Rouen, Opéra Normandie, La Traviata - G. Verdi, IOCO

Rouen, Opéra Normandie, La Traviata - G. Verdi, IOCO
Théâtre des Arts, Opéra Normandie Rouen © WikiCommons

26.09.2025

 

DIE WIRKLICHKEIT ALS MÄRCHENSPIEL…

VIOLETTA
È strano! E strano!... in core
Scolpiti ho quegli accenti!
Saria per me sventura un serio amore?...
Che risolvo, o turbata anima mia?...
Null’uomo ancora t’accendeva… O gioia
Ch’io non conobbi, esser amata amando!...
E sdgnarla poss’io
Per l’aride follie del viver mio?...

(Szene und Arie der Violetta / Auszug / 1. Akt)

 

Sehnsucht nach der Sehnsucht…

Vor die Aufgabe gestellt, in eine Formel zu fassen, was die Opern Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Giuseppe Verdi (1813-1901) unterscheidet, könnte man sagen, dass der eine die Unwirklichkeit der Gattung wie niemand sonst in deren Geschichte überwindet, der andere sie  aber genau umgekehrt und durchaus mit Pauken und Trompeten bestätigt. Bei Mozart sind die Personen exakt das, als was sie erscheinen. Ihr Erscheinungsbild ist die Wirklichkeit. Die nicht zu bestreitende Künstlichkeit des auf der Bühne singenden Menschen hebt sich in der Klarheit, in der Natürlichkeit und am meisten vielleicht in der Vielschichtigkeit der Bühnenspiele von Mozart und seiner Musik auf. Bei Verdi dagegen stellen sich die Figuren ungeschminkt geschminkt dar. Das Kostüm- und Schmink-Wesen, vor dem Richard Wagner (1813-1883) so graute und das er deshalb so gerne unsichtbar machen wollte, ist sich Verdi seiner selbst stets bewusst. Zuvörderst ist und macht die Verdi-Oper Theater! Dessen Requisiten sind der Fundus für ihr Vokabular, Bilder und Zeichen ihr wichtiger als das Wort, ja das Wort selbst ist nie Bestandteil natürlichen Redens, sondern sehr viel eher – vermittelt der von Verdi unermüdlich geforderten parola scenica, dem szenischen Wort – ein Austausch von Gesten auf der Bühne. Vergrößern und verkleinern, in jedem Fall ein ständiges Übertreiben, sind in solchen Zusammenhängen zentrale Mittel der Dramaturgie und das Resultat irreale Bühnenspiele voll holder Unvernunft, Theaterblödsinn durchaus in der Nähe von Comic  und Kasperle.

  

Und doch ist Verdi im Jahrhundert der Romantik einer der ganz wenigen Realisten und unter diesen wenigen vielleicht sogar der größte. Schaut man hinter die spektakulären Märchenbilder von Rigoletto (1851), La forza del destino (1862) oder Simon Boccanegra (1857), entschlüsseln die theatralischen Metaphern sehr bald sehr konkrete und oft genug sehr scharfe politische  und gesellschaftliche Inhalte. Ja, vielleicht hat niemand im 19. Jahrhundert so starke politische Opern geschrieben als Verdi, kaum einer der Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft ist ähnlich witzig scharf, objektiv und vergleichbar fern von jedem romantischen Selbstmitleid dargestellt. Dafür ist nicht zuletzt La Traviata ein bemerkenswerter Beleg.

 

Dabei ist das dritte Glied in der Kette der „Trilogia popolare“ nach Rigoletto und Il trovatore (1853) nicht in dieser Dreiergruppe, sondern auch ganz generell in der Werkreihe  Verdis unbestritten ein Sonderfall. Die Opern zuvor spielen in ferngerückten Märchenwelten, La Traviata aber in der Zeit des Komponisten. Natürlich geht es in Ernani (1844), Attila (1846), Macbeth (1847), Rigoletto oder in Il trovatore u. a. auch um Liebesangelegenheiten, eigentlich jedoch nur als Voraussetzung und Triebkraft für ganz andere Themen: Die Spannung z. B. zwischen Liebe und Macht, Wahrheit und Lüge, Unterdrückung und Aufruhr. La Traviata dagegen ist zunächst einmal ein Liebesgedicht aus der Gegenwart des Komponisten. Und das sogar mit einer Geschichte, die ihn buchstäblich ganz persönlich betraf.

