Rouen, Théâtre des Arts, IPHIGÉNIE EN TAURIDE - Christoph W. GLUCK, IOCO Kritik, 04.03.2022
IPHIGÉNIE EN TAURIDE - Christoph Willibald von Gluck
- Das Feuer unter dem Marmor … -
Libretto Nicolas-François Guillard (1752-1814) nach der gleichnamigen Tragödie von Guymond de la Touche (1723-1760) inspiriert von Euripides (483-406 v. Chr.)
von Peter Michael Peters
Ab etwa 1760 litt Frankreich nicht nur unter dem italienischen Einfluss, der sich auch in der Instrumentalmusik manifestierte, sondern auch unter deutschem Einfluss für seinen wesentlichen instrumentalen Teil (Symphonien und Quartette von Joseph Haydn (1732-1809) und seinen Zeitgenossen). Es hieß natürlich viele Ausländer willkommen! Der berühmteste war Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714-1787), dessen Opern von 1774 bis 1779 die Pariser Opernszene dominierten. Gluck widmete sich bis etwa 1750 im absoluten Konformismus der opera seria. 1754 markierte sein Engagement in Wien einen Wendepunkt in seiner Karriere. Anschließend komponierte er mehrere opéras-comiques français, darunter: L’Ivrogne corrigé (1760), Le Cadi dupé (1761), Les Pèlerins de La Mecque (1764).
- Das Théâtre des Arts, auch Opéra de Rouen Normandie: Ensemble-Theater mit 1.350 Plätzen in der Stadt Rouen, 112.000 Einwohner, 110 Km nordwestlich von Paris, am Unterlauf der Seine gelegen
Ein Jahr nach seinem Ballett Don Juan (1761) war die Uraufführung von Orfeo ed Euridice (1762) in Wien die erste Manifestation seiner Opernreform, die mit seinem Librettisten Ranerio di Calzabigi (1714-1795) durchgeführt wurde. Gluck vereinfachte seine Librettos, entledigte seine Musik aller unnötigen Verzierungen, vermenschlichte das Rezitativ, ließ den Chor an der Handlung teilhaben und schloss sich der Psychologie seiner Charakter an. Aber er zögerte nicht zu erklären, dass er versucht hatte die Musik auf ihre wahre Funktion zu reduzieren, die der Unterstützung der Poesie. Dies genau in dem Moment, in dem Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) die Musik selbst zum Vektor des Dramas machen wollte.
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Gluckisten und Piccinisten
1772 schrieb ein Gesandter der französischen Botschaft in Wien, François Bailli du Roullet (1716-1786) ein Libretto in Französisch für den Komponisten und zwar Iphigénie en Aulide (1774/Revision 1775) nach der Tragödie von Jean Racine (1639-1699). Zwei Jahre später gab Gluck in Paris Iphigénie en Aulide, Orphée et Eurydice (französische Version 1774) und Alceste (französische Version 1776), die ihm herzliche Anhänger und heftige Kritiker einbrachten. So entwickelte sich ab 1777 der berühmte Streit der Gluckisten und Piccinisten. Jedoch weniger von den beiden Komponisten als von ihren jeweiligen Anhängern angeführt. Ohne zu sehen, dass er die Tradition von Jean-Baptiste Lully (1632-1687) und insbesondere von Jean-Philippe Rameau (1683-1764) indirekt fortsetzte, warfen seine Gegner Gluck vor, dass er zu sehr von der italienischen Oper abgewichen sei. Aber unter der Berufung auf Niccolò Piccinni (1728-1800) ist es sehr fraglich, denn dieser ist kein typischer Vertreter der Kunstform, die sie angesprochen hatten.
Nachdem Gluck Anfang 1777 in Wien erfahren hatte, dass Piccinni einen Roland (1778) vorbereitete, ein Thema an dem er selbst arbeitete, richtete der Komponist umgehend einen langen Brief an Du Roullet, indem er erklärte, er werde auf seinen Roland verzichten und gleichzeitig sprach er mit viel Stolz über die großen Meriten seiner neuen Armide. Die Uraufführung geschah 1777 in Paris, wenige Monate vor der neuen Arbeit von Piccinni. Beide arbeiteten dann an einer Iphigénie en Tauride, die von Gluck 1779 uraufgeführt wurde und die von Piccinni erst 1781 gegeben wurde.
In Wirklichkeit wurde der Kampf zwischen dramatischer Oper (Gluck) und musikalischer Oper (Piccinni) geschlagen und ist bis heute nicht entschieden. Die Bedeutung von Gluck bleibt dennoch beträchtlich! An der Basis seiner erfolgreichsten Werke stehen grundlegende Ideale wie Freundschaft, eheliche Liebe, Opferbereitschaft: So viele positive Werte die, am Ende über die Mächte der Zerstörung einschließlich der Toten, siegen. Dieser große neoklassische Dramatiker konnte mit Recht seine Musik als die Sprache der humanistischen Menschheit bezeichnen.
