett), Britten (Waltz) und Traditionals aus Dänemark.
Einen programmatischen Sonderposten gab es aber auch noch: einen Abend mit dem Kuss-Quartett und dem schweizerischen Ausnahme-Blockflötisten Maurice Steger. Auch hier der weit gespannte Bogen von altenglischen (Dowland, Adson, Coprario) und holländischen Madrigalen (aus Jacob van Eycks „Fluyten Lust“) über Vivaldi (Konzert RV 375. original für Violine) bis in das 18. Jahrhundert (Karl Friedrich Weidemann, 1704-1782). Zeitgenössisches aber auch hier. Geschrieben für das Kuss-Quartett erklang Iris ter Schiphorsts (*1956) „Sei gutes Muts“ (jawohl, genau so geschrieben) für Blockflöte und Streichquartett. Das Werk nimmt thematisch Bezug auf den Text von Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ sowie – sehr gegenwärtig – auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik; in beiden Fällen wird Text auch gesprochen. Schiphorsts Tonsprache ist vielfach von leidenschaftlicher Erregtheit, kennt aber auch tröstliche Verhaltenheit und scheut im Übrigen keine noch so grenznahen, schrillen, Illustratives berührende Ausdrucksbereiche. Der Solist des Abends: einfach nur sensationell!
Und noch etwas zeichnete diese drei Tage aus: die Einbeziehung eines Wortkünstlers namens Bas Böttcher. In zwei Konzerten – unter anderem im Finale - trat Böttcher auf, als vielgerühmter, ausgezeichneter und sehr fantasievoller Gedanken- und Wortakrobat. Ein Slam-Poet mit brillanten Einfällen, der schon mal mit Jandl und Ringelnatz verglichen wird und um den sich namhafte Literatur-Institute bemüht haben. Ein Wermutstropfen war die nicht immer optimale Textverständlichkeit; Der sympathisch locker agierende Poet spricht impulsiv und schnell, was durchaus zum Charakter seiner oft wie improvisiert wirkenden Texte passt, allerdings eine perfekt funktionierende Übertragungstechnik voraussetzt. Und daran mangelte es hier und da. Den Böttcher aber, so viel war schnell klar und dann doch zu verstehen, sollte man unbedingt näher kennenlernen!
Bleibt ein Letztes: Das Finale im rappelvollen Marstall zu Putbus. Es bot, wie benannt, zahlreiche, abwechslungsreich im Raum verteilte Einzelleistungen, vereinigte dann aber alle drei Quartette zu einem Kammerorchster. Objekt der Begierde: Verdis einziges Streichquartett in Kammerorchesterfassung. Mithin eine Besetzug, die so auch vom Komponisten, der sich der Qualität seines Werkes durchaus nicht sicher war, als möglich vorgesehen war. Wer die Quartettfassung und ihre speziellen kammermusikalischen Qualitäten kennt, wird sie sicher vorziehen. Manches spricht aber auch für die größere Besetzung, die an diesem Abend zwar viele gestalterische, vor allem auch dynamische Feinheiten nicht ausspart, aber letztlich eher geeignet ist, mit orchestraler Klangwucht zu punkten.
Das tat sie denn auch an diesem Abend, der mit gewaltigen Beifallsstürmen ausklang.