 

Denn wer könnte leugnen, dass Verdis zweite Frau, seine eigentliche Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi (1815-1897), ebenso wie Violetta Valery erst durch eine große Liebe zu sich selbst fand? Wer bestreitet, dass den biederen Kleinstädter Antonio Barezzi (1787-1867), der Verdis erster Schwiegervater und in der Jugend des Komponisten sein unermüdlicher und unbeirrbarer Förderer war, ganz ähnliche Sorgen bewegten wie Giorgio Germont?

Chelsea Lehnea (Violetta) und Leonardo Sanchez (Alfredo) © Caroline Doutre

 

Die Tochter des Kapellmeisters Feliciano Strepponi (1793-1832) verbrachte ihre Jugend in Monza und Triest. Nach dem frühen Tod Vaters wurde sie Freischülerin am Mailänder Konservatorium und stieg, gefördert von den Theaterunternehmern Alessandro Lanari (1787-1852) und Bartolomeo Merelli (1794-1879), nach ihrem Debüt  1835 bereits als 20-jährige zur großen Primadonna auf. Doch trotz überragender Erfolge hatte die Strepponi wenig Grund, sich glücklich zu fühlen. Sie, die für die Mutter und drei jüngere Geschwister zu sorgen hatte, zermürbte sich in einem für die Zeit typisch unsteten Sängerleben, das sie quer durch Italien und nach Wien und einer fragwürdigen Beziehung zur nächsten trieb. Merelli ließ die Sängerin kurz nach der Geburt eines Kindes im Stich und Napoleone Moriani (1808-1878), der berühmte „Tenor des schönen Todes“, behandelte sie kaum nobler. Als sie auch von Moriani ein Kind erwartete, machte dieser sich ebenfalls aus dem Staub. Erste Anzeichen für ein Nachlassen der Stimmkraft nahm sie so zum eher willkommenen Anlass für einen frühen Rückzug. Grade über dreißig, beendete die Diva Strepponi ihre Bühnenlaufbahn und ließ sich einigermaßen verbittert, als Gesangspädagogin  in Paris nieder.

 

Hier aber begegnete  sie nun dem Menschen, der ihr Leben entscheidend veränderte. Auf einer ersten größeren Auslandsreise zur Premiere der I Masnadieri (1847) nach Friedrich von Schillers (1759-1805)  Schauspiel Die Räuber (1781) in London machte Verdi zweimal in Paris Station und besuchte die Mitarbeiterin seiner ersten Mailänder Erfolge. Aus einer schon lange währenden Sympathie wurde ein Bund fürs Leben.

 

Strepponi und Verdi sind von nun an fast immer beisammen. Oft halten sie sich in Paris auf. Oft sind sie aber auch in Busseto, wo der Musiker voller Elan den Kauf und den Ausbau seines Landgutes im nahen Sant’Agata betreibt. In der Kleinstadt stößt das Paar freilich auf beträchtliche Reserve. Die Bussetaner nehmen Anstoß daran, dass „ihr“ Maestro in der Heimat seiner ersten Frau mit einer ihm noch nicht einmal angetrauten „Dame vom Theater“ lebt. Der alte Barezzi beklagt die Lebensführung seines ehemaligen Schwiegersohnes. Verdis berühmt gewordene Antwort auf die Beschwerde ist eines der großartigsten Zeugnisse seiner ebenso weltoffenen wie würdigen Menschlichkeit.

 

„In meinem Hause“, schreibt Verdi am 21. Januar 1852 aus Paris an Barezzi, „lebt eine Dame – frei, unabhängig, die Einsamkeit liebend wie ich, mit einem Vermögen, das sie vor jeder Notlage schützt. Weder ich noch sie sind über unser Tun irgendjemand Rechenschaft schuldig; aber andererseits, wer weiß, was für Beziehungen es zwischen uns gibt? Was sind unsere Geschäfte, was unsere Bindungen, was die Rechte, die ich über sie habe und sie über mich? Wer weiß, ob sie meine Frau ist oder nicht? Und  in diesem Fall, wer weiß, was die besonderen Gründe, was die Absichten sind, die Veröffentlichung zu verschweigen? Wer weiß, ob das gut oder schlecht ist? Warum könnte es nicht auch etwas Gutes sein? Und wäre es auch etwas Schlechtes, wer hat das Recht, den Bannfluch gegen uns zu schleudern?

