Rouen, Théâtre des Arts, ARIADNE AUF NAXOS - R. Strauss, IOCO
ARIADNE AUF NAXOS, ROUEN: Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) fasste im ausführlichen Briefwechsel mit Richard Strauss (1864-1949), der ein eigenes Kapitel über die Entstehungsgeschichte von Ariadne auf Naxos schreibt .....
Richard Strauss: ARIADNE AUF NAXOS, Op. 60 (1916), Oper in einem Aufzug nebst Vorspiel; mit dem von Libretto von Hugo von Hofmannsthal.
WIE EINE MEHRKÖPFIGE MEERESSCHLANGE…
Großmächtige Prinzessin, wer verstünde nicht,
dass so erlauchter und erhabener Personen
Traurigkeit mit einem anderen Maß gemessen
werden muss , als der gemeinen Sterblichen.
Jedoch…
…sind wir nicht Frauen unter uns,
ein unbegreiflich Herz? (Szene der Zerbinetta / Auszug)
Der azurblaue Abgrund des Vergessens…
Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) fasste im ausführlichen Briefwechsel mit Richard Strauss (1864-1949), der ein eigenes Kapitel über die Entstehungsgeschichte von Ariadne auf Naxos schreibt, das zentrale Anliegen der Oper aus seiner Sicht in Bezug auf den Inhalt wie auch der Form: „Es handelt sich um ein simples und ungeheures Lebensproblem: Das der Treue! An dem Verlorenen festhalten, ewig beharren bis an den Tod – oder leben, weiterleben, die Einheit der Seele preisgeben und dennoch in der Verwandlung sich bewahren, ein Mensch bleiben.“ Das „Geheimnis der Verwandlung“, das in der Oper sich am Komponisten und an Ariadne vollzieht, lassen Hofmannsthal und Strauss auch ihrem Werk als Ganzem angedeihen: Hier auch die Ästhetik des Werks und seiner Form miteinzubeziehen, aus Schauspiel und opera seria und commedia dell’arte und Buffa-Oper ein einziges großes theatralisches Fest zu kreieren, diese Bestrebungen gingen wohl in erster Linie von Hofmannsthal aus. Aber auch Strauss war von der Idee fasziniert, die Künstlichkeit der Oper Der Rosenkavalier, Op. 59 (1911) noch weiter zu treiben, weiter zu abstrahieren. Die Erschaffung eines Gesamtkunstwerks aus dem Geiste des Barockspektakels war die Weiterentwicklung einer Konzeption, die Hofmannsthal und Strauss zusammen mit Max Reinhardt (1873-1943) erarbeitet hatten: Über die Aktualisierungsversuche antiker Stoffe – deren Ergebnis letztlich auch die erste Zusammenarbeit von Strauss und Hofmannsthal bei der Elektra, Op. 58 (1909) war – kam dieses gleichermaßen unterschiedliche wie kreative Triumvirat in den Bannkreis des Barock. Selbst die Idee der Salzburger Festspiele im allgemeinen wie die des Jedermann (1911) von Hofmannsthal im speziellen liegt auf dieser Linie. Dass Strauss und Hofmannsthal vor allem ihr Publikum im Falle der Ariadne auf Naxos in der ersten Fassung damit überforderten – die Aufführung des bearbeiteten Schauspiels Le Bourgeois Gentilhomme (1670) von Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière (1622-1673) an das sich dann als Theater auf dem Theater die eigentliche Oper erst anschloss, dauerte einfach zu lange -, übersahen sie wohl im ersten Schaffenseifer. Zudem war es äußerst schwierig, ein Schauspielensemble und eine komplette Opernbesetzung mit Orchester an einem Abend schon unter organisatorischen Gesichtspunkten zu vereinen.