Rückkehr der Orakel
All dies ähnelt in unseren Augen freilich stark an der Vorahnung einer psychoanalytischen Kur, in der die stumme Diane die Analytikerin ist und die auch die Aufnahme unerkannter Impulse darstellen würde. Die Verwirklichung dieser Impulse (insbesondere der Neigung zum Mord) bringt in dem einen wie in dem anderen Fall die Linderung der Symptome (Halluzinationen, Träume, Zwangsvorstellungen). Bereits schon von De la Touche wurde dies gut verstanden und er ließ am Ende seiner Tragödie Iphigénie sagen: „La loi de la nature est donc la loi des cieux“ (V,9). In Übereinstimmung mit dem Modell der antiken Tragödie (von Sigmund Freud (1856-1939) wegen der Präzision geschätzt, mit der sie diese unterbewussten Bewegungen symbolisiert), konvergieren die Bestrebungen für die sich die Götter ein Alibi machten: Das Opfer!
Wir wissen wie gravierend dieses Thema bei Gluck ist: Die treibende Kraft hinter der Handlung ist bei seinen Iphigénie(s), sowie auch bei Alceste immer ein Orakel, das zu einem blutigen Opfer aufruft. In Iphigénie en Aulide fordert Diane von Agamemnon im Austausch für günstige Winde für die griechische Flotte die Opferung seiner Tochter. In Alceste ist es die Stimme von Apollon, die um den Tod eines der Untertanen von König Admète fordert im Austausch für seine eigene Heilung (es wird Alceste sein, die sich für ihren Ehemann opfert). Wie wir sehen können, machen die Götter keine Kompromisse: Sie fordern nach Blut… und nach mehr Blut und dass immer sehr besonders heikel zu vergießen ist.
Beachten wir dass dies nicht irgendwelche Götter sind, sondern die Kinder von Léto/Latone: Artémis-Diane, Göttin der Jagd, dann durch die Assimilation mit dem Mond und mit ihrem Bruder Phébus-Apollon, Gott der Künste und später gleichgesetzt mit der Sonne. Abgesehen davon, dass ihre Attribute die Tätigkeit ihrer Göttlichkeit mit einer als Tag-Nacht-Zyklus konzipierten Repräsentation des menschlichen Lebens assoziieren. Georges Hacquard (1918-2014) erinnert daran, dass die orphische Tradition Apollon zum Symbol der universellen Ordnung gemacht hat, zur Verkörperung der Harmonie. Diese Besonderheiten können uns dazu veranlassen, dass die Opfer die sie fordern, als Ausgaben für die Fortsetzung des ständigen Lebensflusses notwendig sind: Eine Interpretation, die an orientalische Philosophie erinnert und denken wir daran, dass der Tempel der Diane im asiatischen Ephesus liegt. Explizit soll das vergossene Blut (von Alceste) das Leben (ihres Ehemannes Admète) verlängern, während das Opfer von Fremden durch Thaos gefordert wird, sowie das von Iphigénie für das Überleben und der siegreichen Expansion Griechenlands notwendig ist.
Diese von den Göttern der Sterne geforderten Todesopfer sollen die Macht oder das Leben des Herrschers wiederherstellen oder erhalten: Um König Admète zu retten stirbt Alceste. Auf Kosten des Todes von zwei Fremden will Thaos seine Macht wiedererlangen. Durch das Opfer von Iphigénie bleibt Agamemnon an der Spitze der griechischen Koalition. Bleibt der König der Könige!
Wir haben also diesen Mythen zugrunde liegend, die genaue Illustration dieser Evolution, von der Dario Fo (1926-2016) spricht: „Ursprünglich das Opfer des Königs, das für das Überleben des Stammes erforderlich war, wurde durch ein anderes weniger bedeutendes Opfer ersetzt“ (die Ausländer von denen Thaos spricht). Aber schließlich wird es ein Tier, das dem Gott geopfert wird (das Reh, das Diane unter Calchas‘ Messer für Iphigénie ersetzen wird). Zu diesem Diagramm können wir ein noch älteres Versöhnungsritual der Jagd hinfügen, denn es besteht kein Zweifel dass die prähistorischen Griechen wie unsere Vorfahren von der Jagd lebten. Wir können uns unsere Jagdkulte als Ursprung späterer Mythologien vorstellen! Es ist daher fast sicher, dass diese Vorstellung von einer Bewahrung der Stammesform durch das Opfer und des Orakels, durch die Mythen hindurchgeht.