Ich will sogar sagen, dass ihr in meinen Haus die gleiche und sogar noch größere Achtung gebührt als mir, und dass es daran niemand fehlen lassen darf, unter keinerlei Vorwand; und dass sie schließlich darauf jeden Anspruch hat, sowohl wegen ihrer Haltung wie ihres Geistes und ihrer besonderen Rücksicht auf andere, voran sie es niemals fehlen lässt.“

 

Das der Plan, Entwurf und die Ausführung der La Traviata mit der endgültigen Verbindung Verdis mit Strepponi Hand in Hand gehen, ist nicht zu übersehen. „Peppina“ begeistert den Komponisten für den Roman von Alexandre Dumas d. J. (1824-1895)? Gemeinsam sehen sie sich im Pariser Vaudeville-Theater die Bühnenfassung La Dame aux camélias (1852) an. Und Verdi war von  der Aufführung ganz gewiss nicht zuletzt deshalb besonders ergriffen, weil er im Geschehen auf der Bühne Spuren erkannte von Ereignissen, Begegnungen und Erfahrungen aus dem eigenen Leben.

 

Freilich wäre es völlig verfehlt, aus diesen unleugbaren intimen Beziehungen auf eine sozusagen autobiografische Oper zu schließen. Dagegen sprechen nicht nur gravierende Unterschiede in der Sache! Vielmehr lagen solche Tendenzen Verdi zeitlebens denkbar fern. Man braucht sich nur an die ichbezogenen Schwärmereien  einer Symphonie fantastique, Op. 14  (1830) von Hector Berlioz (1803-1869) oder auch an Opernfiguren wie Tannhäuser (1845) von Wagner bis zur Lebensgeschichte von  Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) zu erinnern und man bemerkt sofort den großen und grundsätzlichen Unterschied.

Szenenfoto LA TRAVIATA © Caroline Doutre

 

Sehr wohl allerdings bedachte der Theatermann Verdi bei der Komposition seiner Bühnenspiele die Zustände in der Welt und Gesellschaft und die Natur des Menschen. Und in wie irrealen Zeichen und Bildern auch immer, träumen alle seine Opern in ihrem Kern von sehr konkreten politischen und gesellschaftlichen Hoffnungen.

 

La Traviata entwirft in diesem Kontext ein aufregend modernes Bild von einer unabhängigen und freien Frau. Charakteristischerweise setzt Verdi für die Gestaltung der Violetta Valery eben jene Mittel ein, die er zuvor seinen avanciertesten männlichen Protagonisten vorbehielt. Rigoletto z. B. äußerst sich in offenen Formen, Gilda und der Herzog repräsentieren im Vergleich dazu eher die Tradition. In La Traviata dagegen bewegen sich musikalisch wie gesellschaftlich insbesondere Giorgio Germont, tendenziell auch sein Sohn , im sicheren Terrain des Vertrauten und Etablierten. Die Formen ihres Singens neigen dazu, in sich abgeschlossen, d. h. rückversichert zu sein. Ganz unüberhörbar pocht Giorgio Germont auf den Regelkanon und die Konventionen einer geordneten Welt. Violetta aber agiert offen, weicht keiner Erfahrung, keinem Abenteuer aus und postuliert mit einem Parlando, das in jedem Augenblick frei und dazu fähig ist, sich vom bloßen Sprechen hin zur Kantilene zu öffnen – und umgekehrt vom Arioso zurückzukehren zu einem freien Parlando -, den Anspruch auf ein von Konventionen und Normen unberührtes Leben, auf menschliche und gesellschaftliche Unabhängigkeit.

 

Das große Duett des 2. Aktes zwischen Violetta Valery und Giorgio Germont ist hierfür ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Giorgio verlässt hier nie die geschlossene Form. Ein wenig überspitzt könnte man sagen, er singt eine kleine Arie  nach der anderen, Unbestreitbar jedenfalls sind  Cavatine  und Lied die Markenzeichen seiner umgrenzten, durch Gewohnheiten und Gesetze geschützten Welt. Violetta dagegen attackiert die „geordneten“ Appelle und reagiert frei und ohne alle institutionalisierten Hilfen, auch musikalisch ganz auf sich allein gestellt und ausschließlich angewiesen auf die eigene vielfältige, aber eben nicht durch den Regelkanon einer geschlossenen Gesellschaft gestützte und abgesicherte Menschlichkeit.