Aber auch unter rein werkimmanenten Aspekten erscheint die „Engführung“ der zweiten Fassung mit der Reduktion auf Vorspiel hinter der Bühne als alltägliche, menschliche Version und Oper als abstrahierte, allegorische, „künstliche“ Variante desselben Problems konsequenter. Zudem wird hier die Verbundenheit der beiden Autoren mit dem 19. Jahrhundert noch einmal ganz deutlich: Nur im Spätwerk Capriccio, Op.85 (1942) werden – diesmal von Strauss und Clemens Krauss (1893-1954) – so offen Kunst und ihr Zustandekommen diskutiert, Kunst und Wirklichkeit reflektiert. In keinem Werk der beiden tritt das eklektische Kulturbewusstsein so klar hervor wie in der Ariadne auf Naxos: Der Zitatcharakter im Text – beispielsweise die Zitate aus dem Briefwechsel von Ludwig van Beethoven (1770-1827) mit seinen Kopisten, die Hofmannsthal dem Perückenmacher und dem Komponisten in den Mund gelegt hat - und in die Musik, wo es mehr oder minder deutliche Verweise auf die Corona der Komponisten der Vergangenheit von Johann Sebastian Bach (1685-1750) bis Richard Wagner (1813-1883) gibt, ist unübersehbar. Strauss hat für diesen ganzen Zitatenschatz die Figur des Komponisten in den Vordergrund gerückt, der stellvertretend für den Künstler steht und bezeichnenderweise hat er dieses Abstraktum entindividualisiert, indem er hier einen Mezzo-Sopran einsetzt. In der Ariadne auf Naxos hat Strauss sich zudem als Meister der Instrumentationskunst in ganz neuer Weise gezeigt. Wenn er bisher in den symphonischen Dichtungen und den Opern von Salome, Op.54 (1905) bis zur Oper Der Rosenkavalier Effekte mit einem bis ins letzte ausgestatteten und ausdifferenzierten Orchesterapparat geschaffen hatte, so entwickelte er nun etwas gänzlich Neues. Paul Bekker (1882-1937) hatte das früher überdimensionale Orchester mit einer positiven Deutung von „l’art pour l’art“ charakterisiert. In Ariadne auf Naxos ist die große, unverwechselbare Neuerung eine rigorose Reduktion ebendieses grandiosen Orchesters bei Beibehaltung größtmöglicher Varianz und Klangdifferenzierung, die Strauss überzeugend für die verschiedenen Sphären des Vorspiels und der Oper funktionalisiert. Das Moment des Künstlichen, des Artifiziellen, das die Form und den Inhalt des ganzen Werks auch vom Libretto her prägt, herrscht vor. So sind beispielsweise die Partien in der Oper, in der Ariadne und Bacchus dominieren, gewissermaßen voll instrumentiert, wobei durch den weichen Ton des quasi obligaten Harmoniums ein ganz besonderes Klangvolumen erreicht wird. Die Teile, in denen Zerbinetta und ihre Gefährten sich improvisierend ins Spiel mischen, sind beherrscht von einem eher trockenen Klang, der vom Klavier getragen wird. Ganz offensichtlich will der Theatermann Strauss hier die alltägliche Probenatmosphäre eines Theaters voller Improvisation assoziiert wissen. Dass Strauss den Weg, den er mit der Instrumentation der Ariadne auf Naxos beschritten hat, später nicht fortgesetzt hat, sondern wieder dem Klangbombast mehr vertraut hatte als seiner gekonnten Selbstbeschränkung, bleibt nach Kenntnis der Möglichkeiten, die sich in der Ariadne auf Naxos auftun, bedauerlich.