Dass das Opfer meist vom selben Blut ist wie der, der es opfert, ist offensichtlich nicht unerheblich: Agamemnon muss seine Tochter opfern, Iphigénie selbst muss ihren Bruder erschlagen. Admète muss dem Tode seiner Frau zustimmen um zu leben. Das Opfer ist ein Teil von sich selbst, das der Priester aufgibt: Es genügt zu sagen, dass der Mensch zustimmen muss, sich selbst zu verlieren; es ist das alte Selbst das er töten muss, um sich vollendeter, reiner als neues Selbst wieder zu finden. Aber dieses Opfer, durch das Thaos ins eigene Verderben rennt, ist auch eine erste Todesvision. Opfer bringen Feiern hervor, erzeugen Rausch und Vergessen, indem die Identität vorübergehend aufgelöst wird.
Trunkenheit, Feiern, Trankopfer, Trancen, die die Rituale begleiten: Das sind die ersten Formen des Theaters. Das Theater wurde, so heißt es, aus den dionysischen Riten geboren. Das Ferment der Tragödie ist das Opfer des heiligen Ziegenbock (tragos) von Dionysos, dem Gott der Bewusstlosigkeit und des Vergessens. Diese rituellen Opferungen werden mit der Pantomime ersetzt, dann ihre symbolische Darstellung durch das tragische Spiel und das Wort wird das Messer in Dramen ablösen: Die unsere Angst vor dem Tod austreibt.
Diese metonymische Reise verfeinert sich über das tragische Repertoire bis hin zum Werk von Euripides der, wie wir gesehen haben, versuchte zu rationalisieren was von der obskurantistischen Barbarei auf den Bühnen seiner Zeit übrig geblieben sein könnte. Mit dieser von Aristoteles (384-322 v. J.C.) gelobten Rationalisierung beginnt die Ära des modernen Theaters. Ein Theater in dem die psychologische Grausamkeit, die individuellen Bestrebungen, die persönlichen Schicksale sich erhalten haben und desgleichen die Riten für das Überleben des jeweiligen Clans: Das sind diese bacchanalischen, dionysischen und blutigen Gründungen, von denen die dramatische Kunst übrig geblieben ist. Euripides drückt in seiner Iphigénie en Tauride (414/412 v. J.C.) die Intuition dieser Verschiebung deutlich aus: Er fordert die Ersetzung der alten, obskuren, übermäßigen und unvernünftigen blutrünstigen Götter durch menschlichere und verständlichere (Apollon, Gott des Lichts, Diana, Göttin der Keuschheit und vor allem Minerva, Göttin der Weisheit und Patronin Athens). Er ersetzte den Ritualmord, den Garanten für das Überleben eines Volkes, durch das symbolische Opfer. Eine garantierte Identität öffnete damit den Weg zum gesamten klassischen Theater, insbesondere zur Dramaturgie von Pietro Metastasio (1698-1782), die im Zeitalter der Aufklärung triumphierte und auch Gluck für sechzehn Opern inspirierte.
Der Weg den Iphigénie en Tauride des deutschen Komponisten öffnet, scheint genau das Gegenteil zu sein. Die primitive Barbarei wird wiederbelebt auf der Unklarheit von Omen, Visionen und Vorahnungen. Diese Oper tritt nicht nur in die Besessenheit des Unbewussten: sie kehrt zu den Ursprüngen des Theaters zurück und führt zu den festlichen, mythischen Quellen der dramatischen Kunst. Darin findet die Oper seine unvergleichliche Kraft…
Iphigénie en Tauride - 25. Februar 2022 - Opéra de Rouen Normandie
Man kann wohl mit Recht sagen, dass die schon beinahe mythische Inszenierung in seiner erhabenen und raffinierten Idee eines mentalen Raums von Robert Carsen den Olymp der Musen erreicht hat. Der kanadische Regisseur hat diese einmalige Produktion vor einigen Jahren in Chicago erarbeitet und seitdem wandert sie unerlässlich von einem Opernhaus zum anderen. Schon alleine diese kahle und total verschlossene schwarze Bühne erzeugt Albträume und wir können förmlich die inneren Kämpfe von Iphigénie erahnen und fühlen. Gleich am Anfang beim fallen des Vorhanges wird diese grausame Geschichte Wirklichkeit: Auf der frontalen Wand ist mit großen Buchstaben handgeschrieben: IPHIGÉNIE…, auf der linken Wand: AGAMEMNON…, auf der rechten Wand: CLYTEMNESTRE… und das Blut fließt unerlässlich von den Buchstaben. Das Symbol der Atriden-Familie…, das Symbol der blutigen