 

Mit der Beweglichkeit und im aufgespaltenen ihrer Melos beansprucht Violetta die avancierten und grenzüberschreitenden Vokabeln im Singen etwa so Rigolettos für die Verhaltungsweisen einer Frau. Natürlich gewinnen damit diese Vokabeln bei aller Ähnlichkeit in der äußeren formalen Anlage eine ganz andere innere Wesensart. Selten jedenfalls hat Verdi die Empfindungspalette einer Frau ähnlich eindeutig  und ausschließlich zur zentralen Grundfarbe einer Opernpartitur gemacht, zu eben dem, was er als prägendes Merkmal und Kennzeichen deren tinta musicale nannte. Die tinta der La Traviata ist das Sensibilitätsspektrum einer großen Frau, ihr Zittern in der Spannung zwischen Angst und Hoffnung, Jubel und Schmerz, Freude und Wut. Man kann die La Traviata-Musik auf eine einfache Formel bringen: Im weitläufigen Fadenkreuz einer überaus gewöhnlichen und oft genug ordinär frechen Amüsiergesellschaft auf der einen und auf der anderen Seite kaum minder gewöhnlichen, weil fantasielos stumpfen und in Regeln eingeschlossenen Bürgerwelt zittert der Lebensanspruch und die Gefühlshoffnung einer Frau, die träumt das Utopia von einem großen und von allen Zwängen befreites Glück.

 

All das ist freilich kein Grund, die Figur der Violetta zu idealisieren oder gar zu heroisieren. Einmal strebt sie ja nicht wie Lady Macbeth nach Macht, sondern will nur eine Frau sein, nichts weiter. Zum anderen aber zeichnet Verdi auch seine La Traviata – wie alle seine gerade musikalisch interessantesten Protagonisten – nicht nur positiv, sondern durchaus im Spektrum ihrer eigenen Widersprüche. Die triviale Welt von Marsch und „hm-ta-ta“ steht ihr nicht nur gegenüber, sie ist auch ein Teil von ihr. Das ist bei Violetta nicht anders als bei Rigoletto. Und wenn der Hofnarr an seiner Lebenslüge scheitert, seine politischen Entwürfe  bei sich zu Hause im Schrank zu verstecken, ansonsten aber  einem von ihm selbst als verbrecherisch erkannten System bedingungslos und Zynisch zu dienen, verfehlt Violetta ihr Lebensziel neben vielem anderen auch wegen ihrer eigenen Unfähigkeit, sich vollständig von ihrem Umfeld zu befreien, d. h. musikalisch gesprochen, mit der Ruhe der Kantilene die Hektik und die Aufgeregtheit des  „hm-ta-ta“ zu vernichten. Denn Verdis vielleicht größte Frauengestalt ist pausenlos nervös unterwegs  und findet Ruhe allenfalls im Wunschbild der Liebe, nicht aber in deren konkreter Erfüllung.

Szenenfoto LA TRAVIATA © Caroline Doutre

 

Tatsächlich gibt es nur einen Moment, in dem Violettas aktive Glücksforderung, ihr grenzen- und ruheloser Lebensanspruch Wirklichkeit geworden zu sein scheint. Wie so oft bei Verdi ereignet er sich im Abbild des Todes, der allein Violettas nervöses Unterwegs- und „Aufdersuchesein“ befriedet. Die schönste musikalische Formulierung hierfür liefert das grandiose Vorspiel zum 3. Akt. Viergeteilte Violinen schaffen eine unsagbare Atmosphäre von unendlicher Zartheit und sozusagen durchsichtiger Empfindsamkeit. In wenigen Minuten, in denen die Zeit stille zustehen scheint, ein Ausdruck von dem, Was Violetta zeitlebens suchte…

 

Niemand hat dieses geniale Vorspiel treffender und schöner beschrieben als Arrigo Boito (1842-1918).  Seine Stichworte deuten zugleich an, was in La Traviata insgesamt, aber insbesondere im 3. Akt in der Spannung zwischen zitternder Unruhe und der Stille einer gestorbenen Hoffnung einander gegenübersteht: „Welch ein Schweigen! Welch eine unbewegliche und schmerzliche Ruhe! Welch ein Ereignis in Tönen! Der letzte Atemzug einer Sterbenden, verbunden mit der letzten Erinnerung an ihre Liebe!“

 