Wie die Konzepte eines Regenbogens…
Acht Wochen nach der Uraufführung der Oper Der Rosenkavalier begannen Hofmannsthal und Strauss im Frühjahr 1911 mit der Konzeption eines neuen Werkes. Geplant war zunächst die Addition einer gesprochenen Komödie von Molière – Hofmannsthal adaptierte dazu Le Bourgeois Gentilhomme und einer lyrischen Oper, die als Theater auf dem Theater am Ende des Stückes sich als Divertissement im Hause des reichen Bürgers Jourdan anschloss. Der Briefwechsel zwischen den beiden Autoren offenbart die ganzen Schwierigkeiten, die unterschiedlichen Interpretationsansätze, die gegenseitigen Annäherungen und Entfremdungen während der anderthalbjährigen Entstehungszeit. Vor allem das Ende der Oper war hart umkämpft. Während Strauss eine Synthese zwischen Parodie mit Zerbinettas Schlusskommentar und der Poesie Ariadnes und Bacchus‘ Zusammenfinden anstrebte, wollte Hofmannsthal einen vollkommen sublimierten und verklärten Schluss, der das „Wunder der Verwandlung“, das sich an beiden Liebenden vollzogen hat, gewissermaßen transzendiert. Diese Diskussion sollte bei der zweiten Fassung des Stückes wieder aufleben. Doch zunächst kam Le Bourgeois Gentilhomme, zu dem Strauss etliche Musikeinlagen komponiert hatte, mit der anschließenden Oper Ariadne auf Naxos am 25. Oktober 1912 am Hoftheater Stuttgart zur Uraufführung. Reinhardt, dem das Stück aus Dankbarkeit für die Unterstützung schon während der Arbeit an der Oper Der Rosenkavalier gewidmet war, hatte die Inszenierung besorgt, die musikalische Leitung lag beim Komponisten selbst. Der Erfolg jedoch hielt sich an Grenzen, obwohl es etliche Folge- Aufführungen, etwa in München unter Bruno Walter (1876-1962), gab. Doch weder Kritik noch Publikum noch die Theater noch die Urheber selbst waren restlos zufrieden. Aufführungstechnisch gab es Schwierigkeiten mit den zwei Ensembles für das Sprechstück und die Oper: Dazu kam die beträchtliche Aufführungsdauer! Schließlich rangen sich Hofmannsthal und Strauss zu einer grundlegenden Revision durch: Sie trennten das Schauspiel von der Oper und aus der der Oper unmittelbar vorausgehenden Garderobenszene entwickelte Hofmannsthal das feinsinnige Vorspiel, das die Oper in ihrer Mischform von heroischer Seria-Oper und improvisatorischer commedia dell’arte nicht nur begründet, sondern vom Gehalt her bereits auf quasi realistischer Ebene antizipiert. Dabei rückte die Figur des Komponisten als Spiegelung des Künstlers schlechthin in den Vordergrund, der aber in seinem schwärmerischen Idealismus gleichzeitig vom Musiklehrer und dem Tanzmeister konterkariert und ironisiert wurde. Die Intermezzi aus der Molière-Komödie fasste Strauss 1917 bzw. 1920 zu der Orchestersuite Der Bürger als Edelmann, Op. 60b-llla (1916) zusammen. Die überarbeitete Fassung der Ariadne auf Naxos, die sich an den Bühnen schnell und nachhaltig durchsetzte, wurde fast genau vier Jahre nach der Stuttgarter Uraufführung, am 4. Oktober 1916, an der Wiener Hofoper zum ersten Mal gegeben, diesmal unter der Leitung von Franz Schalk (1863-1931), die Titelrolle sang wie schon in Stuttgart die berühmte Sopranistin Maria Jeritza (1887-1982). Nichtsdestotrotz wird immer wieder versucht, den Reiz der ersten Version wiederaufleben zu lassen und so kommt gelegentlich auch die erste Version der Ariadne auf Naxos zur Aufführung.