Rache. Gleichzeitig werden wir mit schonungslosen und fürchterlichen Szenen konfrontiert, indenen ein symbolischer Kampf in Form eines wilden blutrünstigen Tanzes zwischen Iphigénie und ihren Visionen und Ängsten gezeigt wird. Es sind Tänzerinnen bzw. Tänzer, die als Ebenbilder der Atriden-Tochter und dem skythischen König Thaos uns die menschliche Schizophrenie versinnbildlichen. Diese tänzerischen Doppelbilder begleiten uns durch alle vier Akte und symbolisieren diese wilden feurigen und furiosen Kämpfe, die den klassischen kalten Marmor zerfließen lassen. Ohne den äußerst talentierten französischen Choreographen Philippe Giraudeau hätte diese eindrucksvolle Produktion wohl nicht entstehen können. Im zweiten Akt sehen wir vielleicht eine der imposantesten Szenen: Eine wilde von Furien geführte Orgie aus Blut, Rache, Wahnsinn und brutaler Erotik wird bis an das Äußerste getrieben. Den gleichen Anteil am Gelingen dieser Inszenierung haben auch der deutsche Bühnen- und Kostümbildner Tobias Hoheisel, sowie der belgische Lichtbildner Peter van Praet. Die schwarzen Kostüme in der noch schwärzeren Bühnenlandschaft sind einfach und imponierend. Die Lichtgestaltung ist genial, ein wirklicher und wichtiger Faktor dieser Inszenierung. Eine schwarz-graue Lichtmalerei mit vergrößerten Umrissen und Schatten auf der gesamte Bühnenhöhe erweitern noch die inneren Angst- Traumvisionen der Titelheldin.
Der französische Dirigent und Cembalist Christophe Rousset ließ diesmal seine Barockmusiker Les Talens Lyriques zu Hause. Er dirigierte das hauseigene Orchestre de l’Opéra de Rouen Normandie und hatte die Musiker wohl in gutem Griff, jedoch fehlte uns das lodernde Feuer unter dem kalten Marmor. Es wurde sehr nett und artig musiziert, genau das Gegenteil dieser wilden und feurigen Inszenierung! Der von Christophe Grapperon geleitete Chor, der außerhalb der Bühne sang, hatte alle geforderten musikalischen Qualitäten eines Opernchores.
Die junge französische Sopranistin Hélène Carpentier in der Rolle der Iphigénie hat schon eine bewundernswerte internationale Karriere hinter sich. Hier in Rouen sprang sie eine Woche vor der Premiere für eine erkrankte Kollegin ein. Sie erlernte die Rolle praktisch in nur einer Woche, desgleichen auch für die Übernahme dieser überwältigen Rolle in einer äußerst psychologischen Inszenierung. Schon alleine dafür verdient sie Bewunderung und Lob. Ihre Interpretation war vom Spiel bewundernswert. Von der musikalischen Seite fehlte vielleicht noch die große Gesangslinie. Auch sollte sie noch an ihrer Diktion arbeiten. Aber der Gesamteindruck war sehr Eindrucksvoll. Brava!
Die große Entdeckung für uns war junge amerikanische Tenor Ben Bliss in der Rolle des Pylade. Er bot eine sehr ausgewogene Interpretation und sein zartes und dennoch viriles Timbre ist wie geschaffen für die französische Oper. Übrigens seine Diktion war einwandfrei und man verstand jedes Wort.
Der französische Bariton Jérôme Boutillier als Oreste sang mit einer wunderbar fließenden samtenen Stimme mit traumhaften Intonationen und einem imposanten nuancen- und farbreichen Timbre. Dazu eine göttliche Aussprache…
Die einzige Enttäuschung des Abends war der Thaos interpretiert von dem französischen Bariton Pierre-Yves Pruvost. Sein gutturales und kratziges Timbre passte nicht in diese fast perfekte Distribution. Auch sein Spiel war überspielt…
Die ukrainische Sopranistin Iryna Kyshliaruk sang die Rollen der Diane und der Zweiten Priesterin mit einem sehr schönem glasklaren Timbre. Desgleichen die französische Mezzo-Sopranistin Sophie Boyer als Erste Priesterin und als Griechische Frau gab alles in diese verhältnismäßig kleinen Rollen.
Für uns war dieser Abend ohne zu übertreiben eine ungeahntes Fest an Überraschungen und Schönheit. Ja, man kann ohne Scheu sagen: Das war Weltklasse… Das war Hauptstadt-Theater… Unser Kompliment an die Direktion der Opéra de Rouen Normandie. (PMP/01.03.2022)
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