Der ausgeprägte Kunstcharakter des Vorspiels zum 3. La Traviata-Akt ist allerdings auch einer von vielen Hinweisen dafür, dass man den großen Realismus von Verdis Adaption von Dumas‘  La Dame aux camélias keineswegs missverstehen darf. Wenn sich die Sänger der missglückten Uraufführung am 6. März 1853 im venezianischen Teatro La Fenice weigerten, in Kleidern zu singen und zu spielen, die in Paris aktuell in Mode waren und die man dort und anderswo auf den Straßen und den Salons trug, und wenn diese Sänger  deshalb Komponist und Librettist zwangen, die Zeit des Geschehens in die Epoche von König Louis XIV. (1638-1715) zurückzudatieren, verbirgt sich hinter diesem Konflikt zwischen dem Librettisten Francesco Maria Piave (1810-1876), dem Komponisten und ihren ersten Interpreten auch eine grundsätzliche Schwierigkeit. Denn es ging bei dem Streit um die Kostüme wohl nicht nur um reaktionäre Sängerstars, die  ihr Privileg verteidigten, wenn schon nicht in prunkvollen Gewändern von Königen und Fürstinnen, so doch zumindest in den pittoresken Lumpen eines Banditen auf der Bühne zu erscheinen. Das  war sicher ein Aspekt der Sache! Der andere und aus der Sicht von heute gewiss wichtigere aber ist die Tatsache, dass sich Verdis Zeitstück jedem platten und allzu direkten Realismus widersetzt. Die Parallele ist oft beschworen worden, aber gleichwohl falsch. La Traviata hat mit Giacomo Puccinis (1858-1924) Verismo wenig bis gar nichts gemein und steht Rigoletto und Il trovatore weitaus näher als La Boheme (1896).

 

Denn die Vokabeln und musikalischen Formen der La Traviata-Musik sind die der „Trilogia popolare“. Wie in den „Märchenspielen“ Rigoletto und Il trovatore begegnen sich auch in der La Traviata Kantilene und „hm-ta-ta“, Cavatine und Marsch, vollzieht sich die Handlung in primär musikgeprägten Formen, von der üblichen Introduktion mit abschließender Stretta über die große Szene mit Arie bis zum großen pezzo concertato im 2. Akt. Gerade dieses kontrastreiche „Konzert“, das zu recht als eines der schönsten und differenziertesten in der an Juwelen nicht eben armen Reihe von Verdis spezzi concertati gepriesen worden ist, macht besonders deutlich, wie unbeirrt Verdi auch in einer realistischen Ambiente der La Traviata am Primat der Musik und damit am irrealen Kunstcharakter seiner Gattung festhält. Die Handlung wird an einem Punkt getrieben, von dem ab in einer „theatralischen Momentaufnahme“ nur noch die Musik etwas zu sagen hat. Die trivialen Rhythmen der Kartenspieler verstricken den eifersüchtigen Alfredo in die banalen Geschäfte des Alltags und entfernen ihn damit von seiner Liebe. Die Melodien Violettas beten zu Gott und entrücken diese Liebe ihrerseits in ein Reich nicht mehr von dieser Welt: Im Mit- und Gegeneinander der Stimmen präsentieren sich die konträren Pole eines dramatischen Konflikts als ein reiner Kunstorganismus, nur als ein Konzert von Stimmen in musikalischer Form.

 

Im Pochen auf den Kunstcharakter im Zeitstück La Traviata beantwortet Verdi eine Frage definitiv, die ihn zuvor schon lange beschäftigt hatte, die Frage nämlich, wie direkt seine Theatergattung und ihre musikalische Sprache sich der Wirklichkeit nähern sollte und konnte. Das Problem  motivierte ihn in seinen Lehrjahren zu den unterschiedlichsten Experimenten, z. B. mit einem dicht an der Sprache entlangkomponierten 3. Macbeth-Akt und einem extrem naturalistischen Parlando des sterbenden Protagonisten im Finale der ersten Fassung dieser William Shakespeare (1564-1616) – Oper, oder auch mit dem versuch, die gesellschaftlichen Inhalte von Schillers Kabale und Liebe (1784) in die eigene Opernwelt zu übertragen. Beide Experimente scheiterten! Bei der Revision seiner Shakespeare-Oper komponierte Verdi den 3. Akt völlig neu und ersetzte den ihn musikalisch nicht mehr befriedigenden Parlando-Schluss durch ein großes Chorfinale. Schillers bürgerliches Trauerspiel missriet ihm zu seiner eigenen großen Enttäuschung zur Tiroler Idylle. Nicht weniger  misslang der unmittelbar im Vorfeld der „Trilogia  popolare“ unternommene radikale  Entwurf des Stiffelio (1850). In dieser uraufgeführten Oper geht es um die Geschichte eines evangelischen Pastors in Deutschland, der den Ehebruch seiner Frau mit den Bibelworten „Wer hübe wohl den ersten Stein!“ verzeiht: Eine Sache von revolutionärer Kühnheit um die Mitte des 19. Jahrhunderts im katholischen Italien. Das im Inhaltlichen so progressive Konzept wurde freilich ein Fiasko. Aber man  machte es sich zu einfach, wenn man dessen Ursachen nur  in dem Umstand suchen würde, dass das italienische Publikum von 1850 für die progressive Konfliktlösung  nicht zu gewinnen war. Weitaus entscheidender für den Misserfolg war wohl, dass sich die Idealität der Musik  an dem realistischen Appell dieser Konfliktlösung rieb, Idealität und konkrete Wirklichkeit sich im  unmittelbaren Beieinander gegenseitig lächerlich machten. Der Anspruch von und die Forderung nach Realismus konnten in Verdis Opern-Typ aus so direkte Weise nicht eingelöst werden.