Das Leben eines Werkes…
Um Reinhardt dafür zu danken, dass er die Oper Der Rosenkavalier im Jahr 1911 inszeniert hatte, kam Hofmannsthal, ein glühender Fan von Molière auf die Idee: Le Bourgeois Gentilhomme zu adaptieren, indem er das Ballett la Céremonie turque durch eine kleine dreissigminütige Kammeroper zu ersetzen. Damit wird das Werk Theater und Opernliebhabern Freude bereiten und die vielfältigen Talente des berühmten Regisseurs hervorheben. Der Dichter möchte verschiedene Stile vermischen und sich den französischen Ballett-Komödien des 18. Jahrhunderts annähern. Er schlägt Strauss das mythologische Thema des von Theseus auf der Insel Naxos zurückgelassenen Ariadne vor. Strauss lässt sich von dem Projekt verführen, das er sich als Gedanken-Klammer vor der Inangriffnahme seiner nächsten Oper Die Frau ohne Schatten, Op. 65 (1917) vorgestellt hatte.
Die Uraufführung fand 1912 in Stuttgart statt, wurde aber nur einmal aufgeführt: Am 25. Oktober! Die Hybridform überzeugt nicht und das Werk ist viel länger als erwartet. Angesichts dieses Misserfolgs beschlossen die beiden Künstler ihr Projekt zu überarbeiten: Molières Stück wird durch einen von Strauss selbst komponierten Prolog ersetzt und der Inhalt der Oper leicht verändert: Zerbinettas Arie wird gekürzt, die Schluss-Szene neu geschrieben. Diese 1916 in Wien uraufgeführte Version erlebte einen wahren Siegeszug.
Was Strauss als „kleine Sache mit Molière“ beschrieben hatte, dauerte letztendlich fünf Jahre und bleibt eine der brillantesten Illustrationen vom Theater im Theater. Die französischen Regisseure Jean- Philippe Clarac und Olivier Deloeuil > Le Lab bieten eine Produktion, in der das Video im Mittelpunkt steht und das Konzept eines schwebelosen Absturzes in unbekannte Welten wunderbar ausnutzt wird.
ARIADNE AUF NAXOS - Théâtre des Arts / Opéra de Rouen - Normandie - 15. November 2024
Die Richtigkeit der weiblichen Untreue…
Ariadne auf Naxos gehört zu den Werken, die so meisterhaft sie auch sein mögen, einer sehr fragilen Balance bedürfen um auch wirklich vollkommen zu überzeugen. Die Oper ist stimmlich sehr anspruchsvoll, erfordert aber auch von den Sängern ein quasi Zweitstudium und einen großen Teamgeist, der in diesem Repertoire normalerweise unüblich ist. Es wechselt zwischen Elektrizität und nackter Emotion, Trivialität und Erhabenheit und erfordert zu seiner Verteidigung einen unfehlbaren theatralischen Rhythmus vom Orchester, der Inszenierung und den Solisten auf der Bühne, ohne den es den Eindruck eines Stillstands erwecken kann. Unnötig zu erwähnen, dass wir in der Pause nach dem Prolog trotz einiger unbestreitbarer Qualitäten davon ausgingen, dass die Partitur heute Abend nicht zustande kommen wird. Während wir den Ehrgeiz und die Inszenierungsideen schätzen, fällt es uns schwer, die nötige kollektive Energie aufzubringen und musikalisch haben wir ein wenig den Eindruck einer Warm-Up-Tournee.
Doch sehr schnell, nachdem sich der Vorhang für Ariadnes Auftritt hebt, wird uns klar dass das Niveau in Zukunft völlig anders sein wird. Wenn es dafür viele Gründe gibt, auf die wir auch näher eingehen werden, ist es vor allem der britischen Sopranistin Sally Matthews zu verdanken, dass wir diese Trendwende verdanken. Eine herausragende Rolle spielt hier die dramatische Sängerin! Intensiv, kontrolliert und originell ist ihre Prinzessin mehr als nur tadellos, sie ist zutiefst bewegend. Kehren wir dennoch zu den Details der Aufführung zurück.