 

Mit seiner Opernversion des Dumas-Romans La Dame aux camélias hebt sich nun aber dieser Widerspruch auf frappierend einfache Weise auf. Verdi entscheidet sich einerseits für einen gesellschaftlich aktuellen und brisanten Stoff, entwickelt für ihn aber zugleich – unterstützt von seinem stets dienstbereiten und inzwischen in Opernsachen äußerst erfahrenen literarischen Assistenten Piave – theatralische Erscheinungsbilder, in denen er diesen Stoff der eigenen Zeit mit den Möglichkeiten seines Operntyps darstellen konnte. Nicht wird, wie im 3. Macbeth-Akt und im Parlando des sterbenden Macbeth, die eigene Sprache tendenziell aufgegeben, sondern es werden umgekehrt französische Romanfiguren so konsequent in Opernwesen verwandelt, dass sie erst im Gesang und mit ihrem Singen zu leben beginnen. Nicht wird, wie im Stiffelio, ein sympathischer Inhalt ins falsche Gefäß gefüllt, sondern es werden umgekehrt reale Inhalte kunstvollen Gefäßen angepasst, ja zu geschneidert. Das aber heißt und bedeutet: Die Wirklichkeit mutiert zur Metapher!

 

Im Vergleich zu Rigoletto verkehren sich damit die Verhältnisse ins Gegenteil! Dort gilt es, den realen und politischen Kern unter der Schale eines spektakulären Theaterbildes zu entdecken. In der La Traviata dagegen geht es um die Kunstdimension einer realen Geschichte. Erst und nur das utopische Märchen hinter der realen Oberfläche begründet den Opernzauber von La Traviata. Metaphern sind hier mithin nicht zu entschlüsseln, sondern zu erschaffen. Denn nur in dem Maße, in dem sich La Dame aux camélias des Dumas zur kunstvollen und künstlichen Opernfigur verändert, wird sie zu einem echten Soprano spinto in Verdis Opernwelt. Und erst in dieser unvernünftigen Erscheinung kann die Sehnsucht und das Suchen der Violetta zum Abbild werden von Wahrheit und Wirklichkeit.

Aliénor Félix (Annina) und Chelsea Lehnea (Violetta) © Caroline Doutre

 

Die zerbrechliche Empfindsamkeit Violettas dokumentiert sich folgerichtig nicht im bloßen Stoff und auch noch nicht im Inhalt der Oper, sondern in erster Linie, ja fast ausschließlich in der Musik. Aufgeregte Begleitfiguren der Streicher und Holzbläser signalisieren Unruhe, Triller und zitternde Seufzer, Flötenkantilenen und hektische Repetitionen der Violinen, große melodische Bögen und höchste Virtuosität im Gesang selbst konstituieren das Beieinander von Gefühlsweite und Atemlosigkeit. Auch das gesellschaftliche Bezugssystem der Protagonistin wird vornehmlich musikalisch formuliert, mit verlogener Triangel-Munterkeit im Tanz der Spanierinnen z. B., mit den frechen Märschen der Straße, aber auch in einer engen und in sich verschlossenen Melodik, die sich weigert, sich zur Weite und Freiheit im Singen Violettas zu öffnen.

 

Keine Frage im Übrigen, dass erst diese musikalischen Charakteristika der Geschichte von La Dame aux camélias ihre eigentliche Größe und Wahrhaftigkeit verleihen. Der rührselige Kitsch des französischen Romans fehlt  der italienischen Oper völlig. Denn allen möglichen autobiografischen Bezügen zum Trotz schildert Verdi seinen Gegenstand aus der Distanz des Theatermachers. Alfred Einstein (1880-1952) hat einmal zu Mozarts Cosi fan tutte, K 588 (1790) geschrieben: Mozart hat Mitleid mit seinen beiden Opfern, den Vertretern der schwachen Weiblichkeit; ungleich dem alten Verdi des Falstaff (1893), der dem Zappeln seiner Figuren so unbeteiligt und grausam zusieht wie ein Olympier“. Zumindest eine Spur von dem gilt bereits für La Traviata, die einzige Oper vor Falstaff, die autobiografische  Verknüpfungen immerhin zulässt. Denn ohne Frage ist La Traviata die Oper mit der größten heimlichen Nähe zum Verdi und seiner Biografie, wie danach nur Falstaff als das persönlichste Dokument des Künstlers und Theatermannes Verdi. Nur: Hier wie dort leistet sich der Republikaner keinerlei Parteilichkeit, hält  er sein Ego außen vor und sieht die Sachen – allen möglichen persönlichen Betroffenheiten zum Trotz! – aus der Distanz, theatergemäß formuliert fern von der Bühne. Und  nur weil Ichbezogenheit  und romantische Wehleidigkeit in der La Traviata-Partitur - nicht anders  als in der des Falstaff – gänzlich fehlen, findet das große Frauenporträt dieser Oper zu seiner unbestechlichen und objektiven Wahrheit, zu seinem – in welchen Transporten auch immer – großen Realismus.

 

Man kann es auch ganz anders sagen. Egal auf welchen Wegen und in welchen Erscheinungsformen, man kann die Wahrheit und den Realismus der La Traviata nur in ihrer Faktur als italienische Oper verstehen und verwirklichen. Das aber heißt, man muss auch den holden Blödsinn, der der Gattung immanent ist, sehr ernst nehmen. Die Märsche, Cabaletten und all die anderen scheinbar trivialen Dinge, die unsere Aufführungspraxis immer noch zu häufig für überflüssig hält und deshalb streicht, sind gerade hier besonders wichtig, genauso wichtig, ja vielleicht noch wichtiger als in jeder anderen Verdi-Oper. Mit Gerhard Hauptmann (1862-1946) oder auch mit den Codices des Verismo wird man dem Zauber - und der Wahrheit! – des La Traviata-Märchens jedenfalls  nicht gerecht. Wahrscheinlich die größte Herausforderung für jede neue La Traviata- Interpretation – und Deutung…!

 

Zur Aufführung in der Opéra de Rouen / Théâtre des Arts / Rouen am 26. September 2025:

 

Die Sünde vor dem Leben…

Eine Wiederaufnahme der mittlerweile international bekannten Inszenierung von Verdis Oper La Traviata des französischen Regisseur Jean-François Sivadier an der Opéra Normandie Rouen ist vor allem eine Gelegenheit, zwei bemerkenswerte Sänger als Vater und Sohn zu entdecken: Der britische Bariton Anthony Clarc Evens und der mexikanische Tenor Leonardo Sanchez.

 

Diese Produktion der La Traviata ist dem Publikum wohlbekannt: Sivadiers Inszenierung, die aller Wahrzeichen entkleidet ist und als einzige Dekoration auf einer leeren Bühne Stühle, eine Matratze und bemalte Leinwände hat. Die von der Oberseite der sich zeitweise hebenden und senkenden Fliegengitter herabhängen, wurde 2011 im Festival Aix-en-Provence aufgeführt, auf DVD  veröffentlicht und an der Opéra de Lorraine in Nancy wiederaufgeführt… Wir verweisen auf die Analyse der Aufführung des französischen  Musikwissenschaftler Nicolas le Clerre während der Wiederaufnahme der Aufführung an der Opéra de Lorraine. Es ist schwer zu verstehen, warum man einen neuen Regisseur, den Franzosen Rachid Zanouda, berufen hat, der das Vorhandene übernehmen und wer weiß, welche Neuheiten hinzufügt werden. Warum also die Idee, die Sänger über die leere Bühne wandern zu lassen, während das Publikum den Saal betritt, als innovativ darstellen, wenn sie seit vielen Jahren abgedroschen ist?

 

Die Rolle des alten Germont ist Evans wohlbekannt, der sie perfekt meistert! Wir werden ihn in dieser Saison an der Metropolitan Opera New York sehen können, neben der italienischen Sopranisten Lisa Oropesas als Violetta anlässlich des Debüts des italienischen Dirigenten Michele Spotti. Seine Stimme ist die Stimme des Abends! Von den ersten Tönen von „Pura siccome un angelo“ aus dem Duett im zweiten Akt an geschieht das Wunder. Die Stimme ist wunderschön, die Aussprache tadellos, die Kraft in ihrer Zurückhaltung bewundernswert. „Di Provenza il mar“ erreicht emotionale Höhepunkte und treibt uns sofort Tränen  in die Augen. Selten haben wir eine so wahre Inkarnation gesehen und wir denken sofort an die Größten wie z. B. der amerikanische Bariton Thomas Hampson oder der italienische Bariton Leo Nucci. Gegenüber seinem Sohn bringt „No non udrai rimproveri“ die Szene schließlich zu ihrem Höhepunkt und lässt uns verwirrt und voller Emotionen zurück.