Ein ehrgeiziger aber frustrierender Prolog…
Für Molierès Drama Le Bourgeois Gentilhomme, der die Vorstellung mit der ersten Fassung des Werks von 1912 eröffnet und die zu Beginn des Prolog zitiert wird, ersetzten Strauss und Hofmannsthal den Prolog von 1916, den wir heute kennen als eines der markantesten Beispiele eines „Absturz in das unendliche Ungeahnte“ im Opern-Repertoire. Im Rahmen eines reichhaltigen Wiener Empfangs wartet ein junger etwas idealistischer Komponist darauf, dass die von ihm geschriebene opera seria zum Abschluss des Abends uraufgeführt wird. Müde und äußerst nervös erfährt er durch den Haushofmeister, der nicht bereit ist darüber zu sprechen, nach und nach wie viel Missbrauch seine Musikschöpfung erleiden wird. Auf Wunsch des reichen Wiener Aktionärs wird das Drama Ariadne auf Naxos daher von einer commedia dell’arte- Truppe, die als nächstes auftreten sollte: Amputiert und parasitiert, um das geplante Feuerwerk nicht zu verzögern. Die Verachtung des Bürgertums gegenüber Künstlern, das Verhältnis zum Publikum: Die reinste Hölle kann künstlerisches Schaffen verursachen! Das sind alles Themen, die jeden ansprechen können, der bereits an einer Produktion mitgearbeitet hat. Tatsächlich ist das Regisseur-Duo sehr inspiriert und platziert die Handlung des Prologs in einem hyperrealistischen Universum, das in drei Umgebungen unterteilt ist. Die erste, die sich auf der Bühne materialisiert, ist die hinter der Bühne des Veranstaltungssaals, ein Ort der Kreuzung, an dem sich alle Konflikte und Ängste konzentrieren. Die zweite, auf einer grossen Leinwand übertragene, ist die der Umkleidekabinen oder Wohnräume der Künstler, in denen wir Zeuge ihrer Melancholie oder ihres Stresses werden: Den sie nur einfach vor sich hin tragen! Das letzte Bild schließlich, ebenfalls auf dem Bildschirm, ist das Bankett in einem so leeren Raum, dass es surreal wirkt und kaum von ein paar Dienern und dem Haushofmeister besetzt ist. Letzterer kommuniziert also nur über eine zwischengeschaltete Leinwand mit den Künstlern, wie ein Horrorfilm-Bösewicht, dessen höfliche Manieren er auch besitzt, verstärkt durch die Nahaufnahmen des französischen Video-Designers Pascal Boudet auf seinen Lippen mit einer teuflischen Realisation. Das Video zeigt einen völlig statischen Empfangsraum, äußerst weit entfernt von der vom Haushofmeister beschriebenen Dringlichkeit. Dieser Kontrast zwischen dem häuslichen Nichtstun und der absoluten Angst hinter den Kulissen verstärkt nur die Trennung zwischen den beiden Welten und die Verachtung der ersten gegenüber den zweiten.
Dieser erste Teil ist seiner Kunst nach voller Information und versetzt den Zuschauer fast bis zur Übersättigung in den Albtraum der Vorbereitungen, da das Auge ebenso wie der Intellekt nicht immer in der Lage ist, alles zu würdigen was ihm geboten wird. Allerdings funktioniert nicht alles so gut! Aus dieser sehr realistischen Perspektive sind die Ungleichheiten in der Regie der Sänger deutlich zu spüren. So sehr alle mit Ariadne verbundenen Charaktere glaubhaft und bei der Primadonna und dem Tenor sogar sehr nuanciert sind, so werden die leichten Rollen mit Ausnahme des Tanzmeisters in einer zu einfachen Karikatur dargestellt. Anstatt den Konflikt zwischen den beiden Umgebungen zu zeigen, wird die Handlung dadurch nur noch heftiger: Kapuzenpullover, Fußballfan-Trainingsanzug, Pizzakarton… Die Grenze ist etwas weit und grenzt sogar an Klassenverachtung! Das Kollektiv kämpft trotz prominenter Individualitäten um seine Existenz auf der Bühne. Die Hyperaktivität der Inszenierungswahl spiegelt sich tatsächlich nicht vollständig in der Interpretation wider, insbesondere aufgrund der recht klugen Masken und der amüsanten Zerbinetta.
Das ist auch das grosse Problem dieses Prologs, dem es musikalisch etwas an Brillanz mangelt und der den Eindruck einer Warm-up-Tour vermittelt. Dafür ist nicht unbedingt die musikalische Leitung des britischen Dirigenten Ben Glassberg verantwortlich, wir empfinden sie als volle theatralische Intentionen und auch voller Energie. L‘Orchestre de l’Opéra de Rouen Normandie weist jedoch neben leichten gelegentlichen Verschiebungen auch einige Intonations- und Homogenitätsprobleme auf.
Der Haushofmeister interpretiert von dem französischen Schauspieler Fabien Leriche ist äußerst unsympathisch, sehr edel und vollkommen hochmütig, auch wenn sein Deutsch nicht gerade sehr einheimisch klingt. Ein ausgezeichneter Tanzmeister ist der englische Tenor Grégoire Mour: Die Stimme ist flexibel und verführerisch und der Bühnencharakter lässig… sehr überzeugend. Der britische Bariton William Dazeley ist als ein von Ereignissen überwältigter Musikmeister ebenso gut besetzt. Die Primadonna und der Tenor haben bis auf ein paar Laute wenig zu singen, aber Matthews und der britische Tenor John Findon sind hervorragend auf der Bühne sowie auf der Leinwand, wo ihr Schauspiel sehr überzeugend ist, während die Nahaufnahmen für Sänger manchmal schädlich sein können. So gelingt es ihr, trotz ihrer Starrheit in der Öffentlichkeit rührend zu wirken, während er bemerkenswert witzig ist. Die Zerbinetta der norwegischen Koloratur-Sopranistin Caroline Wettergreen ist in diesem Akt ziemlich transparent und raubt der Szene viel von der komödiantischen Energie, die sie bieten sollte. Schließlich beginnt die englische Mezzo-Sopranistin Paula Murrihy als Komponist etwas zu kalt, mit einer Stimme, der es trotz der Intensität ihres Engagements und ihres Deutsch an Stahlkraft und Wirkung mangelt. Das verbessert sich im Nachhinein deutlich, bis zu einem sehr gelungenen und stimmlich engagierten „Seien wir wieder gut“, was dieses Ende des Prologs umso frustrierender macht, da wir den Eindruck hatten, dass die „Mayonnaise endlich steif“ geworden ist.
Wenn wir in der Pause eine leichte Enttäuschung verspüren, liegt das hauptsächlich daran, dass wir das Gefühl haben, dass alles hervorragend hätte laufen können und dass es uns vor allem an der Gesamtenergie und der Verbindung mangelt: Um Unterstützung zu gewinnen! Die einzelnen Elemente funktionieren, aber der künstlerische Albtraum, den die Inszenierung darzustellen versucht, ist nur theoretisch, weil ihm eine lebendigere Verkörperung fehlt. Glücklicherweise wird uns die Fortsetzung beweisen, dass es nur ein Fehlstart war.
Die ganze Pracht von Naxos…
Von den ersten Tönen des Präludiums bis zum Akt der Ariadne erreicht das Orchester eine völlig neue Dimension und übertrifft sogar die Erwartungen: Intensiv, lyrisch und opulent trägt sein Engagement für diesen Akt die gesamte Bühne mit sich. Glassberg ist dort hervorragend, in einer leidenschaftlichen und animierten Version. Wenn es ihm gelingt, die Reden während der Ariadne-Arien oder des Schlussduetts sehr gut zu beruhigen, bedauern wir dennoch, dass auch die Ensembles der Nymphen wenig Raum für Magie haben, die nur in eine große Geste verwickelt ist: Ihnen aber keinerlei Nutzen bringt.