 

Alfredo wird von dem jungen mexikanischen Tenor Sanchez gespielt, dem Gewinner des größten  Gesangswettbewerbs Mexikos. In Frankreich ist er noch relativ unbekannt, erhielt aber kürzlich in Lyon großen Beifall bei einer Cosi fan tutte (1790) von Mozart, die im Mai 2024 im Auditorium aufgeführt wurde. Er geht diese Rolle mit einer jugendliche Frische an, die an das Debüt des mexikanischen Tenor Rolando Villazon erinnert. Sein Schauspiel ist perfekt und wir spüren, wie er jederzeit von seiner Rolle erfüllt ist. Sein „Lunge da lei“ im zweiten Akt zeigt uns auf brillante Weise alle Nuancen , zu denen seine Stimme fähig ist, insbesondere mit tadelloser Projektion und perfekter Kontrolle seines Atems. Die folgende Cabaletta „O mio rimorso“ gesungen mit unglaublicher Genauigkeit, Leidenschaft und Begeisterung, versetzt uns in höchste Emotionen, auch er uns plötzlich ein Abfall der Stimmkraft die allerletzten Töne nimmt… Das ist nichts im Vergleich zu dem, was hier erneut eine Offenbarung des Abends bleibt, insbesondere mit dem wunderbaren „Parigi, o cara“ aus dem dritten Akt, ohne Zweifel eines der schönsten Duette des gesamten Repertoires.

 

Die überwältigende Rolle Violetta Valéry wird von der amerikanischen Sopranistin Chelsea Lehnea gesungen, eine Rolle, die ihr auf den ersten Blick zu überwältigend erscheint, was zweifellos an den Emotionen der Premiere liegt… Der erste Akt versetzt uns in gewisse Ratlosigkeit: Die Darbietung ist nasal, die Aussprache des Textes willkürlich. Bestimmte Noten werden fast eher geschrien als gesungen, insbesondere das Wort „Gioir!“.  Ihre große Arie, die ohne Leidenschaft gesungen wird, wird schüchternen Applaus und peinliches Schweigen hervorrufen. Im zweiten Akt ist die Schwierigkeit, in diese Rolle hineinzukommen, offensichtlich, auch wenn die Stimme etwas mehr Selbstvertrauen gewonnen hat. Nach der Pause finden wir eine neue Violetta vor. Viel selbstbewusster können wir ihre Stimme während der Szene im Spielzimmer endlich besser genießen. Doch erst im dritten Akt können wir entdecken, wie schön, klar und kraftvoll diese Stimme sein kann: „Addio, del passato“ zeigt die Sängerin sich deutlich sicherer in der Diktion des Textes und vor allem eine wiederentdeckte Stimme in Höchstform, ausgestattet mit üppigen Nuancen bis hin zu den letzten Tönen der Arie. Und zu Recht wird diese Seite die Unterstützung eines überzeugten Publikums gewinnen. Bleibt die Frage: War es der richtige Zeitpunkt für diese vielversprechende Stimme, sich einer so schweren Rolle zu widmen? Die weiteren Abende und die Zukunft werden es uns zeigen.

 

Im Rest der Besetzung werden wir uns an die schöne und kraftvolle Stimme des französischen Bariton von François Lis in der Rolle des Doktor Grenvil erinnern, die perfekt zu dieser Figur passt. Der französische Bariton Timothée Varan spielt einen hervorragenden Baron Douphol – trotz seiner unerklärlichen Augenbinde!? Die französische Mezzo-Sopranistin Aliénor Feix ist eine hervorragende Annina. Der Rest der Besetzung in kleineren Rollen lassen nichts zu wünschen übrig.

 

Der Choeur accentus mit seinem italienischen Leiter Vito Lombardi ist wie immer mehr als hervorragend und während der Zigeuner- und Stierkämpfer-Szenen einmalig. Insbesonders während der Spielszene in der zweiten Szene des zweiten Aktes.

 

Es ist ein sehr junger peruanischer Dirigent, Dayner Tafur-Diaz, der  an diesem Abend das Orchestre de l’Opéra Normandie Rouen mit viel Talent leitet. Jede Sektion des Orchesters sticht hervor, insbesondere die der Streicher, die den ganzen Abend über bemerkenswert waren.

 

Es war einwandfrei ein herausragender Abend wie man ihn selten hören kann! … Brava… Bravo… Bravi…

 

 

 

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By Peter Michael Peters