Das Interpreten-Trio steht auf keinen Fall in Frage, denn seine Exzellenz macht es zu unverzichtbaren Charakteren: Ob es sich um die Najade der koreanischen Sopranistin Yerang Park, das Echo der französischen Sopranistin Clara Guillon oder die Dryade der französischen Mezzo-Sopranistin Aliénor Feix handelt, die drei Sängerinnen sind tadellos in Bezug auf stimmliche Flexibilität, Farben und Präsenz. Im selben Register und wie auch im vorherigen Kommentar sind wir aus Geschmacksgründen jedoch sehr traurig über die szenische und musikalische Entscheidung: Das Echo nur zu einer Nymphe unter den anderen zu machen, ohne dass ihre musikalischen Besonderheit besonders hervorgehoben wird. Auch die vier Masken: Mour, der englische Tenor Robert Lewis als Scaramuccio, der serbische Bariton Leon Košavić als Harlekin und der britische Bass David Shipley als Truffaldin können sehr überzeugen und funktionieren insgesamt viel besser als im ersten Teil, auch wenn sie offensichtlich nicht im Mittelpunkt des Interesses der beiden Regisseure stehen, somit geben sie doch einen ziemlich konventionellen Eindruck mit ihrer Darbietung. Harlekin, der einzige der vier, der von einer Arie profitiert, wird von Košavićs beeindruckendem Bariton getragen, einem von unten nach oben klingenden Harmonieblock mit lockerer Höhe, der zu mehr Nuancen und Humor fähig ist. Wir können deutlich erkennen, dass die Besetzung der Nebenrollen sehr gut sind und den größten Opern-Häusern in nichts nachsteht. Die letzte der Comedy-Truppe, Zerbinetta wird an diesem Abend nicht von einer gewissen Zurückhaltung abgewichen sein, auch wenn die Inszenierung ihr mehr Extravaganz in ihrer Arie zugesteht. Wettergreen verfügt über die Koloraturen und hohen Tönen der Rolle, aber es mangelt ihr an Biss und Brillanz, um wirklich das störende Element zu sein und die Spannungen zwischen ihr und Ariadne glaubhaft zu machen.
Der Eigentliche Höhepunkt des Abends kommt in den letzten zehn Minuten mit dem Bacchus-Ariadne-Duett, das in einer szenischen und stimmlichen Apotheose gipfelt. Findon ist ein wahrhaft heldenhafter Tenor, der in allen Bereichen tapfer ist und dessen Jugendlichkeit ebenso geschätzt wird wie sein Mangel an Härte. Darüber hinaus ist sein Bacchus äußerst witzig, da die Figur hier im zweiten Grad gespielt wird mit den donnernden hohen Tönen, die das impliziert: Der Tenor wird als gestresster Mensch mit wenig Selbstvertrauen dargestellt, er interpretiert seine Rolle ohne zu wissen, ob seine Stimme gut positioniert ist oder ob er sich so verhält wie er sollte, was immer wieder die Ermutigung des Komponist und des Musikmeisters erfordert. Er erweist sich in den letzten Minuten als sehr rührend, als er sein lächerliches Kostüm aufgibt um sich zu offenbaren und dabei den Rahmen des Mythos sprengt. Was Matthews betrifft, so schien sie uns wie schon gesagt, meisterhaft in einer Rolle, die so großartig sie auch war, schnell in Heroismus verfiel. Ihre Ariadne ist voll verkörpert, insbesondere dank ihrer offensichtlichen Beherrschung der deutschen Sprache – jeder Konsonant ist ausdrucksstark – und auch einer idealen Stimme für diese Rolle. Das Gespür für die so typische Strauss-Gesangs-Linie, das großzügige aber kontrollierte Vibrato, der Atem, der es ihr ermöglicht die erforderlichen Hauptphrasen anzunehmen: Und natürlich die Projektion! Wir bemerken nicht einmal mehr alle technischen Qualitäten, da alles in ihrer Darbietung im Dienste der Emotion steht. Weit davon entfernt, nur eine Prinzessin zu sein, die in ihre Gleichgültigkeit und Trauer gehüllt ist, zeichnet sie wirklich eine sensible Figur: Deren Würde die Risse nicht mehr verbergen kann und außerdem ist sie ja auch eine Primadonna, die weniger einheitlich hochmütig ist als andere!
In diesem Akt finden wir auch den Haushofmeister wieder, interpretiert von Leriche, dessen spezieller Rahmen von der Inszenierung genau gewählt wurde: Eine überdimensionale Bankett-Tafel, die alles miteinander verbindet. Die Charaktere sind daher sowohl Zuschauer als auch Sänger und Schauspieler der Oper mit bestimmten sehr starken Bildern. So wirkt Ariadne, die auf dem Tisch liegt, als sich der Vorhang hebt, angesichts der großen Vulgarität des Haushofmeisters, der seine Selfies und Ausdrucksformen der Selbstzufriedenheit verdoppelt und umso einsamer wird die Künstlerin in diesem Moment, die auch die verlassene Prinzessin darstellt. Sie wird somit ein Objekt des gierigen konsumorientierten Publikums und wird gleichgültig weitergereicht zwischen leeren Tellern und Gläsern.
Dieses aufgeräumte Dekor wird nach und nach durch die Masken durchbrochen, die ein Loch in der Wand ausnutzen, ein Fenster schaffen, aus der Decke auftauchen… Bis zu einem Höhepunkt der Destrukturierung, denn in einer sehr lustigen Szene werden die Künstlerteams die Techniker dazu zwangen den Vorhang zu schließen um die Szene vor der Ankunft von Bacchus wieder in Ordnung zu bringen. Sie werden aber jedoch später schweigend zurückkehren, um ihre Rechnung ein für alle Mal mit dem Haushofmeister zu begleichen. Am Ende steht somit der Triumph der Künstler über das ungebildete Bürgertum und die Versöhnung zwischen ihnen, die durch diese Verschiebung der Herrschaftsverhältnisse entsteht. Das geplante Feuerwerk findet also statt, doch der Haushofmeister nimmt nur geknebelt und verlassen teil, während wir auf das Video sehen, wie die gesamte Truppe davonläuft, um draußen gemeinsam das Ende der Show zu feiern.
Diese in ihren Mitteln moderne Inszenierung erzählt nichts grundsätzlich anderes als das, was wir über das Werk wissen und hat den Vorzug: Vollständig lesbar zu sein! Es hat eine gewisse Poesie, insbesondere durch die Lichteffekte – die Schatten der Nymphen in ihrem letzten Eingriff – und vor allem durch die großartige Qualität der Korrespondenz mit musikalischen Ereignissen. Die Tonbrüche, die Höhepunkte, die anmutigen Momente werden alle theatralisch umgesetzt und lassen Raum für die Emotionen, die die Partitur anstrebt. Seine Grenze liegt für uns in der Behandlung komischer Charaktere, die amüsant, aber sehr harmlos sind und die wir nie wirklich verstörend finden können. Ja, Sexualität ist sehr präsent, aber das Libretto und die Musik sind so voll von nicht besonders subtilen Anspielungen, dass wir sie als konventionell empfinden müssen. Das ist umso bedauerlicher als das die Show sehr lustig und auch in anderen Aspekten viel bissiger ist.
Das sind nur geringe Vorbehalte gegenüber einer ambitionierten klugen und sensiblen Inszenierung. Ein sehr inspiriertes Orchester, tolle Entdeckungen in den Nebenrollen und eine große Rollenübernahme, das hat mehr als gerechtfertigt, nicht nur beim Eindruck des ersten Teils zu bleiben. Auch wenn die am Anfang des Artikels erwähnte Ausgewogenheit nicht immer erreicht wird, berühren wir auf jeden Fall das, was den Kern des Werks ausmacht: Das Erhabene und das Groteske im selben Raum zu vereinen und gleichzeitig Lachen und Tränen hervorzubringen. (PMP/26.11.2024)
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